Wandern in Südtirol: Einsame Spitze

Was zieht die Menschen in die Berge? Was hoffen wir zu finden auf dem Gipfel? An einem Herbstmorgen werfen wir die Bettdecke in der Radlseehütte von uns. Es ist sechs Uhr, wir schalten die Stirnlampe ein und brechen auf. Ein schmaler Weg führt um die Hütte, die auf 2284 Metern liegt, einen Kamm hinauf, zwischen Gras und Geröll. Der obere Teil des Himmels ist noch nachtblau, der untere schon von hellem orangefarbenem Schein.

Die Luft ist so klar, dass sich die Konturen der Welt, von Wolken fast unberührt, scharf abzeichnen. Wir haben eine halbe Stunde Zeit, unser Ziel zu erreichen, die Königsangerspitze, 2439 Meter hoch, zu erkennen am gewaltigen Gipfelkreuz. In Wanderbüchern wird sie als eine wenig markante Erhebung im Ostkamm der Sarntaler Alpen beschrieben. Doch es ist nicht das alpine Abenteuer, das wir um diese Uhrzeit suchen; es ist die Erschaffung der Welt, der wir beiwohnen wollen.

Wir wollen wandern

An unserer Seite: der junge Wirt der Radlseehütte, Matthias Leitner. Erst seit kurzer Zeit lebt er in der Höhe, zusammen mit seinen Eltern und seiner Freundin, einer Kanadierin. Es gibt so viel zu tun in der Hütte, dass ihm für Ausflüge meist keine Zeit bleibt. Doch heute will Matthias den Sonnenaufgang erleben. Das Frühstück für die Gäste bereitet sein Vater zu. Das Orange wird heller, Farben ziehen wie Schlieren über den Himmel. Wir haben unseren Logenplatz erreicht und schauen gen Osten, wo hinter den Spitzen der Dolomiten der Feuerball emporsteigt. Es gibt jetzt wenig zu sagen. So wie wir stehen und schweigen, muss es vor vielen tausend Jahren auch Hirten und Schäfern ergangen sein, die ihr Vieh in die Höhe getrieben hatten, weil die Tiere kräftiger wurden, wenn sie an diesen Plätzen grasten. Das lag an den Kräutern, die hier wachsen.

Die Frühzeitmenschen, Zeitgenossen des Ötzi, sahen, was wir an diesem Morgen sehen, und sie kratzten ihre Gefühle in Tonplatten. Sie sind auf Scherben erhalten, deren Botschaft noch nicht entschlüsselt wurde. An diesem Morgen erstreckt sich zu allen Seiten die Berglandschaft von Südtirol. Vor uns die Dolomiten: die Geislergruppe, der Schlern; hinter uns die Texelgruppe, Teil der Ötztaler Alpen. Im Westen die Felsriesen rund um den Ortler. Zwei weitere Ziele liegen vor uns: zwei Berge, die Südtirol umklammern könnten. In der Luftlinie trennen sie rund 150 Kilometer. Und doch liegen Bergwelten zwischen ihnen.

Im Osten

Es ist Abend geworden in einer der kleinsten Schutzhütten Südtirols. Im Gastraum der Büllelejochhütte, 2528 Meter hoch, gebaut in eine Mulde zwischen expressiven Dolomitfelsen, wird das Abendessen serviert. 18 Wanderer wollen hier nächtigen; für sie gibt es Schlutzkrapfen und Roastbeef. Die einen studieren Karten, andere erzählen von ihrem Plan für den nächsten Tag.

Zwei Wanderer aus dem Ruhrgebiet wollen die Drei Zinnen umrunden und suchen nach einem guten Abstieg ins Tal, ein Schwabe erkundigt sich nach den Wetterverhältnissen auf der Hochbrunner Schneid. Ein Tisch ist reserviert für das Hüttenteam, angeführt von der jungen Wirtin Steffie Rogger und ihrer Mutter Greti, die schon mehr als 40 Sommer im Büllelejoch verbracht hat, meist von Juni bis Anfang Oktober. Hängt davon ab, wann der Schnee kommt, sagt Greti.

Auf der Hütte kann es einsam werden

Etwa acht Leute leben in dieser Zeit dauerhaft in der Hütte, unter ihnen Saisonkräfte, die für ein paar Wochen ihr normales Leben abstreifen. Am Tisch sitzt eine junge Frau aus Bozen, die gerade mit der Schule fertig geworden ist. Während für die Gäste in der Hütte Funkstille herrscht – kein Empfang auf dem Handy –, können die Mitarbeiter über Satellit ins Netz gehen. Die einzige Zerstreuung an Tagen, die von 6.30 bis 22 Uhr dauern. Die junge Boznerin sagt, sie müsse jedes Mal aufpassen, wenn sie zurück in die Stadt komme: Die Existenz von Verkehr könne man in dieser Entlegenheit durchaus vergessen. Das einzige Fahrzeug, das hier auftaucht, ist der kleine Traktor, mit dem der Hüttenwirt die Lebensmittel transportiert. Essen und Getränke gelangen über verschlungene Wege in die Höhe.

Vor allem an Wasser mangelt es, da die Hütte auf Regen angewiesen ist, der durch die Steine sickert, wo er sich sammelt und weitergepumpt wird. Das Wasser reicht nicht für eine Dusche; auch die Tagesgäste müssen sich einschränken: Für sie steht nur eine Biotoilette bereit, ein schöneres Wort für Plumpsklo.

Hartes Hüttenleben?

Wer hier oben lebt, entbehrt. Wie hart ist das Hüttenleben? Steffie Rogger erzählt, sie habe zwar studiert, Linguistik, aber sie sei wie von selbst an den Ort zurückgekehrt, an dem sie die Sommer ihrer Kindheit verbracht hat. Die Felsen seien ihr Spielplatz und der ihres Bruders Daniel gewesen. Auch Daniel ist geblieben. Er lebt mit seiner Familie im Tal, unten im Ort Sexten; berufsbedingt streift er fast täglich durchs Gebirge. Daniel ist Bergführer, und er will uns morgen tief in die Dolomiten bringen. Eine Frage noch an Greti: Ab wann steigt im Frühjahr die Vorfreude? „Ab Mai“, sagt sie. Es ziehe sie hoch, immer noch, unverändert. Die ersten Gäste steigen auf der Leiter in den ersten Stock, wo sie in Stockbetten schlafen. Fünf Männer verbringen die Nacht im Notlager: Im Gastraum werden die Tische abgesenkt, darauf eine Matratze, darüber karierte Bettwäsche. Wir schlüpfen in den Hüttenschlafsack, stecken uns Stöpsel ins Ohr und hoffen, dass wir einschlafen, bevor der Nebenmann anfängt zu schnarchen. Klappt leider nicht.

Auf geht’s

Ein neuer Morgen, von den Bergen steigt Dampf auf, Wolken, die sich in der Nacht herangeschoben haben. Daniel Rogger reicht uns die Ausrüstung, die wir für den Tag brauchen werden, ein Klettersteig-Set und einen Helm. Es geht zum Zwölferkofel. Sein italienischer Name klingt poetisch: Croda dei Toni, die Wand der Töne, weil in ihrem Schatten der Gebirgsdonner so toll grollt. Doch das ist das Gute am Herbst in den Bergen: Mit Gewittern ist nicht zu rechnen. Die kommen überwiegend im heißen Sommer. Es ist eine unwirkliche Gegend hier oben. Vor Jahrmillionen stand alles unter Wasser, es war ein tropisches Meer voller Korallenriffe. Und vor etwas mehr als 100 Jahren zogen Soldaten ein, österreichische Kaiserjäger und italienische Alpini, um sich sinnlose Schlachtenzu liefern.

Sie machten die Dolomiten zum Kriegsgebiet, sprengten Tunnel und Höhlen in die Felsen, in denen sie sich mit schwerem Gerät verschanzten. Ihre Spuren sind bis heute sichtbar, ihre Wege nutzbar. Wir brechen auf über einen gesicherten Steig der Alpini, über Felsbänder, Stufen und Pfade im Gestein. Links halten wir uns am Stahlseil fest, rechts geht es senkrecht in die Tiefe. Bald steht vor uns der Zwölfer, ein Gigant im Wolkenschleier. Um den Berg führt ein Teil des Friedenswegs „Dolomiten ohne Grenzen“, eine Tour aus Klettersteigen, die von Österreich nach Italien führt, mitten durch die Schauplätze des Ersten Weltkriegs. Daniel erklärt, was uns erwartet, abgesehen von vielen überwältigenden Ausblicken: zwei Hängebrücken und eine Schlüsselstelle.

Wir passieren die Forcella de l‘Agnel, ein Joch in 2490 Meter Höhe, vorbei an einem knallroten Blechkasten, der den Bergwanderern Unterschlupf und Schlafstatt bieten soll, die in schlechtes Wetter geraten sind. Wir steigen ein Geröllfeld hinab, steigen in den Felsen ein, folgen dem Stahlseil, das im Berg befestigt wurde. Wichtige Klettersteig- Regel: immer mit den Karabinern des Hüftgurtes einhaken. Wer stürzt, hat sonst keine Chance. Es geht mal geradewegs, mal labyrinthisch hinauf und hinab, es ist eng, ausgesetzt, es kribbelt in den Fingern, die Füße suchen beständig nach Halt, und der Regisseur des großen Bergtheaters meint es gut mit uns: Der Vorhang öffnet sich, die Wolken ziehen davon, und wir blicken auf einen Ozean aus Gipfeln. Doch das Hochgefühl wird gedämpft durch die Vorsicht, die wir walten lassen, Schritt für Schritt.

Die Katzenpassage: Hier wird es eng

Und siehe: Es naht ein Doppelschlag aus Hängebrücke und Schlüsselstelle. Eine tiefe Kerbe im Felsen, in der noch Nebel hängt wie in einem Spukschloss, ist überspannt von Brettern am Drahtseil. Der Nebel verschleiert den Abgrund, den wir überschreiten. Auf der anderen Seite hängt der Fels über, der Weg verengt sich zu einem Durchschlupf. „Katzenpassage“ heißt diese Stelle, wohl weil nur eine Katze bequem durchkäme. „Ihr müsst einen Schritt in die Tiefe tun“, sagt Daniel. Das rechte Bein nach unten, bis die Fußspitze Halt findet, sich so klein und rund machen, dass der Kopf nicht anstößt am Überhang – und durch. „Das ist Absturzgelände“, sagt Daniel, als wir die kurze Passage gemeistert haben. „Schlüsselstelle“ klang weniger dramatisch.

Am Berg zu sein ist kein Spaziergang, mag der Weg auch gerade erscheinen. Das was fasziniert und anzieht, birgt stets ein Risiko, auch wenn ein Stahlseil gespannt ist, an dem wir uns festhalten. Die Schritte werden schwerer. Das, was so laut pocht, ist der eigene Puls, befeuert vom Adrenalin.  Es folgen ein paar Panorama-Wechsel, eine weitere Hängebrücke, und schließlich taucht die Carducci-Hütte auf, eingekesselt auf knapp 2300 Meter Höhe zwischen dem Zwölferkofel und der Hochbrunner Schneid. So weit weg von allem, dass die Kaiserjäger im Ersten Weltkrieg sie nicht erblicken konnten. Tibetische Gebetsfahnen umwehen das Haus.

Ein Geheimplatz der Ruhe. Und dann diese Gnocchi!

Im Westen

Der Berg hat’s gegeben, der Berg hat’s genommen. Etwa tausend Mal, so schätzt er, hat Ernst Reinstadler den Ortler schon bestiegen, zuerst im Alter von zwölf, in den durchgetretenen Schuhen seiner älteren Brüder. Reinstadler, mittlerweile über 70, ist Sohn einer Bergführerfamilie. Der Ortler, 3905 Meter, ist der höchste Punkt Südtirols, ein Schrank von Berg am westlichen Ende der Provinz, ein Herrscher über die Gipfel ringsum. Reinstadler lebt vom Ortler, er bringt die Bergwanderer hinauf, die ganz Harten sogar ohne Übernachtung in der Hütte. „Die müssen halt nur mit mir um zwei Uhr losgehen“, sagt er. Wir stehen weit über dem Ort Sulden, unterwegs auf einem Höhenweg, der in sieben Etappen um den Ortler führt. Vom Schöntaufjoch wollen wir aufs Madritschjoch, 3132 Meter hoch.

Der Tag ist jung, das Tal ist zudeckt von dichten perlweißen Wolken. Seine Majestät, der Ortler, aber streckt sein Haupt in den klaren Herbsthimmel. Reinstadler weist auf die Fassade des Riesen und zeigt Dinge, die nicht mehr sind: „Da war früher ein Gletscher, und die Wand war vollständig aus Eis.“ Der Ortler hat sein weißes Gewand nach und nach verloren, prachtvoll wirkt er noch immer. Nur grau ist er geworden. Reinstadler hat seine Söhne oft mitgenommen auf den Berg; auch als sie groß waren, hat er sie auf ihren Touren begleitet. Einmal, vor mehr als 20 Jahren, aber wollte er nicht mitkommen.

„Ich habe die Burschen gewarnt, ich hatte ein schlechtes Gefühl.“ Sie zogen ohne den Vater los, ein Block brach ab aus einer Wand, der Jüngere stürzte in den Tod. Das Leben blieb stehen, alles wurde schwarz, und Reinstadler wollte nie mehr da hoch. Irgendwann hat Reinstadler doch wieder seine Schuhe geschnürt, es musste weitergehen. Schicksalsschläge sind für Bergmenschen oft wie das Wetter: Sie nehmen sie notgedrungen hin und jammern nicht. Was zieht uns also auf die Berge? Möglicherweise die Ruhe, die uns überkommt. Da, wo die Luft dünner wird, wird auch die Last des Lebens leichter. Es geht um den nächsten Schritt, den nächsten Tritt, um nicht viel mehr. Wir hoffen, zu uns selbst zu kommen auf dem Gipfel. Die Welt einmal anders zu sehen: Wie sie wird (auf der Königsangerspitze), wie sie mal war (die ehemaligen Korallenriffe, die heute die Dolomiten bilden), was aus ihr geworden ist (der zunehmend eisfreie Ortler). Manchmal, wie auf dem Madritschjoch, erwartet uns statt der erhofften Ruhe aber eine Horde Mountainbiker, die sich mit ihren breiten Reifen auf halsbrecherische Abfahrt begeben. Wir schauen ihnen zu – und wandern, gelockert vor Glück, hinterher.

source site-7