Nico Fried: Immer Ärger mit den Leserinnen und Lesern

Fried – Die Politik-Kolumne
Immer Ärger mit den Lesern: Nico Fried über sein persönliches Dilemma

stern-Kolumnist Nico Fried erhält regelmäßig Nachrichten von Leserinnen und Lesern

© Illustration: Sebastian König/Stern; Foto: Henning Kretschmer/Stern

Neulich erhielt stern-Kolumnist Nico Fried eine spannende Mail. Die Nachricht regte ihn zum Nachdenken über den Umgang mit Leserinnen und Lesern an.

Die Leserin Heide G. aus Süddeutschland hat mir neulich eine Mail geschickt. Darin bat sie, ich möge doch eine politische Kolumne schreiben, in der “auch mal positive Aspekte hervorgehoben werden”. Um ehrlich zu sein, widerstrebt diese Herangehensweise allein schon meiner miesepetrigen Persönlichkeit.

Aber Frau G. hat das geschickt gemacht, weil sie ihrem Anliegen den bezaubernden Satz voranstellte: “Mit Freude erwarte ich jede Woche Ihre geistreiche Kolumne.” Diese Freundlichkeit setzte ihre Bitte natürlich in milderes Licht.

Der Journalist riecht die Schlagzeile

Positiv, was ist das? Frau G. schreibt, sie könne die viele Kritik an der Ampelregierung “nur bedingt” nachvollziehen und vermisse auch mal “Anerkennung”. In ihrem Bekanntenkreis oder in den Medien habe sie noch nie ein “Danke” und “Toll” dafür gehört, “dass jeder Bürger 300 € Energiezuschuss bekommen hat”. Um der Genauigkeit willen müsste ich ergänzen, dass es nicht jede Bürgerin und jeder Bürger war, aber ich fürchte, das würde Frau G. nicht für geistreich halten, sondern für korinthenkackerisch.

An der Formulierung, sie könne die Kritik am Kanzler nur “bedingt nachvollziehen”, lässt sich exemplarisch der Unterschied zwischen Frau G. und mir beschreiben. Die Leserin betont lieber das, was sie gut findet. Dazu gehört neben den 300 Euro auch die Strompreisbremse. Der Journalist, jedenfalls der im Berliner Biotop sozialisierte, würde hingegen fragen, was Frau G. schlecht findet. Muss ja was geben, wenn sie die Kritik nur “bedingt” nachvollziehen kann. Der Journalist riecht die Schlagzeile: “Unter süddeutschen Frauen regt sich Unmut über den Kanzler.” Oder so ähnlich. Frau G. würde lieber lesen: “Gut gemacht, Herr Scholz.”

Unweigerlich führt diese Diskrepanz zu dem Verdacht, der Journalist arbeite mit seiner Kritik an den Wünschen der Leser vorbei. Das wäre blöd. Ich ahne schon, was ich zu hören kriege, wenn mein Chefredakteur dahinterkommt.

Nico Fried und das Kreuz mit den Lesern

Was könnte ich zu meiner Verteidigung vorbringen? Zum Beispiel, dass wir nicht immer Kritik an Scholz üben. Ich müsste etwas länger suchen, aber gewiss hat im stern schon etwas Freundliches über den Kanzler gestanden. Bestimmt haben wir dann aber auch Leserbriefe erhalten, deren Schreiber monierten, wir gingen zu freundlich mit ihm um. Wobei monieren ein sehr zurückhaltendes Verb ist. Solche Leserbriefschreiber benutzen gelegentlich eine Sprache, die Frau G. und ich nicht für geistreich halten.

Es ist also ein Dilemma. Schreiben wir im Sinne von Frau G., verärgern wir einen anderen Leserbriefschreiber, nennen wir ihn Herrn L. Und umgekehrt. Deshalb lautet einer der gefährlichsten Sätze, die ein Journalist in einer Redaktionskonferenz über ein Thema sagen kann: “Ich glaube, das würde die Leser interessieren.” Denn sie fangen sich sofort die Gegenfrage ein: “Wer sind denn die Leser?”

Nun will ich mich aber gar nicht aus dem Versuch herauswinden, Frau G. ihren Wunsch zu erfüllen, etwas Positives über Olaf Scholz zu schreiben. Da kommt mir gelegen, dass der Kanzler jüngst einen klugen Satz gesagt hat: “Ich bin der Kanzler von allen, aber ich rede nicht jedem nach dem Mund.” Genauso verstehe ich auch meinen Job als Redakteur in dem kleinen Kosmos zwischen Frau G. und Herrn L. Jedenfalls solange Herr L. mir nicht schreibt, wie sehr er sich jede Woche auf meine Kolumne freut.

Nico Fried freut sich, von Ihnen zu hören. Schicken Sie ihm eine E-Mail an [email protected]

Erschienen in stern 32/2023

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