Vuelta 2023 – “Primoz Roglic hat ein großes Opfer gebracht”: Jens Voigt im exklusiven Interview über den Jumbo-Dreikampf

Wer hätte damit vor dem Start der 78. Vuelta a España wohl gerechnet? Nicht Jonas Vingegaard oder Primoz Roglic, sondern Edelhelfer Sepp Kuss fuhr im Roten Trikot nach Madrid. Nach drei spannenden Wochen mit zahlreichen Kontroversen feierte der US-Amerikaner seinen ersten Triumph bei einer Grand Tour. Ein Meilenstein!

“Ich finde es großartig, dass Kuss gewonnen hat. Das ist ein schöner Abschluss. Das ganze Fahrerfeld hat es ihm gewünscht”, sagt Eurosport-Experte Jens Voigt im exklusiven Interview mit Eurosport.de im Rückblick auf die Spanien-Rundfahrt.

Doch Voigt weiß auch, dass es dafür mitunter die Hilfe eines dreimaligen Vuelta-Champions bedurfte. “Roglic hat ein großes Opfer gebracht”, erklärt er – und gibt seine Einschätzung, ob Kuss in Zukunft weiter um Grand-Tour-Titel fahren wird.

Zudem spricht Voigt über den Einbruch und das beeindruckende Comeback von Remco Evenepoel, der sich “an den eigenen Haaren aus dem Sumpf” zog. Bei Bora-hansgrohe um Etappensieger Lennard Kämna zieht der zweimalige Etappensieger bei der Frankreich-Rundfahrt dagegen ein durchwachsenes Fazit.

Herr Voigt, in Madrid war am Ende der 78. Vuelta beim Team Jumbo-Visma alles Friede, Freude, Eierkuchen: Wie schätzen Sie das ein, war das echte Freude oder nur Fassade?

Jens Voigt: Am letzten Tag war es echte Freude. Sie waren froh, dass sie erfolgreich waren und die Kontroverse zu einem glücklichen und harmonischen Ende gebracht wurde. Aber zwischendurch war das sicher nicht ganz so harmonisch.

Sie sprechen die teaminternen Angriffe auf Sepp Kuss an.

Voigt: Wir haben die Bilder alle im Fernsehen gesehen. Es kann doch nicht sein, dass Primoz Roglic und Jonas Vingegaard attackieren, und Kuss, ihr Mannschaftskamerad, loyalster Helfer und zudem auch noch der Gesamtführende nicht folgen kann. Beide fahren mit ernstem Gesicht volle Lotte ins Ziel und sagen eine Minute später: “Wir wünschen uns so sehr, dass Kuss gewinnt.” Und man denkt sich: Wenn man sich das so wünscht, könnte man doch bei ihm bleiben. Oder wäre das zu viel gewesen?

Brutale Attacke am Berg: Vingegaard mit Boss-Ansage in Bejes

Zumal Roglic und Vingegaard die einzigen Fahrer waren, die ihn wirklich gefährden konnten.

Voigt: Ja, das hat keinen Sinn ergeben. Da haben die Aktionen und die Kommunikation nicht zusammengepasst. Am Ende wiederum dann schon: Da hatten sich alle mit der Idee angefreundet, dass es zu einem echten Happy End kommt. Jeder von ihnen hat eine Rundfahrt gewonnen. Wie hätten sie das menschlich auch verkaufen wollen, ihm das Trikot noch abzunehmen?

Schon nach der Bergankunft in Bejes hagelte es mächtig Kritik von den eigenen Fans.

Voigt: Es gab schon einen enormen medialen Aufschrei, zu großen Teilen zugunsten von Kuss. Also haben sie sich wohl zusammengesetzt und festgestellt: Sie können gar nicht anders, als das so laufen zu lassen, damit Kuss gewinnt. So hat das Team immer noch sein Ziel erreicht, bei allen drei Rundfahrten zu triumphieren. Ich finde es großartig, dass Kuss gewonnen hat. Das ist ein schöner Abschluss. Das ganze Fahrerfeld hat es ihm gewünscht. Er ist ein netter und bodenständiger Kerl. Man darf auch nicht vergessen, dass Vingegaard und Roglic ihre Siege eingefahren haben, weil Kuss dabei war. Insofern war es eine gute Idee, etwas zurückzugeben. Man muss aber auch die andere Seite neutral beleuchten.

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Primoz Roglic und Sepp Kuss umarmen sich.

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Voigt: Vingegaard ist der größte Champion und hat die Tour de France gewonnen. Es kommt selten vor, dass der amtierende Tour-Sieger dann auch noch die Vuelta fährt. Er kommt also dorthin, und denkt sich: “Hier gibt es vielleicht auch noch etwas zu holen”. Roglic gewinnt den Giro d’Italia und hat dann den gesamten Juni und Juli über nur die Vuelta im Sinn.

Roglic hat ein großes Opfer gebracht.

Der Slowene galt im Vorfeld ja auch als Kapitän für die Spanien-Rundfahrt.

Voigt: Er hat ein Höhentrainingslager absolviert, die Strecken und Berge angeschaut, sich entsprechend ernährt. Er hat viel Kraft, Aufwand und auch Zeit entfernt von der Familie investiert, um die Vuelta zu gewinnen. Denn das war seit Monaten der Plan. Man bittet ihn also um einen großen Gefallen, zwei, drei Monate seiner Arbeit wegzuwerfen und zu verschenken. Denn wir haben gesehen: Wenn er gewollt hätte, hätte er die Vuelta gewinnen können. Stark genug war er, wenn er früher oder energischer attackiert hätte. Roglic hat ein großes Opfer gebracht.

Stattdessen sah man ungewohnte Bilder mit dem Star-Duo in der Helferrolle. Haben Sie das Gefühl, Roglic und Vingegaard haben sich in den letzten Tagen der Vuelta auch zu Gewinnern entwickelt, selbst wenn sie am Ende nicht im Roten Trikot dastehen?

Voigt: Ja. Für das Image der Mannschaft und von Roglic und Vingegaard war das sehr, sehr gut. Sie haben damit offensichtlich ein bisschen zu kämpfen gehabt, aber das ist auch verständlich. Wie hätte sich Michael Schumacher gefühlt, wenn man ihm in seinen besten Zeiten gesagt hätte, dieses Jahr ist jemand anderes dran? Es ist schwer für so einen Champion, sich zurückzunehmen. Beide mussten einen großen Schritt gehen. Am Ende haben alle gewonnen, gerade in Sachen Menschlichkeit. Für das Image war das eine tolle Sache.

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Sepp Kuss (m.) küsst Jonas Vingegaard (l.) – daneben Primoz Roglic (r., alle Jumbo-Visma)

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Apropos Champion: Wie ist die Leistung von Kuss einzuordnen, was bedeutet dieser Erfolg für seine Zukunft: Kann er noch mal zurück in eine Helferrolle oder hat er jetzt Blut geleckt?

Voigt: Ich glaube, das war ein einmaliger, perfekter und unglaublich schöner Ausrutscher nach oben. Ich gehe aber nicht davon aus, dass das noch mal passiert. Man darf nicht vergessen: Er ist eindeutig als Helfer nach Spanien gereist. Dann wurden ihm diese Spitzengruppe und die drei Minuten geschenkt.

Sie sprechen von der Bergankunft am Pico del Buitre auf der 6. Etappe, als er aus einer Ausreißergruppe heraus gewinnen konnte.

Voigt: Ja. Diese Minuten, von denen er gezehrt hat, hat er nicht gegen Juan Ayuso und Vingegaard herausgefahren. Er hat sie in der Spitzengruppe gewonnen, weil die eigene Mannschaft hinten die Füße stillgehalten hat. Und so ist er überraschend in diese Rolle hineingewachsen. Natürlich hat er hart gearbeitet und ist auch gestürzt. Aber er hatte mit Roglic und Vingegaard zwei unglaublich große Trumpfkarten in der Hinterhand. Die drei Jumbos waren so weit vor allen anderen, dass Ayuso, Enric Mas und Mikel Landa dahinter gar nicht mehr probiert haben, vorne anzugreifen.

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Kuss-Masterclass in Javalambre – Evenepoel verliert Rot

Zwischenzeitlich wurde die Vuelta beinahe als Vereinsmeisterschaft bezeichnet.

Voigt: Jumbo war so überlegen, dass sie mit dieser Rundfahrt machen konnten, was sie wollten. Das war eine Konstellation, die so vermutlich nie wieder auftreten wird. Ich denke, nach allen Glücksmomenten geht Kuss nach Hause und realisiert: “Ich hatte meinen großartigen Moment.” Aber er möchte nicht schon am zweiten Weihnachtsfeiertag die ersten Interviewanfragen nach dem Tour-Sieg beantworten. Er lebt vollkommen glücklich, ruhig und entspannt im großen medialen Windschatten seiner beiden Teamkollegen. Er denkt sich: “Ich bin glücklich, habe dieses Riesengeschenk erhalten und gehe nun in die Rolle zurück, in der ich immer war und die ich auch am besten kann.”

Eine Aufgabe, die er in den zurückliegenden Jahren fantastisch ausgefüllt hat.

Voigt: Es gibt vermutlich keinen stärkeren, loyaleren und zuverlässigeren Helfer als Kuss. Und in der Rolle ist er zufrieden, die füllt ihn aus und er hat viel weniger Stress. Es ist viel leichter, Soldat zu sein als General. Und Kuss sagt: “Ich bin ein guter Soldat.” Kurzgefasst: Es wird nicht noch einmal vorkommen, dass er – zumindest bei einer Grand Tour – Klassementfahrer sein will.

Ausschließlich Glück hatten auch sie nicht.

Ist Jumbo derzeit denn tatsächlich in einer eigenen Liga oder hatten sie zweimal das “Glück” von einbrechenden Gegnern wie Remco Evenepoel bei der Vuelta und Tadej Pogacar bei der Tour?

Voigt: Einmal Glück ist Glück und einmal Pech ist Pech. Wenn die Anderen aber drei Mal Pech haben und Jumbo nicht, ist das Können. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Roglic beim Giro ebenfalls gestürzt ist. Er hat sich auch wehgetan und konnte einige Etappen nicht angreifen. Kuss trug von seinem Sturz bis vor wenigen Tagen noch ein dickes Pflaster im Gesicht. Ausschließlich Glück hatten auch sie nicht.

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Sepp Kuss gewann die Vuelta 2023

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Evenepoel hat am Schlusswochenende nochmal seine Klasse gezeigt: Hätte er ohne den Einbruch auf dem Weg zum Tourmalet die Jumbo-Phalanx durchbrechen können?

Voigt: Das ist die Gretchenfrage. Lassen Sie uns einmal nur die Fakten unter die Lupe nehmen: Er ist 23 Jahre alt und hat in seiner Karriere bisher vier große Rundfahrten gefahren. Einmal hat er gewonnen, zwei Mal ist er nicht durchgekommen, einmal ist er eingebrochen, hat dann aber noch spektakulär drei Etappen gewonnen. Pogacar hat in den vergangenen vier Jahren dagegen die Tour zwei Mal gewonnen und wurde zwei Mal Zweiter. Vingegaard hat bei der Tour zwei Mal triumphiert und wurde im Jahr zuvor Zweiter. Das Talent bei Remco ist genauso groß wie das Talent der anderen Superhelden.

Voigt: Die Zuverlässigkeit scheint noch zu fehlen. Vielleicht liegt es daran, dass er zu lange einen anderen Sport gemacht und das nicht von der Pike auf gelernt hat. Er scheint Schwierigkeiten zu haben, zu verdauen, wenn es nicht so gut läuft – also in einer einzelnen Etappe. Er verliert beinahe 30 Minuten und geht am nächsten Tag sofort in die Spitzengruppe. Wenn er körperlich schlecht wäre, würde das nicht funktionieren.

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Debakel auf Königsetappe: Evenepoel kassiert über 27 Minuten

Voigt: Ich verorte sein Problem also eher im Kopf, in der Einstellung, oder in der Fähigkeit, mit Krisen umzugehen. Und Radsport tut manchmal verdammt weh. Aber dann muss man sich sagen, dass es allen anderen auch wehtut. Seine Bilanz ist echt durchwachsen.

Dennoch hat er nach seinem Einbruch noch zwei Etappen gewonnen und sich das Bergtrikot gesichert. Wie wichtig war er, um für Spannung bei den Jumbo-Festspielen zu sorgen?

Voigt: Ich fand die Vuelta trotz allem spannend. Auch der Kampf um die Ränge vier, fünf und sechs war interessant, die drei Spanier waren zwischenzeitlich nur 30 Sekunden auseinander. Aber: Evenepoel ist ein internationaler Superstar, der auch beachtet wird. Es war schon spektakulär, wie er da in eine Gruppe geht und Gas gibt wie ein Moped. Er hat dazu beigetragen, die Vuelta interessant zu machen und den Zuschauerzahlen sicher auch geholfen. Trotz seines Einbruchs war Remco wichtig für die Spanien-Rundfahrt.

Nun ist Evenepoel bereit für die Tour.

Voigt: Er hat für Highlights und Spektakel gesorgt. Durchschnittlich macht er nicht. Er ist immer spektakulär, egal wie. Und sein Comeback hat mich positiv überrascht, wie er sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat. Ich glaube, er hat einen Riesenschritt in seiner Persönlichkeitsentwicklung gemacht. Ich denke, nun ist er bei der Tour de France wirklich bereit, anzugreifen.

Angegriffen haben mit Lennard Kämna und Nico Denz zwei Bora-Fahrer auf der letzten Etappe nach Madrid. Kämna gewinnt eine, beinahe zwei Etappen für den deutschen Rennstall. Youngster Cian Uijtdebroeks legt ein grandioses Debüt hin. Wie fällt Ihre Bora-Bilanz aus?

Voigt: Etwas durchwachsen. Aleksandr Vlasov hat in einem Interview mal vom Podest gesprochen. Davon waren sie sehr weit weg, auch wenn das dieses Jahr für viele gilt. Uijtdebroeks war eine der Entdeckungen der Rundfahrt, war bis in die letzte Woche stabil und immer gut gelaunt. Das war eine tolle Überraschung.

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Als Solist zum Triple-Coup: Kämna triumphiert bei Bergankunft

Ein Bora-Highlight neben Kämnas Erfolg auf der 9. Etappe.

Voigt: Mit dem Tagessieg hat man das Minimalziel erreicht. Es gibt gar nicht so viele Mannschaften, die bei allen drei großen Rundfahrten eine Etappe gewonnen haben – Bora ist eine davon. Das haben sie schon mal sehr gut gemacht. Aber ganz zufrieden werden sie nicht sein. Sie waren zwar immer da und immer Teil der Action.

Voigt: Sie waren nicht in der Lage, die Ränge vier, fünf und sechs im Klassement anzugreifen. Landa, Mas und Ayuso waren einfach ein Stück besser. Als Mannschaft fahren sie attraktiv, clever, sind dabei und nutzen Momente aus. Es ist eine attraktive Mannschaft und sie wurden mit dem Etappensieg auch verdientermaßen belohnt. Aber wenn sie das Podium anvisieren wollen, liegt noch einiges an Arbeit vor ihnen.

Inwieweit hat Sie die Spanien-Rundfahrt von Ineos Grenadiers enttäuscht?

Voigt: Gemessen an dem Budget, das sie haben und woher sie kommen, haben sie die Vuelta mit dem Zeitfahrsieg von Filippo Ganna gerade so gerettet. Natürlich sind auch sie durch Stürze gezeichnet gewesen. Mit dem einen Etappenerfolg sind sie gerade so mit einem blauen Auge davongekommen. Aber die hatten sicherlich mehr vor. Also Ineos muss ganz viele Hausaufgaben machen.

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Kein Respekt? Thomas muss sich nach Sturz alleine zurückkämpfen

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