Wie der FSB einen ehemaligen IS-Kämpfer rekrutierte

Der Inlandsgeheimdienst FSB ist ein mächtiges Werkzeug des Kremls. Wie er arbeitet, bleibt meist im Verborgenen. Der stern konnte mit einem ehemaligen IS-Kämpfer sprechen, den der FSB rekrutieren wollte, um muslimische Einheiten in der Ukraine zu infiltrieren.

Wenn es um die Durchsetzung der aus dem Kreml vorgegebenen Ziele geht, war der russische Inlandsgeheimdienst FSB schon immer kompromisslos. Mehrere Mordanschläge an Regimekritikern gehen auf das Konto des Geheimdienstes. Zu den spektakulärsten gehört der Giftanschlag auf Alexej Nawalny, den bekanntesten Oppositionspolitiker Russlands. Für die Durchführung solcher Operationen greift der FSB auch auf ehemalige Sträflinge oder Anhänger des Islamischen Staates zurück. Männer wie Baurzhan Kultanow.

Kultanow wird 1991 im russischen Astrachan geboren. Mit ihren knapp fünfhunderttausend Einwohnern liegt die Stadt im Wolga-Delta. Und obwohl sie über 100 Kilometer vom Kaspischen Meer entfernt ist, prägen Fischfang und Handel noch heute das Leben der Menschen dort. Auch die kasachische Grenze ist nur knapp 70 Kilometer entfernt. In Astrachan leben viele Kasachen.

Auch Baurzhan Kultanow ist ethnischer Kasache. 2012 zieht er wieder zurück nach Kasachstan, wo er heiratet und seine erste Tochter geboren wird. Den Unterhalt für seine Familie verdient er mit dem Verkauf von Kleidung aus China. 2013, der syrische Bürgerkrieg ist in seinem zweiten Jahr, sieht er Videos in den sozialen Medien, die das Leid der Bevölkerung zeigen. Es ist der Moment, als Kultanow sich entschließt, selbst nach Syrien zu gehen, um den Menschen im Kampf gegen das Assad-Regime zu helfen. Da ist er 22 Jahre alt.

Kultanow trifft beim IS auf Kämpfer “aus der ganzen Welt”

Mit dem Flugzeug geht es Ende Oktober zunächst von Moskau nach Istanbul. Das belegen Auszüge aus einer russischen Ausreisedatenbank, die der Redaktion vorliegen. Von Istanbul gelangt er anschließend an die türkisch-syrische Grenze. In Syrien angekommen durchläuft Kultanow zunächst, wie alle Neuankömmlinge, ein Militärlager in Khan Tuman im Norden Syriens. Insgesamt einen Monat ist er dort, berichtet er im Interview. Das islamische Kalifat des späteren IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi existiert damals noch nicht. “Zu diesem Zeitpunkt hat die Freie Syrische Armee noch Seite an Seite mit der Al-Nusra Front gegen Assad gekämpft”, so Kultanow, den der Ernst des Krieges schnell einholt.

Im Dezember 2013 wird seine Gruppe umzingelt und zwei Monate belagert und beschossen, ehe man den Kämpfern die Möglichkeit gibt, sich nach Raqqa zurückzuziehen. Kurz danach, im Juni 2014, erfolgt die Ausrufung des Kalifats durch al-Baghdadi in der Großen Moschee im irakischen Mossul. In Raqqa schließt sich Kultanow dem Islamischen Staat an.

2014 posiert Kultanow mit anderen Kämpfern des Islamischen Staates auf einem in Syrien aufgenommenen Foto

2014 posiert Kultanow mit anderen Kämpfern des Islamischen Staates auf einem in Syrien aufgenommenen Foto

© Privat

Der IS wirkt damals wie ein Magnet auf radikalisierte Muslime aus aller Welt. Propagandavideos fluten die sozialen Medien, sie preisen den Kampf gegen den syrischen Diktator Bashar al-Assad. Tatsächlich kann die Terrorgruppe innerhalb weniger Monate bemerkenswerte militärische Erfolge in Syrien und dem Irak verzeichnen. Raqqa wird zur neuen Hauptstadt auserkoren. Beim Islamischen Staat trifft Kultanow auch auf viele Kämpfer aus Europa. “Aus Deutschland, aus Frankreich. Eigentlich aus der ganzen Welt. Da ich aber kein Englisch konnte und auch kein Arabisch, war ich in einer russischsprachigen Gruppe untergebracht. Mit vielen Tschetschenen und Dagestanern”.

Bereits im Herbst 2014 jedoch kommen Kultanow erste Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Terrororganisation. “Es müsste im September gewesen sein, da habe ich angefangen zu verstehen, dass der Islamische Staat genau wie ein Geheimdienst funktioniert. Der Islam war nur ein Vorwand für eine Terrorherrschaft. Es gab eine Einheit, die ähnlich dem FSB war. Wir konnten uns nicht mehr frei äußern.”

“Sie sagten nur, dass ich meine Sachen packen soll”

Er fasst den Entschluss, sich vom IS abzusetzen. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Mossul versucht er zunächst vergeblich, über Syrien in die Türkei zu kommen. Zusammen mit seiner Frau und der kleinen Tochter. An der Grenze fängt sie der Grenzschutz der Terrormiliz ab. Erst nach einigen Tagen in Gefangenschaft gelingt Kutlanow doch die Ausreise.

In Ankara versucht er über das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) politisches Asyl zu beantragen, mit der Begründung, dass er in Russland wegen seiner Religion verfolgt werden würde. Seine Mitgliedschaft beim IS, inzwischen als internationale terroristische Organisation geführt, verheimlicht er. Hilfe bekommt Kultanow nicht. Er selbst ist da schon im Fokus des FSB.

Wegen seines unklaren Asylstatus befindet sich Kultanow zu diesem Zeitpunkt mit einigen anderen Kämpfern für einige Monate in Einwanderungshaft. “Gegen 4 Uhr nachts kamen sie dann zu meiner Zelle. Ich weiß nicht, wer sie genau waren. Sie sagten nur, dass ich meine Sachen packen soll. Da habe ich verstanden, dass sie mich zurück nach Russland bringen wollen”, erzählt er.

Um einer Auslieferung nach Russland zu entgehen, schneidet sich Kultanow auf dem Weg zum Flughafen die Pulsadern auf. Er überlebt. Auch ein späterer Fluchtversuch am Flughafen misslingt. Von Istanbul wird er direkt nach Moskau geflogen, wo ihn bereits russische Sicherheitskräfte erwarten. Sie bringen ihn von Moskau nach Astrachan, wo er vollständig unter die Kontrolle der dortigen FSB-Einheit fällt – und schon kurz darauf eine schwierige Entscheidung treffen muss.

“Der FSB-Mitarbeiter sagte zu mir: Entweder du unterschreibst dieses Geständnis oder wir werden dir ein Rohr in den Arsch schieben und dann wirst du uns alles unterschreiben!” Bei einer Verurteilung als Mitglied einer terroristischen Vereinigung drohen ihm bis zu 20 Jahre Gefängnis. Kultanow unterschreibt alles, was man ihm vorlegt.

Dadurch reduziert er seine Strafe auf vier Jahre. Er verbringt mehrere Monate in Isolationshaft und muss zahlreiche Verhöre durch den Geheimdienst über sich ergehen lassen, berichtet er. Zu dieser Zeit wird ihm auch sein persönlicher FSB-Betreuer zur Seite gestellt – Alexander Wladimirowitsch Guschin, ebenfalls in Astrachan geboren. Im Juni 2019 wird Kultanow schließlich aus dem Gefängnis entlassen. Guschin ist ab nun sein ständiger Kontakt zum FSB. Und er ist mit seinen Wünschen und Forderungen sehr konkret: Kultanow soll dabei helfen, russische IS-Netzwerke auszuspionieren.

Experte: “Islamischer Terrorismus ist in Russland ein großes Thema”

Für Terrorismusexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College ist das kein ungewöhnlicher Vorgang. “Praktisch jeder Geheimdienst der Welt versucht Terroristen oder ehemalige Terroristen als Informanten zu gewinnen”. Und der islamistische Terrorismus sei in Russland seit den beiden Tschetschenienkriegen ein großes Thema. “Verschärft wurde die Situation in den 2010er Jahren, als sich viele Kämpfer aus dem Kaukasus dem Islamischen Staat in Russland angeschlossen haben”, erklärt der Experte. “Bei der Rekrutierung von ehemaligen Terroristen gilt nach wie vor die alte “MICE”-Regel der CIA”, so Neumann weiter. Dem Experten zufolge wenden sich die Ex-Terroristen meist aus vier Gründen von ihren alten Kameraden ab und lassen sich von einem Geheimdienst rekrutieren: Sie wollen Geld (Money), sie haben ihre Überzeugungen geändert oder sind von der Terrorgruppe desillusioniert (Ideology), sie werden gezwungen oder erpresst, beim FSB oft verbunden mit Kompromat (Coercion) oder sie haben ein großes Geltungsbedürfnis (Ego).

Der Islamische Staat war für den russischen Geheimdienst immer von größerem Interesse, weiß auch Wladimir Ossetschkin. Der Gründer der Menschenrechtsorganisation gulagu.net, berichtet unserer Redaktion von mehreren Versuchen des FSB, die Terrormiliz zu infiltrieren. Ossetschkin ist auch mit Kultanows Fall vertraut.

Spätestens ab Sommer 2019 arbeitet der FSB daran, Kultanow auf seine erste Mission vorzubereiten. Er bekommt eine neue Identität und heißt ab jetzt offiziell Muhammad Abdullaewitsch Usmanow. So steht es in Passdokumenten, die er der Redaktion vorlegt. Und so ist es auch in der russischen Datenbank verzeichnet, die der stern einsehen konnte.

Über den FSB bekommt Kultanow einen neuen Pass ausgestellt, der auf den Namen Muhammad Abdullaewitsch Usmanow läuft

© Privat

Kultanow soll muslimisches Krim-Batallion infiltrieren

Der FSB möchte, dass sich der ehemalige IS-Kämpfer Kultanow als Freiwilliger in der Ukraine meldet, um die Gruppe um Isa Akajew zu infiltrieren. So steht es in einem Schreiben, dass Kultanow der Redaktion vorlegt. Akajew ist Kommandeur eines muslimischen Freiwilligen Bataillons und eine Galionsfigur der Krimtataren. Seit 2014 leistet er Widerstand gegen die russischen Besatzer. In den ukrainischen Medien tritt Akajew regelmäßig als Gesprächspartner auf. Vier Tage nach Ausbruch des Krieges Ende Februar 2022 wendet er sich in einem Internetvideo an die Muslime Russlands mit der Forderung, den Krieg Putins nicht zu unterstützen. Sein Krimbataillon, das nach einem Bericht von Reuters ungefähr 100 Mann stark sein soll, kämpft zu Beginn des Krieges in der Region um Kiew. Später auch in der Schlacht um Cherson.

Kurz nach Russlands Invasion veröffentlicht Isa Akajew (Mitte; unmaskiert) ein Video, in dem er Muslime aufruft, sich nicht am Krieg gegen die Ukraine zu beteiligen

© Telegram

Kultanow scheint für eine Infiltrierung prädestiniert zu sein. Er spricht Russisch, kennt die Mentalität der Krimtataren, von denen viele nach der Deportation durch Stalin in Usbekistan geboren sind. Und er hat Kampferfahrung in Syrien gesammelt.

Auszug aus dem russischen Passdokument von Vadim Stetsenko, ehemaliger SBU-Offizier und Überläufer zum FSB

© Privat

Für den Einsatz auf der Krim wird Kultanow von einem weiteren FSB-Agenten vorbereitet: Vadim Stetsenko. Stetsenko ist eigentlich gebürtiger Ukrainer und kommt ursprünglich aus Sewastopol auf der Krim. Bis zur völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel war er Offizier beim ukrainischen Geheimdienst SBU. 2014 läuft er zum FSB über und wird seitdem in der Ukraine per Haftbefehl wegen Landesverrats gesucht. Bis Ende 2022 ist er in Astrachan registriert. Danach in Krasnodar. Das geht aus einem internen Dossier und Passdokumenten hervor, die die Redaktion einsehen konnte. Im Gegensatz zu Guschin, von dem zumindest ein gelöschtes VK-Profil existiert, lassen sich zu Stetsenko nur wenige öffentlich-bekannte Informationen finden, keine Profile in den sozialen Netzwerken und keine öffentlichen Fotos.

Auszug aus einer ukrainischen Personendatenbank, der zeigt, dass FSB-Mann Stetsenko seit August 2015 sowohl vom Innenministerium, dem Verteidigungsministerium wie auch dem Geheimdienst SBU wegen Landesverrats gesucht wird

Kultanow kann die beiden FSB-Agenten hinhalten und von ihrem ursprünglichen Plan abbringen. “Ich habe ihnen erklärt, dass es für mich einfacher wäre, über die Türkei in die Ukraine zu kommen, weil ich die Türkei kenne und ich viele Verbindungen in der Türkei habe, die mir helfen könnten, in die Ukraine zu kommen”, berichtet er. Offensichtlich kann er damit überzeugen.

Statt in die Ukraine reist er mit seiner neuen Identität mehrmals in die Türkei. “Sie gaben mir 5000 Dollar und sagten, ich solle für zwei Monate in die Türkei gehen, um mich anzupassen.” Mehrfach reist er von Moskau nach Istanbul, letztmalig im Februar 2023.

Kultanow hofft auf politisches Asyl in Frankreich

Dann kontaktiert er Menschenrechtler Ossetschkin, dem er von seiner Situation berichtet. Ossetschkin hat mit seiner Organisation immer wieder erschreckende Zustände in Russlands Gefängnissen aufgedeckt – nun hofft Kultanow mit Ossetschkins Hilfe politisches Asyl in Frankreich zu bekommen. Sein Faustpfand: heimliche Mitschnitte von Gesprächen mit Guschin und anderen FSB-Agenten.  

“Mir ist bewusst, dass ich mich und meine Familie in Gefahr gebracht habe, weil ich damit an die Öffentlichkeit gegangen bin. Aber mir haben 20 bis 25 Jahre Gefängnis gedroht, Folterungen nicht ausgeschlossen”, erzählt er im Interview mit dem stern.

Als Beleg für seine Version der Geschichte hat Kultanow unserer Redaktion mehrere Dokumente übergeben, unter anderem die persönliche Telefonnummer seines FSB-Kurators Alexander Guschin, zudem Fotos und handschriftliche Notizen. Anhand der überlassenen Daten und Dokumente sowie eigener Recherchen war es möglich, Kultanows Aussagen zu seiner Vergangenheit und vor allem zu Alexander Guschin zu verifizieren. So ließ sich über eine in Russland beliebte App, die auf die Adressbücher ihrer User zurückgreift, nachweisen, dass sowohl Guschin als auch Vadim Stetseonko von mehreren Usern unabhängig voneinander jeweils mit dem Zusatz “FSB” abgespeichert wurden. Auch liegen der Redaktion die Passdaten von Guschin und Stetsenko vor, die mit den Angaben von Kultanow übereinstimmen. Auch bestätigt er gegenüber der Redaktion, dass der Mann auf dem Passdokument von Vadim Stetsenko der FSB-Agent ist, der ihn für die Mission instruiert habe. Aus einem internen Dossier geht hervor, dass auf Stetsenko ein schwarzer BMW X5 registriert war. Eben dieses Automodell taucht auf einer Streetview-Aufnahme von der FSB-Zentrale in Astrachan auf. Und bei seiner Steuererklärung hat er als Arbeitsplatz eine Militäreinheit in der Wolga-Stadt angegeben.

Wie groß ist das Netzwerk des FSB?

Laut eigener Aussage ist Kultanow nicht der Einzige, der vom FSB auf solche Operationen vorbereitet wurde. Sein FSB-Kurators Alexander Guschin habe ihm erzählt, es gäbe viele wie ihn. Vor allem in der Türkei sei das FSB-Netzwerk groß. Kultanow hat aber keinen von ihnen persönlich getroffen. “Sie wollten einmal, dass ich mich mit einigen Leuten in Verbindung setze, waren sich am Ende aber doch nicht sicher, ob man ihnen vertrauen kann”, erzählt Kultanow. Wir haben versucht beide FSB-Offiziere zu kontaktieren – sie ließen schriftliche Anfragen und mehrere Anrufe unbeantwortet.

Und Kultanow? Er sitzt aktuell unverändert in der Türkei fest. Wie es für ihn weitergeht, kann er nicht sagen.

Quellen: Interview Baurzhan Kultanow / Interview Wladimir Ossetschkin / Interview Peter Neumann / Myrotvorets Center / Telegram / VK.com

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