Wagner-Söldner legen schockierende Beichten ab. Aber was ist ihr Motiv?

Massenmord an Zivilisten, Erschießung von Kindern, Hinrichtungen von Befehlsverweigerern: Zwei Wagner-Söldner gestehen grauenhafte Verbrechen, die sie selbst in der Ukraine verübt haben. Mit ihren Aussagen bringen sie sich selbst in Lebensgefahr – spielen aber dem russischen Verteidigungsministerium in die Hände. 

Als im vergangenen Sommer die russische Armee bei ihrem Angriff auf die Ukraine auszubluten begann, blutete auch die Söldnertruppe Wagner. Um die Verluste wieder auszugleichen, bekam der Söldner-Anführer Jewgeni Prigoschin von Wladimir Putin ein einzigartiges Mittel zur Verfügung gestellt: Er durfte die Reihen seiner Truppe mit Häftlingen aus russischen Gefängnissen auffüllen. Also reiste Prigoschin durch die härtesten Haftanstalten des Landes und rekrutierte die brutalsten Verbrecher. Am liebsten waren Prigoschin mehrfache Mörder, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden sind – wie er selbst lauthals kundtat. 

Amnestie und Freiheit gegen Kriegseinsatz: So lautete der Deal. Unter den Männern, die auf das Angebot von Prigoschin eingingen, waren auch Azamat Uldarow und Alexej Sawitschew. Sie unterschrieben Verträge mit Wagner, die sowohl dem russischen Gesetz als auch der russischen Verfassung widersprachen. Uldarow saß seine Strafe in der Strafvollzugsanstalt IK-13 in der Region Saratow ab, Sawitschew in IK-1 in der Region Woronesch.

Beide Männer wurden von Wladimir Putin per Dekret begnadigt. Die offiziellen Dokumente sind auf den 23. August 2022 und den 2. September 2022 datiert. Aus dem Gefängnis ging es für beide fast umgehend an die Front. Nun sind beide wieder zurück in Russland – und legen schockierende Beichten über ihre Kriegsverbrechen ab. 

Prigoschins Erzfeind als Beichtvater

Eine Woche lang tauschte der Gründer der Rechtsschutzorganisation Gulagu.net, Wladimir Ossetschkin, nach eigenen Angaben sich mit Uldarow und Sawitschew intensiv aus. In zahlreichen Gesprächen hätten die beiden Wagner-Söldner detaillierte und konsistente Aussagen gemacht. 

Ossetschkins Organisation Gulagu.net setzt sich in erster Linie für die Rechte russischer Häftlinge ein, deckte zuletzt massenhafte Folter in den Gefängnissen Russlands auf. Die Organisation betreut aber auch ehemalige Soldaten und Söldner, denen die Flucht aus Russland ins Ausland gelungen ist, oder die bei der Aufdeckung von Kriegsverbrechen helfen wollen. Ossetschkin ist wie kaum ein zweiter in der Welt der Wagner-Söldner vernetzt und informiert. Bei Prigoschin steht er auf der Liste der persönlichen Erzfeinde. 

Es war also kein Zufall, dass Uldarow und Sawitschew sich für ihre Sündenbekenntnis Ossetschkin als Beichtvater auserkoren haben. Und das, was sie zu beichten haben, lässt sich in seinem Grauen kaum erfassen. 

Nach 30 Jahren Haft in den Krieg 

Mehr als eine Stunde an Material hat Ossetschkin bei den Video-Telefonaten gesammelt, die er mit den beiden ehemaligen Häftlingen geführt hat. “Sie haben Leute gesucht, die töten können. Und töten kann ich”, erzählt der verurteilte Mörder Sawitschew über seine Anwerbung bei den Wagner-Söldnern. Nach 30 Jahren hinter Gittern sei ihm nach einem “Tapetenwechsel” gewesen – auch wenn die anderen Häftlinge diejenigen, die sich in den Dienst von Prigoschin stellten, mit absoluter Verachtung straften. 

In der Wagner-Truppe hätte er hingegen Autorität gehabt, auf ihn hätten die Rekruten aus den Haftanstalten gehört. Und wer den Befehl verweigert habe, den habe er in einer erniedrigenden Haltung gefesselt und dem FSB übergeben. “Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.” 

Er sei aber Zeuge von mindestens 70 Hinrichtungen geworden, bei denen Befehlsverweigerer erschossen worden seien. Alle ehemalige Häftlinge wie er selbst. Für die Wagner-Leitung seien sie keine Menschen oder russische Bürger gewesen. “Wir waren alle einfach nur Projekt K”, sagt Sawitschew. Unter dem Titel “Projekt K” lief bei der Wagner-Truppe die Anwerbung von Häftlingen. 

“Annullierung” heißt Hinrichtungen 

Erschossen wurden aber nach Auskunft des 49-Jährigen nicht nur Befehlsverweigerer, sondern auch diejenigen, die sich aus der Sicht der Wagner-Führung einen Fehler leisteten. Sawitschew weiß von einem Mann zu berichten, der im Suff Kämpfer des tschetschenischen Machthaber Ramzan Kadyrow gefangen genommen hatte. Dafür habe er mit seinem Leben büßen müssen. Auch andere Betrunkene seien hingerichtet worden, “um den anderen zu demonstrieren, was mit Trunkenbolden geschieht.”

Auf die Weitergabe von Informationen an die Presse stünde bei der Wagner-Truppe ebenfalls die Todesstrafe. “Annullierung” sei der Begriff, der bei der Wagner-Truppe dafür gebraucht werde. 

“Der Kadaver hat geatmet”

Auch Sawitschew hat eigenen Angaben zufolge fürchterliche Befehle ausgeführt. Mit einer unfassbaren Ruhe erzählte er Ossetschkin, wie er Granaten in eine Grube warf, in der sich an die 60 Menschenkörper befunden hätten. “Der Kadaver hat geatmet. Es hat aber niemand geschrien”, erinnerte er sich. Wie viele der Menschen noch gelebt haben, habe ihn nicht interessiert. Er habe seinen Befehl gehabt. 

“Ich habe alles in die Luft gejagt.” Mit 30 Granaten, eine nach der anderen. “Wie Äpfel” habe er sie von einem Hügel aus in die Grube geworfen, danach alles mit Benzin übergossen und angezündet. Er habe nur einen Kanister gebraucht. “Wenn da ein Haufen Fleisch liegt, braucht man nicht viel.” 

Das Verbrechen habe sich am 19. oder 20 Januar dieses Jahres in der Nähe von Bachmut zugetragen. Die Wagner-Söldner versuchen seit Monaten die ukrainische Stadt einzunehmen. Wie viele von den Toten Ukrainer und wie viele Angehörige der russischen Truppen waren, könne er nicht sagen. “Vielleicht 50 zu 50. Oder 70 zu 30. Ich weiß es nicht. Ich will da nicht lügen”, führt der verurteilte Mörder aus und erzählt anschließend, wie er unbewaffnete Gefangene und Zivilisten erschossen hat. 

Wenn der Befehl erteilt worden sei, ein “Haus zu annullieren”, dann habe es dort am Ende keinen einzigen lebendigen Menschen mehr gegeben. “Sie können mich verurteilen. Aber ich wollte genauso wie Sie leben.” 

Ein Kriegsverbrecher voller Reue 

Während Sawitschew in den Gesprächen mit Ossetschkin kein Schuldbewusstsein zeigt, wird der ehemalige Söldner Uldarow offensichtlich von Schuldgefühlen geplagt. “Ich will, dass alle bestraft werden. Ich will, dass Russland und alle die Wahrheit erfahren”, sagt er über seine ehemaligen Wagner-Kameraden. 

“Siehst du die Hand, mit der ich die Zigarette halte?”, fragt er in die Kamera während eines Videotelefonats mit dem Aktivisten. “Mit dieser Hand habe ich den Befehl, Kinder zu töten, ausgeführt.”

Das vor einigen Wochen aufgetauchte Video, das die Hinrichtung eines ukrainischen Gefangenen zeigen soll, sei eine “Nichtigkeit” im Vergleich zu dem, was er gesehen habe. (Der stern berichtete über das mutmaßliche Hinrichtungs-Video.) “Ja, das ist brutal. Aber das, was wir bei unserem Einzug in Soledar und Bachmut angerichtet haben, das waren Szenen! Wir hatten den Befehl, alles zu vernichten (…) und um jeden Preis unsere Positionen einzunehmen. Auf unserem Weg haben wir alle getötet: Frauen, Männer, Alte und Kinder. Verstehst du, was an meinen Händen klebt?”, fragt Uldarow, der sichtlich alkoholisiert ist.

Uldarow gesteht Massenmord an Zivilisten 

Die Erinnerung an eine Schreckenstat scheint den ehemaligen Häftling besonders zu quälen. “Sie schreit, sie ist ein kleines Kind, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Ich habe einen Kontrollschuss auf sie abgegeben. Verstehst du das?”, fragt er, als ob er selbst nicht glauben kann, was er angerichtet hat.


"Ich habe sie erschossen": Ex-Wagner-Söldner gesteht Mord an Sechsjähriger

Der Befehl, alle zu töten, sei direkt von Wagner-Chef Prigoschin gekommen. “Wir sollten an jenem Tag niemanden am Leben lassen.”

An einem anderen Tag, am 18. März, hätten er und seine Einheit einen weiteren grauenhaften Befehl ausgeführt: In einem Keller eines neunstöckigen Wohnhauses in Bachmut seien zwischen 300 und 400 Menschen entdeckt worden, darunter an die 40 Kinder.

“Ich habe den Befehl gegeben, alle zu annullieren”

“Ich hatte den Befehl, niemanden wieder hinauszulassen. Und es ist niemand mehr hinausgekommen”, erzählt er, während seine Hand mit der Zigarette zittert. “Ich habe den Befehl gegeben, alle zu annullieren. Ich habe nachgesehen: Alle waren null.” In der Redensart der Wagner-Söldner bedeutet es nichts anderes, als alle tot waren.

“Prigoschin selbst hat den Befehl erteilt: Alle werden getötet, es werden keine Gefangenen gemacht.” Den Befehl habe er bei einem Videoanruf erteilt.

“Wir sind Missgeburten, wir sind Tiere”

In seiner Beichte bestätigt Uldarow viele Vorwürfe, die gegen die Wagner-Truppe in den vergangenen Monaten erhoben worden sind: Die Hinrichtung eigener Kämpfer, die Übergabe von leeren Särgen an die Angehörigen gefallener Söldner, die hohen Verluste innerhalb der Truppe.

“Wir sind illegale Mörder. Wir sind Missgeburten, wir sind Tiere. Ich weiß nicht, wie ich uns nennen soll”, sagt der Mann völlig aufgelöst. Mehrmals bricht er in Tränen aus.

Prigoschin selbst habe an die 20 Männer um sich geschart, die ihm völlig hörig seien und nichts anderes könnten, außer zu töten. “Liquidatoren”, nennt Uldarow sie. Der Wagner-Chef halte sie durch Aufnahmen, die ihre Schreckenstaten dokumentieren, unter Kontrolle.

“Der Vorschlaghammer ist Prigoschins Methode” 

Zu diesem Zwecke seien auch die Hinrichtungen von ukrainischen Gefangen gefilmt worden. “Wir haben sie liquidiert. Wir haben keine Erklärungen verlangt. Weil wir ein Nichts sind”, sagt Uldarow über sich selbst und die angeworbenen Häftlinge.

Meistens seien die Gefangenen mit Messern getötet worden. Wenn aber Prigoschin eine Hinrichtung mit dem Vorschlaghammer verlangt habe, dann sei ein Vorschlaghammer benutzt worden. “Das ist die bevorzugte Methode von unserem Prigoschin. Er ist ein abscheulicher Mensch”, sagt Uldarow mit Furcht in der Stimme. 

Was ist das Motiv hinter den Beichten? 

Sowohl Uldarow als auch Sawitschew befinden sich in Russland. Mit dem Geständnis ihrer Verbrechen in der Ukraine machen sie sich zu Feinden von Prigoschin. Wie der Wagner-Chef mit jenen verfährt, die er für Nestbeschmutzer hält, wissen die beiden nur zu gut: Sie werden ermordet. Umso drängender stellt sich die Frage, warum sich die beiden Söldner zu einer öffentlichen Beichte entschlossen haben. 

Einen möglichen Hinweis liefert Prigoschin selbst. Er wandte sich direkt an Sawitschew und forderte ihn auf, sich mit der Wagner-Truppe in Verbindung zu setzen. Was von ihm verlangt wird? Er soll erklären, “warum er diese Fälschung abgegeben hat, wer dahintersteckt, wie er erpresst wurde und ob noch weitere Aufgaben gestellt wurden.” Jene “Skelette im Schrank”, die ihn zur Zusammenarbeit mit Gulagu.net bewegt haben, werde er nicht “aufrütteln”, so Prigoschin. Sawitschew verspricht er, er werde “lebendig und unversehrt bleiben.”

Die Jagd ist eröffnet 

Unterdessen hat Prigoschin aber die Jagd auf seine ehemaligen Untergebenen eröffnet. Beide Männer berichten, dass sie nun um ihr Leben fürchten. Gegenüber dem britischen “Guardian” erklärte Sawitschew, er habe Angst dasselbe Schicksal zu erleiden wie Jewgeni Nuschin, der vor laufenden Kameras hingerichtet worden war. “Ich war bei Wagner und weiß, was sie mit jenen machen können, die sprechen”, so der verurteilte Mörder. “Ich verstehe, dass ich bald sterben könnte. Ich möchte einfach nicht, dass mein Tod gewaltsam ist.”

Am vergangenen Mittwoch setzte sich Ukdarow erneut in Kontakt mit Ossetschkin und berichtete, dass die Wagner-Söldner seinen Eltern, seinem Kind und seinen Bekannten Besuche abgestattet haben. Prigoschin selbst habe ihn angerufen, erzählt er – auch wenn er aus Angst seinen Namen nicht nennt. “Nummer 1”, nennt er Prigoschin. Von ihm werde erwartet, dass er seine Aussage widerruft. Stattdessen soll er erzählen, dass er zu seinen Geständnissen erpresst worden sei. 

“Sie wollen mich auslöschen”, sagt Uldarow. “Ich habe ein finales Video aufgenommen, in dem ich alles erzähle. Für den Fall, dass mit mir etwas passiert.” Aus Angst habe er nun immer eine Granate bei sich. Lebendig will er den Wagner-Leuten nicht in die Hände fallen. 

Soll die Wagner-Truppe ausbluten? 

Die Strategie ist deutlich: Uldarow und Sawitschew sollen sich selbst der Lüge bezichtigen und ihre Geständnisse als Falschaussagen diffamieren. Der Schaden für Prigoschin soll minimiert werden. Denn die Aussagen seiner ehemaligen Kämpfer schaden vor allem ihm selbst. Zum einen bezeugen sie grauenhafte Kriegsverbrechen, den Mord an Zivilisten und Kriegsgefangen und blutige Hinrichtungen eigener Soldaten. Zum anderen machen sie unmittelbar Prigoschin für die entsprechenden Befehle verantwortlich. 

Im tobenden Machtkampf zwischen der Wagner-Truppe und dem russischen Verteidigungsministerium schwächen die Aussagen Prigoschins Stellung erheblich. Sie könnten ihn in den Augen des Kremls endgültig untragbar machen. Auch die Anwerbung neuer Kämpfer dürfte sich radikal erschweren. Prigoschin wurde bereits die Möglichkeit zur Anwerbung von Häftlingen von Wladimir Putin entzogen. Freiwillige finden sich so gut wie keine mehr. Die Berichte, wie der Wagner-Chef eigene Leute hinrichten lässt, wird keinen Ansturm an frischen Rekruten auslösen. Die Wagner-Truppe droht vor Bachmut auszubluten. 

In Moskau spekuliert man bereits seit Wochen, dass genau dies das Ziel des Verteidigungsministeriums sein könnte. Die Geständnisse der Wagner-Söldner spielen in diesem Sinn der Behörde von Sergej Schoigu in die Hände. 

Es ist die klassische Frage der Kriminalistik, die also die Hintergründe der plötzlichen Beichten aufklären könnte: Wer ist der Profiteuer? In diesem Fall ist es das russische Verteidigungsministerium. 

Ein Satz von Uldarow erhärtet diesen Verdacht. Trotz all seiner Reue wolle er zurück in den Krieg, sagt er. Wer einmal an der Front gewesen sei, für den ist ein ziviles Leben nicht mehr möglich. Doch dieses Mal wolle er für das Verteidigungsministerium kämpfen.  

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