USA: Bidens lateinamerikansiche Stammwähler migrieren ins Trump-Lager

Der ehemalige Präsident der USA, Donald Trump, bezeichnete Latinos schon als Vergewaltiger, Kriminelle und Tiere. Dennoch liegt er in ihrer Wählergunst erstmals vorn. Wie kann das sein? Ein Ortsbesuch in Arizona.

Jimmy Lopez war immer Demokrat. Er kannte nichts anderes, als Demokrat zu sein. Seine Großeltern kamen in den 1950er-Jahren aus Mexiko über die Grenze und wurden Demokraten, es war die Partei der kleinen Leute. Sie siedelten sich in South Tucson an, der Demokraten-Hochburg in Arizona, und machten ein mexikanisches Restaurant auf, Mi Nidita (dt.: Mein Nestlein).

“Man kannte keine Republikaner bei uns”, sagt Lopez. “Sie waren wie Außerirdische.”

Auch sein Vater, der das Restaurant übernahm, wurde naturgemäß Demokrat. Er mochte vor allem die Kennedys, die den Landarbeiterführer César Chávez unterstützten, ein Nationalheld für viele Latinos. Und irgendwann kam sogar Bill Clinton bei Mi Nidita im Arbeiterviertel von South Tucson vorbei und sagte: “Ich habe riesigen Hunger.” 

Bill Clinton kam zum Schwatzen in die Küche

Die Lopez brachten dem Präsidenten fünf mexikanische Gerichte, die heute als “President’s Plate” bekannt sind. “Clinton ging von Tisch zu Tisch und schwatzte mit allen”, erzählt Lopez. “Er ging sogar in die Küche und sprach mit den Köchen, Putzfrauen, Tellerwäschern. Ein sympathischer Mensch, ein echter Demokrat.”

Jimmy Lopez vor der Fotowand seines Restaurants

Jimmy Lopez gehört ein Restaurant in South Tucson, seine Großeltern kamen aus Mexiko, seine Familie wählte immer die Demokraten. Lopez wird 2024 erstmals für die Republikaner stimmen.

© Jan Christoph Wiechmann

Nun führt Jimmy Lopez, 69, das Restaurant in der dritten Generation. Ein schlanker, stets lächelnder Mann, Vater von vier Kindern. Er serviert dem Gast den “President’s Plate” und zeigt Fotos aus den vergangenen Jahren, als nicht nur Bill Clinton vorbeischaute, sondern auch Prominente wie Enrique Iglesias, Willie Nelson, Linda Ronstadt, Madeleine Albright.

Trump auch?

“Den hätte ich gern noch”, sagt er.

Den Feind vieler Latinos?

“Ich mag ihn nicht besonders. Aber es ging uns besser unter Trump.”

Seine Präsidentschaft? Besser als Bidens!

Es ist eine Antwort, die in Gesprächen mit Latinos, mit Menschen lateinamerikanischer Abstammung, überraschend oft fällt: Der Mensch Donald Trump? Ziemlich daneben! Die Präsidentschaft? Besser als Bidens! 42 Prozent der Amerikaner blicken laut einer Befragung der “New York Times” mittlerweile positiv auf Trumps vier Jahre im Weißen Haus zurück. Nur 25 Prozent sagen das über Bidens Jahre. 

South Tucson ist immer noch “rein hispanisch”, wie Jimmy Lopez sagt. Die Läden: mexikanisch. Die Sprache: spanisch. Die Musik: Banda, Ranchera, Salsa, Reggaeton. Noch immer kommen zahlreiche Politiker in seinem Restaurant vorbei, Bürgermeister, Abgeordnete. Noch immer mehrheitlich Demokraten, aber die Mehrheit wackelt – erstmals. 

Und wo steht Lopez selbst?

“Ich bin jetzt Republikaner”, sagt er kleinlaut. Er hebt die Augenbrauen, als sei er selbst erstaunt.

Republikaner, er, der Spross einer seit Generationen demokratischen Familie aus einer Stadt voller Demokraten. Wie kann das sein? 

Drei Probleme: Inflation, Migration, Crime

“Drei Gründe”, sagt er. “Erstens: die Inflation. Die Preise für Lebensmittel, Mieten, Benzin sind rasant gestiegen, die Statistik erfasst das Ausmaß nur unzureichend. Auch im Restaurant mussten wir die Preise erhöhen, um zu überleben. Für viele Familien hier ist das nicht mehr zu bezahlen. Das tut weh.”

Zweitens?

“Die Obdachlosigkeit, Drogen, Crime. Ich höre das von meinen Gästen. Ich sehe es vor meinem Restaurant. Auf der Straße ist kein normaler Mensch mehr zu sehen, nur noch Obdachlose und Süchtige, man fühlt sich nicht mehr wohl – hier und in vielen Großstädten.”

Drittens? 

“Die Grenze zu Mexiko. Sie muss besser überwacht werden.” 

Das sagt er als Latino?

“Ich bin für Einwanderung. Meine Großeltern waren Einwanderer. Aber sie kamen legal aus Mexiko. Einwanderung muss kontrolliert werden. Da kommen gerade manche Finsterlinge rüber.” Er nennt sie – wie Trump – “bad apples”. 

Biden liegt nur bei Abtreibungsrecht und Gesundheitspolitik vorn

Es sind Bidens größte Schwächen in diesem Wahljahr: Inflation, Migration, Kriminalität. Laut Meinungsumfragen liegt der Präsident bei diesen Themen deutlich hinter Donald Trump. Beim Thema Wirtschaft um 14 Prozentpunkte, ebenso bei der Inflation. Beim Thema Kriminalität um acht Prozentpunkte, bei der Einwanderung gar um 17 Prozentpunkte. Biden liegt nur bei den Themen Abtreibungsrecht und Gesundheitspolitik vorn. Der “New York Times” zufolge hat Donald Trump erstmals eine Mehrheit unter Hispanics: 46-40. 

Es ist der gravierendste Unterschied zu den Wahlen 2020. Auch unter schwarzen Männern legt Trump gerade zu, ebenso unter weißen Arbeitern. Aber der Zugewinn bei Latinos ist der größte, und er bereitet den Demokraten erhebliche Kopfschmerzen.

Keine Gruppe wächst so rasant wie die der Latinos

Latinos oder Hispanics sind die am stärksten wachsende Gruppe in den USA. In diesem Jahr stellen sie 35 Millionen registrierte Wähler, vier Millionen mehr als 2020, knapp 15 Prozent der Gesamtwähler. Dabei ist die Kategorisierung wenig hilfreich. Sämtliche Gruppen von Latinos werden in den Topf geworfen – die konservativen Exil-Kubaner, die eher demokratischen Puerto Ricaner, die reichen Eliten aus Kolumbien, Brasilien, Venezuela, mehrheitlich Trumper. Und die Einwanderer aus Guatemala, El Salvador, Mexiko, mehrheitlich Demokraten. 

“Ich weiß nicht, ob Trump hier im Süden von Arizona wirklich siegt”, sagt Jimmy Lopez. “South Tucson wird wohl nie in republikanischer Hand sein. Aber die Steigerung könnte reichen, um den Staat zu gewinnen.”

Arizona ist bei den Wahlen im November ein entscheidender Bundesstaat, ein sogenannter Battleground State. Joe Biden konnte ihn 2020 zum ersten Mal seit 24 Jahren für die Demokraten gewinnen, mit gerade mal 11.000 Stimmen Vorsprung. Das gelang zuletzt Bill Clinton 1996 und davor Harry Truman 1948. Derzeit liegt Trump in Umfragen in Arizona vorn, um fünf Prozentpunkte. 

40 Kilometer weiter südwestlich, am Rand des Ortes Three Points, schon nah der Grenze, zieht sich eine Siedlung von Trailern und Campingwagen in die Wüste. Hier, zwischen Kakteen, Geröll und viel Sand, wohnen viele der neuen Einwanderer aus Mexiko, einige von ihnen Erstwähler. Die Demokraten liegen hier noch vorn, weil die Menschen Angst haben, dass Trump die Grenze dichtmacht und wieder Massendeportationen durchführt, wie er es gerade angekündigt hat. 

Es geht nicht um Prinzipien oder Ideologien

Aber es gebe ein viel wichtigeres Thema für Mexican-Americans, sagt Armando Alcaraz. “Die Wirtschaft. Wir Hispanics wählen mit dem Portemonnaie.”

Alcaraz, 68, ist Klempner, Elektriker, Kfz-Mechaniker, Bauer in Three Points. Er ist als Junge mit seinen Eltern von Mexiko nach Arizona gekommen. Auch er hat immer Demokraten gewählt – wie Jimmy Lopez. Auch er ist unzufrieden mit Biden – wie Jimmy Lopez. “Aber ich werde niemals für Trump stimmen”, sagt er entschieden. 

Für Biden?

Er rollt die Augen.

Armando Alcaraz aus Three Points in Arizona ist enttäuscht von Biden, vor allem wegen der drastisch gestiegenen Preise. Er bringt es aber nicht übers Herz, Trump zu wählen – anders als viele seiner Nachbarn.

© Jan Christoph Wiechmann

“Wir Mexikaner sind eine eigene Spezies”, sagt er. “Es ging für uns immer ums wirtschaftliche Überleben, nicht um Prinzipien oder Ideologien. Das setzt sich jetzt fort. Die Menschen kriegen diese ungeheure Inflation zu spüren. Ich selbst zahle das Doppelte für Eier, Milch, Benzin. Das trifft viele von uns sehr hart, vor allem Pendler und Familien mit Kindern.” Bei seinen Nachbarn beobachtet er einen Trend pro-Trump. “Viele Latinos würden den Menschen Donald Trump nicht unbedingt mögen, dennoch werden sie für ihn stimmen. Sie glauben, dass es ihnen finanziell wieder besser gehen wird.”

Die Reallöhne in den USA steigen unter Biden zum ersten Mal, doch bei diesem Argument schüttelt er den Kopf. “Wir spüren es nicht. Es kommt hier nicht an.”

Trumps Brachial-Sprache schreckt keinen mehr ab

Und stört sich keiner an Trumps brachialer Rhetorik?

“Die kennt man ja mittlerweile”, erwidert Alcaraz. 

Aber sie wird immer härter. Trump sagt, Migranten seien keine Menschen. Er vergleicht sie mit Tieren. Er sagt, sie vergifteten das Blut des Landes.

“Nicht schön. Doch viele Leute hier mögen seine direkte Sprache. Sie mögen den Macho. In jedem Fall wird es sie nicht davon abhalten, mit dem Portemonnaie abzustimmen.” 

Wer gewinnt also im November?

Alcaraz blickt nun in Richtung Süden, Richtung Grenze, auf karge Berge, die viele Einwanderer überqueren und dann vor seinem umzäunten Grundstück landen. Er hilft ihnen mit Wasser und Essen.

USA: Latinos entscheiden die Wahl in Arizona

“Ich sehe nicht, wie Biden diesen Staat gewinnen kann ohne uns Latinos”, sagt er. “Da liegt noch viel Arbeit vor ihm. Die Zeit rennt ihm davon.”

Nicht nur Arizona, auch der Nachbarstaat Nevada bricht den Demokraten gerade weg, ein weiterer Swing State mit wachsender hispanischer Bevölkerung. Vor vier Jahren gewann Biden auch Nevada, jetzt aber führt Trump, vor allem, weil Latinos sich enttäuscht von Biden abwenden. Auch im Nordosten der USA, im wichtigsten aller Swing States, Pennsylvania, leben immer mehr Latinos. In der Arbeiterstadt Allentown etwa stellen sie schon die Mehrheit der Bevölkerung. Biden muss auch bei ihnen um zehn Prozent zulegen, um wieder Präsident werden zu können.

Bidens Team setzt nun vor allem auf Frauen und das Thema Abtreibung. Bis vor wenigen Jahren hielten sich die Demokraten in Arizona damit noch zurück, weil Latinas eher als religiös und konservativ galten. Das ändert sich, nicht zuletzt, weil die Republikaner in Arizona ein drakonisches Abtreibungsverbot aus dem Jahr 1864 wiederbelebten. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes PEW sind mehr als 60 Prozent der Latinas inzwischen für das Recht auf einen vorzeitigen Schwangerschaftsabbruch. 

Bidens letzte Rettung: die Frauen

200 Kilometer nördlich von Tucson, in der Hauptstadt Phoenix, demonstrieren einige hundert Studentinnen gegen das veraltete Gesetz, darunter auch viele Latinas wie Jennifer Rincon, 21. Sie wird im November zum ersten Mal wählen und mag keinen der beiden Kandidaten. Sie kann mit beiden Parteien wenig anfangen. Sie kann auch mit all den Kategorisierungen wenig anfangen: Latino, Hispanic, Schwarz, Weiß. Sie fühlt sich politisch ziemlich verloren – wie viele ihrer Generation.

Aber das rigide Abtreibungsverbot bewegt sie. “Das betrifft mich persönlich. Soll ich nicht mal im Fall von Inzest und Vergewaltigung abtreiben dürfen? Wo leben wir denn? Sogar meine Großmutter drüben in Mexiko hat mehr Rechte als ich hier.”

An Trump hasst sie dessen rabiate Art und seine Altmänner-Position beim Thema Schwangerschaftsabbruch. An Biden missfällt ihr die einseitige Unterstützung für Israel und das hohe Alter. “Für meine Generation ist kein guter Kandidat in Sicht.”

Ob Jennifer im November zur Wahl geht, weiß sie noch nicht. Anders als Jimmy Lopez wählt sie aus Unzufriedenheit mit Biden nicht Trump. Anders als Armando Alcaraz wählt sie aus Abscheu vor Trump nicht Biden. Vielleicht wählt sie einen dritten Kandidaten, deutet sie an, Jill Stein von den Grünen oder Robert F. Kennedy Junior. Oder eben gar nicht.

Das ist die größte Gefahr für Biden: Erstwähler, die nicht zur Wahl gehen. Vor allem Latinas, die ihm beim letzten Mal den Sieg in Arizona und Nevada bescherten.

Also setzen er und Kamala Harris bei Latinos nun gezielt auf ihre letzte Karte: nicht auf die niedrige Arbeitslosigkeit, nicht auf eine liberale Einwanderungspolitik, nicht mal auf Trumps Hass gegen Migranten, sondern auf – das Abtreibungsrecht der Frau.

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