Ukraine-Konflikt: So reagiert die Presse auf Putins Äußerungen

Der Ukraine-Konflikt an der Grenze zu Russland eskaliert zusehends. Dass Präsident Wladimir Putin die Separatisten-Gebiete im Osten der Ukraine anerkannt hat, entfachte auch ein mediales Feuer. Die Pressestimmen im Überblick.

Russlands Präsident Wladimir Putin hat in einer wahrscheinlich jetzt schon historischen Rede die “Volksrepubliken” Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt. Die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze eskaliert damit zusehends. Die Reaktionen der Presse im Überblick.

Deutsche Presse:

“Frankfurter Allgemeine Zeitung”: (…) Putin sucht die Konfrontation. Ob ihn die Androhung wirtschaftlicher Sanktionen davon abschreckt, mit militäri-scher Gewalt die Grenzen in Europa zu revidieren, ist noch offen. In jedem Fall muss die NATO ihre Fähigkeit zu militä-rischer Abschreckung in Europa stärken. Dazu gehört, woran Putins Vorführung von Atomraketen aller Art erinnerte, auch die Abschreckung mit Nuklearwaffen. Die NATO verlässt sich dabei vor allem auf das Arsenal Washingtons. Die Amerikaner nimmt Putin auch deshalb ernst. Doch können die Europäer, man denke an Trump, sich nicht darauf verlassen, dass der ame-rikanische Atomschirm ewig über ihnen aufgespannt bleibt. Die Ukrainer, die ihre Atomraketen gegen wertlose Sicherheitsga-rantien abgaben, erleben gerade, was einem dann widerfahren kann.

“Badische Zeitung” (Freiburg): “Putin wirkt wie im Machtrausch. Wie ein Mann, der buchstäblich am Drücker sitzt. Viel spricht dafür, dass er die Lage in den nächsten Tagen zum Krieg eskalieren lässt. Die letzte Hoffnung, die man noch haben kann, ist diese: Dass Putin sich noch eine Weile in der Demütigung des Westens suhlt, um schließlich doch noch mit Biden ernsthafte Gespräche zu führen.”

“Volksstimme” (Magdeburg):  “Nein, die dramatische Zuspitzung der Russland/Ukraine-Krise überrascht nicht: Über Monate hat Wladimir Putin sein Eskalations-Drehbuch Kapitel für Kapitel in die Realität umgesetzt. Erst lässt der Kreml-Herrscher 150.000 Soldaten samt schwerem Kriegsgerät aufziehen und nimmt die Ukraine als Geisel. Dann inszeniert er “Hilferufe” der von ihm unterstützten Separatisten im Osten der Ukraine. Und die Regierung in Kiew muss hilflos mit ansehen, wie Putin dem Land die abtrünnigen Gebiete Donezk und Luhansk wohl endgültig aus dem Staatsgebiet schneidet. Auf die Reaktion des Westens dürfte nicht nur Moskau warten: Sind Deutschland, die EU und die USA jetzt nicht zu sofortiger maximaler wirtschaftlicher Härte und militärischer Abschreckung gegenüber dem Kreml bereit, wird Putin auch vor dem Rest der Ukraine nicht Halt machen. Und sein neuer Verbündeter Xi Jinping würde sich ermutigt fühlen, sich bald das demokratische Taiwan einzuverleiben.”

“Rhein-Neckar-Zeitung” (Heidelberg): “Krieg darf es nicht geben in Europa. Aber reicht der politische Wille für Frieden? Nach der Vorankündigung eines möglichen Spitzentreffens zwischen US-Präsident Joe Biden und Russlands Wladimir Putin, lässt der Kreml-Herrscher alle Annäherungsversuche des Westens abtropfen wie lästigen Regen. Nicht jetzt, nicht so schnell, nicht mit so vielen Vorbedingungen. Und die Provinzen Donezk und Luhansk sind schon so gut wie russifiziert. Putin greift – anders als von der US-Seite behauptet – gar nicht nach der ganzen Ukraine, er begnügt sich mit Stückchen und destabilisiert damit nicht nur den Nachbarstaat, sondern zugleich den gesamten Kontinent. Ein bewährtes Spiel. (…) Das sind Tage, an denen einem der Atem stockt.”

“Südwest-Presse” (Ulm): Zufall, Ränkeschmiede des Westens und blutrünstige Ukrainer – das sind die Phantome des Kremls. Vielmehr scheint es so zu sein, dass der russische Präsident Wladimir Putin entweder im Verhandlungspoker mit den USA noch einmal an Drohpotenzial nachlegen möchte. Womöglich hat er sich aber auch entschieden, seine Truppen in die Ukraine einmarschieren zu lassen. Europa betritt damit womöglich ein neues Zeitalter, das von Krieg und Blutvergießen gekennzeichnet ist.”

Internationale Presse:

“El País” (Spanien): “Der gestrige Schritt von (Kremlchef) Wladimir Putin, die Separatistengebiete im Osten der Ukraine als unabhängige Republiken anzuerkennen, verschärft die Krise weiter und ist im internationalen Rechtsrahmen inakzeptabel. Vor diesem Hintergrund versuchen die westlichen Demokratien nun mit fieberhaften diplomatischen Bemühungen, einen Flächenbrand zu verhindern, der sowohl für die Zivilbevölkerung als auch für die Weltordnung verheerende Folgen hätte. Diese Bemühungen des Westens, alle Möglichkeiten des Dialogs zu nutzen, haben solide Grundlagen. Im Gegensatz zu vergangenen Jahren ist es den westlichen Demokratien nämlich gelungen, eine beträchtliche Einigkeit herzustellen, um der Herausforderung durch Moskau zu begegnen. Ganz anders als sein Vorgänger hat (US-Präsident) Joe Biden sich um möglichst enge Beziehungen zu den europäischen Verbündeten bemüht. Und die EU-Länder sind ihrerseits enger zusammengerückt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Einheit – die von Moskau und Peking mit Enttäuschung registriert wird – nicht zersplittert.”

“La Repubblica” (Italien): “Gestern Abend versuchte Wladimir Putin, die Geschichte neu zu schreiben, indem er die Existenz des demokratischen und freien Staates Ukraine leugnete, die Geisterrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannte, das Minsker Abkommen endgültig begrub und die Amokfahrt, die europäischen Grenzen mit militärischer Gewalt zu verändern, fortsetzte. Der Krieg war noch nie so nah, und jetzt ist es für den gesamten Westen an der Zeit, mutige politische Entscheidungen zu treffen. Es ist an der Zeit, dass die Ukraine vollständig in die europäische Familie aufgenommen wird. Zusammen mit einem deutlichen und sehr harten Sanktionssystem ist das die beste Antwort, die man auf eine völlig ungerechtfertigte militärische Bedrohung vor den Toren Europas geben kann.”

“Tages-Anzeiger” (Schweiz):  “Die Eskalationsspirale dreht sich: Am Montag hat Kremlchef Wladimir Putin die ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk als unabhängig anerkannt, ein weiterer Schritt Richtung Krieg. Das ist nicht Joe Bidens Schuld. Der US-Präsident macht in dieser Auseinandersetzung vieles richtig – für einmal. (…) So hat er das bereits für tot erklärte Verteidigungsbündnis Nato wiederbelebt und geeint. Indem er laufend russische Angriffspläne veröffentlichte, können alle nachlesen, wer in diesem Konflikt der Aggressor ist.

Ironischerweise kann Joe Biden zu Hause kaum davon profitieren. Die Umfragewerte des US-Präsidenten verharren im Keller, vor allem wegen der Rekordteuerung. Im Fall eines Kriegs dürften die Energiepreise weiter steigen und Bidens Problem verschärfen. Langzeitherrscher Wladimir Putin weiß, dass Biden sein kriegsmüdes Land auf die Herausforderung China fokussieren wollte und dass im Weißen Haus bald ein anderer sitzen könnte. Er dürfte die Geschlossenheit der Nato weiter testen – und darauf hoffen, dass andere ihre schlechten Karten nicht so gut ausspielen wie Biden.”

“Verdens Gang” (Norwegen): “Unabhängig vom Ausgang ist die Krise in der Ukraine ein Zeichen dafür, dass Europa in eine gefährlichere Zeit eintritt. Putin versucht, in der Ukraine etwas von dem wiederaufzubauen, was beim Zusammenbruch der Sowjetunion verloren ging. Es ist keine Frage, ob der Krieg in die Ukraine kommen wird. Der Krieg zwischen russisch unterstützten Rebellen und ukrainischen Kräften geht im Osten des Landes bereits seit acht Jahren vor sich. Die Frage ist, ob die Kampfhandlungen im Donbass nur ein Vorläufer für die größte Militärkampagne in Europa seit 1945 sind. Putin sagt, Moskaus oberste Priorität sei nicht die Konfrontation, sondern die Sicherheit. Sein Vorgehen deutet leider in die entgegengesetzte Richtung.”

“Nepszava” (Ungarn): “Putin hat mehreren Politikern einen Gefallen erwiesen, obwohl dies kaum seine Absicht gewesen sein dürfte. (…) (US-Präsident) Joe Biden braucht sich nun nicht mehr dauernd mit innenpolitischen Problemen herumzuschlagen. (…) Wenn es zum Krieg kommt, kann er sagen, dass er vorzeitig davor gewarnt hat. Kommt es hingegen zu einer Entspannung, kann er behaupten, dass dies dem entschlossenen Auftreten Amerikas zu verdanken sei. Auch (dem britischen Premier) Boris Johnson warf Putin einen Rettungsring zu. Die Aufmerksamkeit für dessen (Corona-Party-)Skandale, für die dramatischen Brexit-Folgen und das Nordirland-Problem ist dahingeschwunden. (…) Im Zusammenhang mit der aktuellen Krise zogen viele die Kompetenz von Olaf Scholz in Zweifel. Doch mit seinem vorwöchigen Besuch in Moskau bewies der deutsche Bundeskanzler, dass er ein Politiker mit hervorragenden Fähigkeiten und ein ausgezeichneter Verhandler ist. Als ob Putin ihn aus dem Dornröschenschlaf geweckt hätte.”

“Hospodarske noviny” (Tschechien): “Der Frieden in Europa hängt nun zu einem großen Maße davon ab, was die Ukraine noch aushalten kann. Die Propagandamaschinerie des Kremls zielt darauf ab, die Ukrainer zu spalten, zu schwächen und zu verunsichern, bis sie selbst zu der Entscheidung kommen, ihren demokratisch gewählten Präsidenten ab- und ein prorussisches Regime einzusetzen. Damit könnte Kremlchef Wladimir Putin nach Belarus einen weiteren Nachbarstaat unter seine Kontrolle bringen. Eine große Militärkampagne gegen die Ex-Sowjetrepublik ist für die russische Führung erst die letzte Lösung. Sollte es Putin gelingen, die Ukraine zu beherrschen, kann er in einem nächsten Schritt den Druck auf Anrainerstaaten erhöhen, die Mitglied von EU und Nato sind. Putin spielt ein riskantes Spiel um die Nerven der Ukrainer – und eigentlich aller Europäer.” 

“Neatkariga Rita Avize” (Lettland): “Es ist möglich, dass es zu einem Krieg kommt, weil der Westen die Ukraine nicht zwingen wird, sich kampflos zu ergeben, und der Westen kann Putin nicht davon überzeugen, dass dieser Schritt schlecht für ihn enden wird. Wird der Krieg global? Das wird von der Reaktion des Westens abhängen. Wenn sie scharf und unerwartet stark ist, dann wird Russland, in bester russischer Tradition, die Zähne eingeschlagen bekommen, sich das Blut abwischen und zurückkriechen, um wieder Freunde zu sein. Ohne Gegenmaßnahmen oder Vergeltung wird die Unverfrorenheit nur noch weiter zunehmen – ohne die Möglichkeit, ihr Einhalt zu gebieten.” 

“Der Standaard” (Niederlande): “Es ist nach wie vor schwierig, sich etwas Umfangreicheres als eine begrenzte Aktion vorzustellen, bei der Russland die ostukrainischen Rebellengebiete de facto annektiert, wie es das 2014 mit der Krim getan hat. Putins gestrige Äußerungen ließen jedoch vermuten, dass seine Ambitionen weit darüber hinausgehen. Putin machte deutlich, wie weit er bereit ist, für seine Vision von einer Sicherheitsarchitektur zu gehen, wie sein Russland sie braucht. Angesichts dieser Entschlossenheit ist der Westen fassungslos. Niemand will für die Ukraine sterben. Die angekündigten Sanktionen sind ein Eingeständnis der Schwäche. Es herrscht Uneinigkeit darüber, wie schnell sie kommen und wie hart sie durchgesetzt werden sollen. Putin ist vorbereitet auf alles, was Europa und die USA in petto haben.” 



“The Telegraph” (Großbritannien): “Eine diplomatische Lösung ist zwar einem Krieg vorzuziehen, aber nicht um jeden Preis, wie Ben Wallace, der britische Verteidigungsminister, Abgeordneten gegenüber erklärte. Der Westen darf der Zerschlagung der Ukraine nicht zustimmen, um Putin so zum Abzug seiner Truppen zu bewegen. Die Provinzen Donezk und Luhansk stehen seit 2014 im Zentrum eines blutigen Konflikts zwischen den beiden Ländern, der bereits 10 000 Menschenleben gekostet hat. Wenn Putin sie von der Ukraine abspalten kann, so wie er es mit der Krim getan hat, wird er sein Vorgehen der Einschüchterung und Aggression als Erfolg werten. Aber er wird wiederkommen und als nächstes die baltischen Staaten auf seiner Liste haben.”

“Washington Post” (USA): “So endet die Nachkriegswelt und auch die Welt nach dem Kalten Krieg: noch nicht mit einem Knall und nicht mit etwas, was annähernd einem Wimmern gleicht, sondern mit einer Wutrede. In einem außergewöhnlichen Monolog, der am Montag weltweit live übertragen wurde, attackierte und delegitimierte der russische Präsident Wladimir Putin nicht nur die unabhängige Ukraine und ihre Regierung, sondern alle Seiten der Sicherheitsarchitektur in Europa und erklärte beide zu Kreaturen eines korrupten Westens – angeführt von den Vereinigten Staaten –, die Russland gegenüber unablässig feindselig eingestellt sind. (…) Nach Montag ist leider klar, dass Putin nicht abgeschreckt wurde, ein Krieg wahrscheinlich ist und es keinen Grund mehr gibt, mit der Verhängung von Sanktionen zu warten – sogar über (die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine) hinaus, die das Weiße Haus sofort ins Visier nahm. Das wäre der erste Schritt, um entschieden auf diese geopolitische Krise zu reagieren, aber es kann kaum der letzte sein.”

yks
DPA

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