Ukraine-Konflikt: Warum die USA offen mit Geheiminformationen umgehen

Ob Angriffspläne unter falscher Flagge oder inszenierte Anschlagsvideos: Im Zuge des Ukraine-Konflikts veröffentlichen die USA in nie gekanntem Ausmaß Geheiminformationen über Russland. Das ist keine diplomatische Offenheit, sondern eine neuen Form der Kriegsführung.

Dass die Lage im Ukraine-Konflikt diese Woche noch eskaliert, ist mit dem Teilabzug der russischen Truppen am Dienstag vorerst unwahrscheinlich. Ob der Rückzug den Beginn einer Entspannung markiert, bleibt aber abzuwarten. Denn darüber, ob sich das Zähnefletschen am Ende doch als gänzlich harmloses Bellen entpuppt, lässt sich jeden Tag aufs Neue spekulieren. Ohnehin ist die Frage nach dem Wie mindestens genauso interessant wie die Fragen nach dem Ob und Wann.

Sollte die Lage schließlich doch noch eskalieren, so stand die Rollenverteilung aus westlicher Sicht bereits im Vorfeld fest: Russland ist der Aggressor, die Ukraine das wehrlose Opfer. In keinem Fall könnte der Kreml den Mythos vom “Verteidigungskrieg” glaubwürdig verkaufen – US-Geheimdienstinformationen sei Dank. 

Denn seit mehr als drei Monaten gelangen überraschend detaillierte Informationen über potenzielle russische Desinformations- und Militärkampagnen an die Öffentlichkeit. Noch verwunderlicher als die schiere Menge der brisanten Nachrichten ist allerdings deren Ursprung. Denn die Berichte über russische Truppenbewegungen, inszenierte Angriffe und Cyberattacken sind nicht das Resultat pulitzerpreisverdächtiger Recherchen von “New York Times”-Journalisten. Es gab auch keine anonym verschickten USB-Sticks voll geheimer Spionageunterlagen, keine konspirativen Treffen mit nervösen Whistleblowern à la Edward Snowden.

Es sind Pressemitteilungen. Eigentlich streng geschützte Geheimdienstinformationen verkündet von offiziellen Regierungssprechern bei regulären Presseterminen. Was hat das Pentagon geritten, sich derart bereitwillig in die Karten spinksen zu lassen? Woher rührt dieser plötzliche Anflug von Transparenz? So viel vorweg: Es ist kein Akt der diplomatischen Nächstenliebe. Es ist ein politisches und militärisches Kalkül.

Die wenig geheimen Mitteilungen der US-Geheimdienste – ein Rückblick

Dezember 2021: Bereits seit Anfang des Monats berichten US-Medien über einen Geheimdienstbericht, der eine mögliche russische Militäroffensive in der Ukraine für Anfang 2022 voraussagt. Der US-Tageszeitung “Politico” zufolge spricht ein anonymer Beamter der Biden-Regierung von einem Einsatz von schätzungsweise 175.000 Soldaten, von denen bereits fast die Hälfte an verschiedenen, strategisch wichtigen Punkten an der russisch-ukrainischen Grenze stationiert seien. Auch das ukrainische Verteidigungsministerium warnt zu diesem Zeitpunkt vor einer “groß angelegten Eskalation” im Januar. Präsident Putin hatte seinen amerikanischen Amtskollegen bereits mehrfach aufgefordert, einen Nato-Beitritt der Ukraine offiziell auszuschließen. “Ich akzeptiere keine rote Linie von irgendjemandem”, moderierte Joe Biden dies jedoch ab.  

Laut “Politico” sind sich US-Beamte sicher, dass Putin alles für eine mögliche Invasion in die Wege leitet. Allerdings vertrauen sie auf das inzwischen aufgerüstete ukrainische Militär und die abschreckende Wirkung von Sanktionsdrohungen. Eine Invasion sei möglich. Wahrscheinlicher sei aber, “dass sie eine Krise provozieren, Zugeständnisse von uns erhalten und dann die Krise abbauen”, zitiert die US-Zeitung den ehemaligen US-Botschafter in der Ukraine, John Herbst. Im Gegensatz dazu sagt CIA-Direktor William Burns auf einer Veranstaltung des “Wall Street Journal” ganz offen: “Ich würde die Risikobereitschaft von Präsident Putin in Bezug auf die Ukraine niemals unterschätzen.” Will heißen: Die Pulverfässer werden herangerollt, die Lunte aber noch nicht entzündet.

Mitte Januar 2022: Aus dem theoretischen Anlass zum Stirnrunzeln sind tiefe Sorgenfalten geworden. Mehrere US-Medien, darunter auch der Nachrichtensender “CNBC“, berufen sich auf offizielle Angaben aus dem Weißen Haus, wonach die Geheimdienste einen russischen Angriff innerhalb der nächsten 30 Tage für realistisch halten. Jen Psaki, die Pressesprecherin des Weißen Hauses, gibt bekannt, dass US-Verteidigungsspezialisten seit Dezember einen starken Anstieg koordinierter Fehlinformationen in den sozialen Medien über von Russland unterstützte Kanäle festgestellt haben. Damit wolle Putin die ukrainische Regierung destabilisieren – um die geplante Invasion zu erleichtern. Wenige Stunden zuvor, so heißt es in dem “CNBC”-Bericht, hätten russische Cyber-Agenten die Websites der wichtigsten ukrainischen Regierungsbehörden abgeschaltet und die Homepages der Behörden durch eine Nachricht an alle Ukrainer ersetzt: “Habt Angst und erwartet das Schlimmste. Dies ist für eure Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft”, sei dort unter anderem zu lesen gewesen.

Doch damit nicht genug. Psaki behauptet freimütig, dass nach US-Geheimdienstinformationen Russland “eine Gruppe von Agenten für eine Operation unter falscher Flagge in der Ostukraine vorbereitet hat.” Diese Agenten seien “in urbaner Kriegsführung und im Umgang mit Sprengstoff ausgebildet, um Sabotageakte gegen Russlands eigene Stellvertreter durchzuführen”, sagt die Pressesprecherin weiter. Der Zweck sei offensichtlich: Putin wolle einen Vorwand schaffen, um den geplanten Angriff auf das Nachbarland zu rechtfertigen.

Anfang Februar 2022: Erneut wollen die Geheimdienste Beweise für die Manipulationsversuche des Kreml gefunden haben. Diesmal ginge es unter anderem um die Inszenierung eines Videos, das Folgen eines Explosionsanschlags zeige. Zu sehen seien tote und trauernde Russen sowie militärische Ausrüstungsgegenstände, die der Ukraine oder deren Verbündeten gehörten. “Das Video wird veröffentlicht, um eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands zu unterstreichen und militärische Operationen zu untermauern”, sagt Ned Price, Sprecher des US-Außenministeriums laut der Nachrichtenagentur “Reuters“.

Mitte Februar 2022: Laut einem Bericht der “Washington Post” sind sich Regierungsbeamte in mehreren Hauptstädten einig, dass sich Russland in der Endphase der Invasionsvorbereitung befindet. Bei der geplanten Offensive könnten Analysten zufolge bis zu 50.000 Zivilisten getötet oder verwundet und die Kiewer Regierung innerhalb von zwei Tagen gestürzt werden. Laut dem Bericht hat Putin auch seinen militärischen Zeitplan angepasst. Ursprünglich habe er das Ende der Olympischen Spiele in Peking abwarten wollen, um seinen engen Verbündeten Xi Jinping nicht zu brüskieren. Das sei nun vom Tisch: “Was wir sagen können, ist, dass eine glaubwürdige Aussicht besteht, dass eine russische Militäraktion noch vor dem Ende der Olympischen Spiele stattfinden könnte”, sagt der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan der “Washington Post”.


Reporterin berichtet von der ukrainischen Front

Bidens “Megaphon-Strategie”

Zurück im Hier und Jetzt. Dass die US-Regierung das Moskauer Säbelrasseln scharf kritisiert, ist aus geopolitischer Sicht nicht verwunderlich. Aber die Häufig- und Dringlichkeit, mit der die US-Regierung vor einer russischen Invasion warnt und vor allem, dass sie dazu hochsensible Informationen an die Öffentlichkeit trägt, ist mindestens ungewöhnlich. Was hat das Kabinett Biden derart aufgescheucht, dass es die Öffentlichkeit in einem solchen Ausmaß an “Geheim”-Infos teilhaben lässt?

“Die Warnungen der Biden-Administration vor einer russischen Invasion in der Ukraine wirken mittlerweile so, als würde der Wetterkanal einen Wirbelsturm verfolgen”, schreibt Anthony Faiola, Kolumnist der “Washington Post” in einer Analyse vergangene Woche. Faiola zufolge bezeichnet ein Kenner dies als “Bidens Megaphon-Strategie”. Dadurch, dass Washington zumindest einen Teil seiner Karten offen auf den Tisch läge, könne es die internationale Öffentlichkeit – und seine Verbündeten – von der reellen Gefahr überzeugen, die von Russland ausgeht. Frei nach dem Motto: Wer laut und oft schreit, dem hört man auch zu. Nichts zuletzt das zögerliche Deutschland soll damit ins Boot geholt werden. Nun handelt es sich bei diesem “Geschrei” nicht um diplomatische Transparenz, sondern um politisches Kalkül. Medienberichten zufolge wurden die “Enthüllungen” sorgfältig zwischen dem Nationalen Sicherheitsrat, den Geheimdiensten und anderen Sicherheitsbehörden koordiniert.

Diese “radikale Transparenz” habe einen weiteren, offensichtlichen Vorteil: Sie nähme Putin die Möglichkeit, im Dunkeln zu agieren. Denn natürlich sind die russischen Pläne – sollte es sie in dieser Form je gegeben haben – null und nichtig, sind sie einmal bekannt geworden. Denn der Informationskrieg ist Russlands Paradedisziplin. “Russlands hybrider Krieg basiert darauf, Verwirrung und Desinformation zu säen”, sagte Richard Gowan, ein Analyst der International Crisis Group, der spanischen Zeitung “El País”. Nicht nur, dass sich der Kreml nun damit herumschlagen muss, die US-Geheiminformationen zu bestreiten und zu diskreditieren. Durch die vermeintliche Offenheit berauben die USA Putins seines Überraschungsvorteils.

Tatsächlich zeige die Taktik Wirkung: “Normalerweise würde man erwarten, dass die Russen sich fragen, ob sie einen Maulwurf haben”, habe ein hochrangiger US-Beamter dem Nachrichtensender CNN erklärt. Die Informationskampagne sei “nützlich, um sie an sich selbst zweifeln zu lassen.” Anstatt sich auf die Offensive vorzubereiten, sähe sich der Kreml gezwungen das vermeintliche Leck zu finden und stopfen.

Nichtstun ist keine Option für die USA

Ein weiterer Grund für die rhetorische Freizügigkeit: Die USA haben mit dem Nichtstun zuletzt schlechte Erfahrungen gemacht. Als die Taliban vergangenes Jahr inmitten des internationalen Scheinwerferlichts in kürzester Zeit die Macht in Afghanistan an sich rissen, reagierte die vermeintliche Schutzmacht USA so gut wie gar nicht – schließlich waren die Truppen kurz zuvor zurückbeordert worden. Warum hatte die Führungsriege das nicht kommen sehen? Warum hat der US-Präsident als Oberster Befehlshaber nicht dagegengehalten? Dieses öffentliche Ohnmacht markierte den bis dato politischen Tiefpunkt für das noch junge Biden-Kabinett. Eine Blamage auf internationaler Bühne.

In einem Beitrag für die Zeitschrift “Foreign Policy” schreibt Stephen Walt, Professor für Internationale Beziehungen an der Harvard-Universität, die USA seien besessen von ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Bis heute verstünde sich das Land fälschlicherweise als Garant für internationalen Frieden und die Stabilität. “Unabhängig davon, was die Vereinigten Staaten beim letzten Mal getan haben, als sie herausgefordert wurden, müssen sie reagieren, sobald ein neues Problem auftaucht, da sonst der neu gewonnene Ruf der Entschlossenheit wie Glas zerbrechen kann”, meint der Dozent.

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe, warum Geheimdienste – man lese und staune – geheim agieren. Das Veröffentlichen von sensiblen Informationen kann schließlich für die Quellen und damit für weitere Operationen gefährlich sein. Die aktuelle Transparenztaktik der USA birgt laut Gowan ein weiteres Risiko: “Diese Megaphon-Diplomatie könnte es Putin erschweren, nichts zu tun”, sagt der Analyst gegenüber “El País”. Denn ein gedemütigter Putin, ist ein gefährlicher Putin.

Dann wäre da noch die Sache mit der Wahrheit. Denn die liegt in den wenigsten Fällen im Auge des Betrachters. Man erinnere sich an die angeblichen Massenvernichtungswaffen, die Saddam Hussein seinerzeit im Irak gehortet haben soll. Zwar rechtfertigte dies den Einmarsch der US-Truppen – doch stellten sich die Angaben im Nachhinein als falsch – oder erfunden heraus.

Auch im Fall der jüngsten Enthüllungen im Ukraine-Konflikt setzt die US-Regierung auf blindes Vertrauen – denn Beweise für die russischen Verschwörungen legten die Behörden bislang nicht vor. “Wenn Sie die Glaubwürdigkeit der US-Regierung, der britischen Regierung oder anderer Regierungen anzweifeln und Trost in Informationen finden wollen, die von den Russen verbreitet werden, dann ist das Ihre Sache”, soll Ned Price, Sprecher des Außenministeriums, vor Kurzem aufgebraust auf das Nachharken eines Journalisten reagiert haben. CNN zufolge rief er den Journalisten später an, um sich zu entschuldigen.

Einem “Politico”-Bericht zufolge werden inzwischen jedoch auch in Regierungskreisen kritische Stimmen lauter, die der Meinung sind, dass es Biden allmählich übertreibt. “Ich bin besorgt über die langfristige Glaubwürdigkeit unserer Geheimdienstinformationen bei all diesen ausgewählten Offenlegungen”, sagte ein ehemaliger CIA-Offizier mit Russland-Kenntnissen gegenüber der US-Zeitung.

Den neuesten Geheimberichten gehen sogar noch einen Schritt weiter: Russland greife nicht bald, sondern am Mittwoch an. Eine Präzision, vor der sich jeder Meteorologe ehrfürchtig verneigen dürfte. Sollte der Kreml doch weiter auf sich warten lassen, hat es Andrea Kendall-Taylor, eine ehemalige stellvertretende nationale Geheimdienstbeauftragte für Russland und Eurasien bereits treffen formuliert: Sollten sich Informationen als falsch herausstellen, “sollten wir alle froh darüber sein”. Sie hätte auch sagen können: “Freut euch doch, wenn die Sonne scheint, obwohl Regen angekündigt war.”

Weitere Quellen: “CNN“; “El País“; “Washington Post“; “Politico

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