Operation „Total Defence“: Deutschlands mangelnde Verteidigungsfähigkeit jenseits der Bundeswehr

Wann fühlt sich Wladimir Putin stark genug, seine über die Ukraine hinausreichenden Eroberungspläne umzusetzen und einen Angriff auf das Territorium der Nato zu wagen? Am Jahresende 2023 beschäftigt diese Frage nicht mehr nur Militärs. Sie ist auch in Teilen der deutschen Politik und Wissenschaft angekommen.

Russlands Drohungen gegen die baltischen Staaten seien sehr ernst zu nehmen, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) WELT AM SONNTAG: „Das ist nicht bloß Säbelrasseln.“ Putin habe die Rüstungsproduktion seines Landes ganz erheblich gesteigert: „Wir haben jetzt ungefähr fünf bis acht Jahre, in denen wir aufholen müssen“, prognostiziert Pistorius – „sowohl bei den Streitkräften als auch in der Industrie und in der Gesellschaft“.

Interview

Die Abgeordneten des Bundestags hören in ihren Briefings durch den Bundesnachrichtendienst ähnliche Einschätzungen. Christian Mölling, Vizechef des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, schreibt von einem Wettlauf mit der Zeit: „Das Fenster zu einem möglichen russischen Angriff öffnet sich, sobald Russland den Eindruck hat, ein Angriff, etwa im Baltikum, könnte erfolgreich sein.“

An Putins Motivation hegt Mölling keinen Zweifel mehr. Dessen „historische Denkkategorien bauen auf Analogien zum imperialen Zarenreich und der Sowjetunion der Stalin-Zeit auf. Russland besteht demnach auch jenseits seiner Grenzen fort – überall dort, wo jemals Russen lebten oder wo das russische Reich oder die Sowjetunion herrschten. Die nach dem Zerfall der Sowjetunion geltenden Grenzen sieht Putin als nicht bindend an.“

Mölling geht von einer Frist von sechs bis zehn Jahren aus, die Moskau benötige, „um seine Streitkräfte wieder aufzubauen“. So ganz sicher freilich weiß das niemand. Hohe Bundeswehrgeneräle rechnen in Worst-Case-Szenarien mit drei bis fünf Jahren, auch die Ostflanken-Staaten der Nato sind aus Erfahrung besonders vorsichtig. „Man kann das sehr unterschiedlich sehen“, sagt der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anusauskas. Jedenfalls gelte: „Wir müssen uns einfach vorbereiten.“

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Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 seine Rede von der Zeitenwende gehalten hatte, ließ sich kurze Zeit der Eindruck gewinnen, dass diese Vorbereitungen mit Verve angepackt würden. 100 Milliarden Euro Schulden wurden aufgenommen, um die gröbsten Ausrüstungsmängel der Bundeswehr abzumildern.

Die Regierung legte eine Nationale Sicherheitsstrategie vor, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik. Doch der Eifer erlahmte schnell.

„Geht nicht nur um Geld und Waffen“

Mittlerweile sei klar, sagt der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München: „Wir haben nicht begriffen.“ Deutschland sei „sicherheits- und verteidigungspolitisch wieder in den Friedensmodus“ und „alte Bequemlichkeit“ zurückgefallen, so Masala. Die Bundesrepublik sei als Staat „noch immer nicht kaltstartfähig“. Das gelte nicht nur für die Bundeswehr, sondern für sämtliche staatlichen Institutionen.

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Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD); Minenjagdboot der Deutschen Marine

„Bei der Zeitenwende geht es nicht nur um Geld und Waffen“, sagt Oberst André Wüstner, Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes. Es gehe vielmehr „um ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis. Um Resilienz, diese Mischung aus Bewusstsein, Widerstandsfähigkeit und Wehrhaftigkeit.“ Damit auf wohlklingende Reden auch tatsächlich Veränderungen folgten, brauche es ein gesamtgesellschaftliches Konzept der „Total Defence, wie es unsere skandinavischen Partner haben“. Eine Gesamtverteidigung also.

In den gerade aktualisierten verteidigungspolitischen Richtlinien des Wehrressorts klingt das ähnlich. Die Bundeswehr sei „ein Kerninstrument der Wehrhaftigkeit gegen militärische Bedrohungen“, heißt es darin. Aber: Die „Bedingung erfolgreicher Gesamtverteidigung ist die Verzahnung aller relevanten Akteure bereits im Frieden: Staat, Gesellschaft und Wirtschaft.“ Tatsächlich gibt es ein solches Konzept in Deutschland, die „Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung“. Doch die stammen aus der Endphase des Kalten Kriegs, genauer: vom 10. Januar 1989.

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Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD)

„Richtlinien“ des Ministers

Sie wurden verantwortet von Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg und Innenminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) und beschreiben die Kooperation von Institutionen wie Armee, Polizei, Feuerwehr, Bevölkerungsschutz, Parlament, Bund, Ländern, Kommunen mit all ihren Behörden, Gesundheitssystem, zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen und Wirtschaft im Krieg sowie in „friedenszeitlichen Katastrophen oder Krisen“. Im Vorwort der Minister heißt es, es obliege „dem Staat als Daueraufgabe, Vorsorge für den Schutz der Zivilbevölkerung und des Staatsgebietes zu treffen“. Militärische und zivile Seite müssten zu diesem Zweck unter gemeinsamer politischer Führung eng zusammenwirken.

Doch diese Daueraufgabe geriet in Vergessenheit – nicht nur beim Militär, auch in der Zivilverteidigung wurden Strukturen abgebaut. „Nach 1990 wurde nicht nur die Bundeswehr geschrumpft, auch der Bevölkerungsschutz in Katastrophenlagen mit all seinen zivilen Mitspielern wurde rasiert“, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag. „Die Folgen spüren wir jetzt. Das müssen wir von Grund an neu aufbauen.“

Die Theorie liegt vor, in der Praxis hapert es

Theoretisch geschieht das. In der Nationalen Sicherheitsstrategie nehmen zivile Verteidigung, Bevölkerungs- und Katastrophenschutz breiten Raum ein. Eine neue Richtlinie Gesamtverteidigung ist derzeit in der Bundesregierung in der Ressortabstimmung und soll Anfang 2024 vorgelegt werden. Das sage aber noch nichts „über die Erfolgsaussichten und die politische Ambition, die mit diesem Auftrag verbunden ist“, sagt Wissenschaftler Mölling.

Denn überall mangelt es an Tempo in der Umsetzung, an Ambition bei der Neuordnung der verworrenen Bund-Länder-Zuständigkeiten – und an Geld. Gesamtverteidigung genießt trotz der düsteren Gefährdungsprognosen keine politische Priorität. So vermag das Bundesinnenministerium zwar, eine lange Liste an laufenden Projekten vorzulegen.

Sie reichen von einem Rahmenkonzept für Evakuierung und Massenanfall von Verletzten in CBRN-Lagen (chemische, biologische, radiologische und nukleare Gefahren) über die Ertüchtigung des Technischen Hilfswerks bis zu einer Bestandsaufnahme aller noch vorhandenen öffentlichen Schutzräume.

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Die Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung und der Streitkräfte mit Trinkwasser wird überprüft, eine „Deutsche Strategie zur Stärkung der Resilienz gegenüber Katastrophen“ samt Vorbereitung einer „Nationalen Plattform zur Umsetzung der Resilienzstrategie“ erarbeitet. Die Sirenen-Infrastruktur wird wieder aufgebaut, das Warnmittel „Cell Broadcast“ für Mobiltelefone wurde eingeführt.

Der Bund hat mit der Beschaffung von Mobilen Betreuungsmodulen (MBM 5000) für die Länder begonnen, weitgehend autark funktionierenden Unterkunfts- und Betreuungseinrichtungen für bis zu 5000 Menschen, und kauft Spezialfahrzeuge in den Bereichen CBRN-Schutz, Sanitätsdienst und Brandschutz. Seit Juni 2022 gibt es ein Gemeinsames Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz (GeKoB), das ein Digitales Lagebild und ein Ressourcenregister erstellen soll, seit Oktober 2022 einen Gemeinsamen Koordinierungsstab Kritische Infrastruktur (GEKKIS), der sich gemeinsam mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) um mögliche Sabotage-Szenarien kümmert.

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Nationale Sicherheitsstrategie

Alle diese Projekte stünden allerdings unter einer Einschränkung, so eine Sprecherin des Innenministeriums: „Für den Bereich der Zivilen Verteidigung steht kein Sondervermögen zur Verfügung.“ Dabei bräuchte es keine 100 Milliarden Euro, kritisiert Roderich Kiesewetter, Verteidigungspolitiker der CDU: „Die Innenministerkonferenz hat 2022 einen Bedarf von zehn Milliarden Euro in zehn Jahren für den Zivil- und Katastrophenschutz festgestellt.“

Stattdessen habe die Bundesregierung den Haushalt des BBK „um ein Viertel“ gekürzt – „und das schon vor dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. So wird es nicht gelingen, die Zivilverteidigung Deutschlands auf neue Bedrohungen personell und materiell aufzustellen.“

Das ist ein Grund für die zähen Fortschritte.

„Operationsplan Deutschland“

Ein anderer ist der Föderalismus. Die Länder wachen über ihre Zuständigkeiten, und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kümmert sich nur mit gebremstem Eifer um die Koordinierung. Auch die Vernetzung der Maßnahmen der zivilen mit denen der militärischen Verteidigung ist ausbaufähig.

André Bodemann versucht gerade, das zu ändern. Der Generalleutnant ist Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr mit Sitz in der Berliner Julius-Leber-Kaserne. Dort arbeitet Bodemann am „Operationsplan Deutschland“.

Generalleutnant André Bodemann, Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos

Generalleutnant André Bodemann, Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos

Quelle: picture alliance/dpa/Sören Stache

Zwar ist die Bundesrepublik nicht mehr Frontstaat der Nato wie einst im Kalten Krieg, aber für die Glaubwürdigkeit der Abschrecklungswirkung der Allianz als europäisches Transitland und logistische Drehscheibe zentral. Es gilt also nicht nur, die militärischen Kräftezusagen an die Nato zu erfüllen, sondern auch den Aufmarsch der Bündniskräfte an der Ostflanke zu ermöglichen und zu koordinieren.

Straßen, Brücken, Schienen, Häfen und Flughäfen müssen in der Lage sein, den Strom von Waffensystemen und Soldaten zu bewältigen, entsprechende Verträge für ausreichende Kapazitäten auch ziviler Anbieter vorgehalten werden. Verbündete Truppen müssen geleitet, verpflegt und medizinisch versorgt werden. Auch die umgekehrte Richtung muss bedacht, Flüchtlinge, Verwundete und Gefallene von der Ostflanke aufgenommen werden.

Militärische und zivile Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen sind vor Bedrohungen wie Sabotage, Cyberangriffen, Ausspähung oder Raketen zu schützen, die Gesellschaft insgesamt vor Desinformation oder gewaltsamen Demonstrationen. Die Bundeswehr mit ihren wenigen Soldaten und Reservisten allein kann das nicht leisten, deshalb hat Bodemann in seiner Planungsgruppe auch Vertreter der 16 Länder sitzen, klapperte in den vergangenen Monaten persönlich die Staatskanzleien ab. Über seine Landeskommandos hält er zudem Kontakt zu Bürgermeistern, Hilfsorganisationen und Industrie-Unternehmen.

Dringend nötig, so eine Studie der Beratungsfirma PwC, sei es zudem, einen „In Between“-Zustand zwischen Krieg und Frieden zu regeln. „Zwar definiert das deutsche Grundgesetz den Spannungsfall als Vorstufe zum Verteidigungsfall“, so heißt es in dem Papier. Beides setze allerdings eine „erhebliche militärische Eskalation“ voraus. Allein ein Aufmarsch von feindlichen Truppen an der Ostflanke, hybride Sabotagen oder Cyberangriffe würden mutmaßlich nicht genügen, die einschlägigen Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze in Kraft treten zu lassen. Der Gesetzgeber sei mithin gefordert, um Abwehrmaßnahmen in diesem Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden zu ermöglichen.

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Bis zum Frühjahr 2024 soll der Operationsplan Deutschland im Entwurf stehen. Aber auch danach wird das Land von einer funktionierenden „Total Defence“ noch weit entfernt sein. „Das Problem ist bei der zivilen Verteidigung wie bei der Bundeswehr ähnlich“, sagt CDU-Mann Kiesewetter. „Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern vor allem ein Umsetzungsproblem. Wir brauchen eine Zeitenwende für den Schutz kritischer Infrastruktur und Zivilverteidigung genauso wie für die Bundeswehr.“

Alle Leute im Militär würden ihm sagen, mahnt auch Wolfgang Kubicki (FDP), Vizepräsident des Bundestags: „Die Russen meinen ihre Drohungen gegen die baltischen Staaten ernst.“ Die Deutschen sollten sich ein Beispiel an der Wehrfähigkeit von Schweden und Finnen nehmen, „die sehen da womöglich etwas klarer“. Noch gelte jedenfalls: „Deutschland ist mental und auch faktisch momentan weder verteidigungsbereit noch verteidigungsfähig.“

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