Naika Foroutan spricht über ihr Buch “Es wäre einmal deutsch”

Naika Foroutans neues Buch trägt den Titel “Es wäre einmal deutsch”. Im Interview mit dem stern erklärt die Migrationsforscherin, was sie damit meint, welche Fragen wir uns stellen sollten und wie das Zusammenleben in unserer heterogenen Gesellschaft noch befruchtender wäre.

“Deutschland ist nicht nur faktisch zu einem Einwanderungsland geworden, sondern auch seinem Selbstverständnis nach”: So beginnt der Klappentext von Naika Foroutans neuem Buch “Es wäre einmal deutsch”. Und die Integrationsforscherin macht durchweg deutlich, dass dieser Satz zutrifft: Mit Studien, Essays und unterhaltsamen Alltagserzählungen zeigt Foroutan auf, wie sich Deutschland verändert hat – und wie es sich noch verändern könnte. Dass es bereits positive Entwicklungen gibt, aber es weitere Veränderungen bräuchte, um unsere heterogene Gesellschaft noch befruchtender zu gestalten. Im Interview mit dem stern spricht die Leiterin des Deutschen Instituts für Migration und Integrationsforschung (DeZIM) über ihre Beobachtungen, Wünsche und gibt einen Ausblick in die Zukunft. 

Frau Foroutan, der Titel Ihres Buches lautet “Es wäre einmal deutsch”. Warum “wäre”?

Dieses “wäre” als Konjunktiv trägt natürlich einen Wunsch in sich, aber auch eine Hypothese: Was wäre, wenn Deutschsein heute migrationsoffener gedacht würde? Aktuell spüren wir ja wieder eine hohe Migrationsfeindlichkeit. Aber das muss nicht so bleiben. Gleichzeitig ist es auch ein märchenhafter Titel: Es war einmal ein Land … Was wäre also heute deutsch, wenn wir Deutschsein so weitergedacht hätten, wie es die Gründungsväter in der Paulskirche 1848 mal versucht hatten? Damals wurde darüber nachgedacht, dass Deutsch ist, wer auf deutschem Boden geboren wird. Die Multikulturalität und Multireligiosität in den 39 Fürstentümern und freien Städten, die damals in dem Wunsch zusammenkamen, ein Land zu werden, reflektierte sich auch in der Multisprachlichkeit. Deutschland war ein Land in dem sorbisch, polnisch, russisch, französisch, deutsch und viele Mundarten gesprochen wurden. Es war eine kommunikative Gemeinschaft jenseits von sprachlicher Einheit.

Deutschland heute multikulturell und postmigrantisch zu erzählen, ist also keine neumodische Denkstruktur, sondern hat eine Tradition. Mit postmigrantisch meine ich, dass wir hinter die Migrationsfrage schauen müssen, um zu begreifen, worüber wir eigentlich verhandeln – nämlich, wie demokratisch, gleichheitsorientiert und chancengerecht dieses Land eigentlich ist und sein möchte. Die langwierigen Prozesse des Verhandelns und Anerkennens sind auch in meinen Essays, die in diesem Buch versammelt sind, deutlich erkennbar. Im Vordergrund stehen dabei die Positionen der Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Wie definieren Sie denn “deutsch”?

Oha. Politikwissenschaftlich könnte ich natürlich ganz einfach antworten: Deutsch ist eine Staatsangehörigkeit. Das ist natürlich etwas schnöde, ich weiß. Ich könnte Ihnen auch kulturell antworten, Sprache, Philosophie und Musik einbinden. Oder geographisch die grünen Wälder als Sinnbild nehmen. Aber dann würden die Norddeutschen an Ost- und Nordsee mir wohl sagen, dass ich einiges auslasse. Und die Bayern würden zurecht ihre Berge mitbedacht wissen wollen. Und emotional ist vielleicht der Rhein für mich das, was ich mit deutsch verbinde – aber jetzt wohne ich schon länger an der Spree, als ich jemals am Rhein gelebt habe. Emotionalität ist also hochsubjektiv – Zeitlichkeit wäre kein valider Faktor. Sie sehen, es hat durchaus seine Begründung, dass ich mich auf die schnöde Bezeichnung zurückziehe.

Deutschsein kann für jeden etwas anders bedeuten – von schön über banal, bis schrecklich. Daher ist es für politisches Handeln wichtig, sich außerhalb dieser vielzähligen Kriterien auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen – wobei ich die Staatsangehörigkeit nicht klein nennen möchte. Nur messbar. Für das Buch definiere ich deutsch als einen fluiden, sich immer wieder neu entfaltenden Beziehungsraum. Die Sprache verändert sich, die Kultur verändert sich, die Attitüden verändern sich. Einige Menschen hadern damit, aber wir dürfen auch nicht vergessen, für die allermeisten Menschen wäre die Vorstellung, dass sich nichts verändert hätte und wir immer noch in einem Deutschland der 1950er Jahre vor den Anwerbeabkommen lebten, wahrscheinlich keine Wunschvorstellung.  

Sie schreiben davon, dass es ein neues Leitbild statt einer Leitkultur bräuchte.

Die zunehmenden Positionsgewinne rechter Parteien und Bewegungen führen dazu, sich die Frage “wie wollen wir zusammenleben?” auch unter dem Aspekt der zunehmenden Migrationsbewegungen deutlich zu stellen – und dabei selbst eine konstruktive Antwort zu formulieren, wenn man sich den einfachen Antworten der Rechtspopulisten entgegenstellen will. In einer Gesellschaft, in der jede dritte Familie Migrationsbezüge aufweist und jedes vierte Kind einen Migrationshintergrund hat, wird deutsche Ahnenschaft als Bezugskategorie immer schwammiger. Die Rhetorik der Rechtspopulisten und der immer wieder aus der Kiste gezauberte Vorschlag einer “Leitkultur”, die in die Vergangenheit weist, statt wie ein Leitbild nach Vorne zu verweisen, bieten eine Reduktion dieser Unübersichtlichkeit an, eine Rückkehr zur Homogenität, zur Vorstellung eines alten Deutschlands und hin zu Werten, die Europa, Migration, Gender und Muslime – also Grundpfeiler der politischen, nationalen, sexuellen und religiösen Pluralität – als Bedrohung der kollektiven Identität entwerfen.

Daraus entsteht ein Kampf gegen Gesellschaftsformen, die von Vielfalt durch Migration geprägt sind, und deren Unübersichtlichkeit eine erhöhte Ambiguitätstoleranz voraussetzt, die von Einigen noch gelernt werden muss und von Vielen im Alltag bereits gelebt wird. Wir stellen zunehmend fest: Eine Einwanderungsgesellschaft ist nicht selbsterklärend. Politische Bildung und Demokratieförderung für alle gehören ebenso dazu wie Vielfaltsbildung und Ambiguitätstoleranz.

Die Frage lautet daher, ob so eine heterogene Gesellschaft wie Deutschland nicht doch einer übergeordneten Großerzählung bedarf, die sie in ihrem politischen Handeln antreibt. Offenbar wird Heterogenität als pures Nebeneinander nicht als sinngebend empfunden, wenn ihr kein sinnstiftender Endpunkt vorangeht, auf den diese Vielheit zuläuft. Dabei stellt sich immer mehr die Frage, ob ein Verfassungspatriotismus als alleinige Basis ausreicht, um heterogene Gesellschaften – etwa die postmigrantische, von Vielfalt gekennzeichnete, deutsche Gesellschaft – zukünftig politisch weiterzudenken. 

Braucht es vielleicht zusätzlich ein Metanarrativ, ein handlungsleitendes Motiv oder Leitbild, das politisch definiert, wie dieses neue Deutschland sich erzählt? Kann es überhaupt Großerzählungen geben, die sinnstiftend und strukturierend auf Politik und Zivilgesellschaft Einfluss nehmen können, ohne exklusiv und homogenisierend zu wirken? Wer erzählt und entwirft dieses Motiv? Und lässt ein solches Leitbild – eine Neudefinition eines offenen, demokratischen, pluralen Deutschlands – nicht auch wieder “Andere” zurück, wie AfD-Anhänger, AKP-Wähler, Rassisten oder Salafisten? Wie nehmen wir diese mit hinein in die Aushandlungen? Oder lassen wir es? Das alles sind Fragen, mit denen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen müssen. Und da dies schwierige Fragen sind, die aber sehr wohl definieren, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, braucht es eine Leitbildkommission, um hierüber zu sprechen, zu streiten und sich dann zu einigen.

Ein Vorschlag dazu wurde vor Jahren mal entwickelt. Wenn wir uns nun in Deutschland migrationspolitisch an Kanada und seinem Punktesystem orientieren, dann könnten wir eventuell auch Kanadas Leitbild in Betracht ziehen, das in den 1970ern entwickelt wurde: Unity in Diversity – Vielfalt in Einheit. Das müsste dann auch als ein Staatsziel mit aufgenommen werden. So wie Tierschutz und Umweltschutz als Staatsziele in die Verfassung aufgenommen wurden, sollte ein Artikel 20b im Grundgesetz aufgenommen werden, der besagt: “Die Bundesrepublik Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Sie fördert daher die gleichberechtigte Teilhabe und Integration.” Dies würde die gesamte Bevölkerung miteinschließen. Der Vorschlag ist übrigens weder neu, noch von mir. Es gibt ihn schon seit bald einem Jahrzehnt und Farhad Dilmaghani, der Vorsitzende des Vereins Deutschplus, hatte ihn entwickelt.

Im Kapitel über Heimat(en) zitieren Sie Ihre Mutter, die davon spricht, dass sie sich dort heimisch fühlt, wo man ihren Namen kennt, und sie erzählt von einer Frau, die sie in Teheran kennengelernt hat. Sie ergänzen: “Und sie rufen ihren Namen – nicht verschämt und verdruckst, sondern laut und falsch.” Könnte sich hier jede:r noch heimischer fühlen, wenn wir weniger Angst davor hätten, etwas falsch zu machen im Umgang mit Einwander:innen? Angst ist insgesamt in Ihrem Buch ein Thema, das sich oft wiederfindet.

In der Tat ist Angst ein Killer im Zusammenleben. Trotzdem ist es ok, durch diesen Moment von Un-Komfortabilität zu gehen – ich weiß, das klingt nicht gut, aber ich sag es trotzdem: So viele Menschen erleben in diesem Land diskriminierende Momente, dass mein Mitleid sich hier in Grenzen hält, wenn jemand sich unkomfortabel fühlt, weil er oder sie nicht weiß, wie man nun die Leute anspricht, die nonbinär sind, oder Namen haben, die schwer auszusprechen sind. Das heißt nicht, dass es mir nicht genauso geht – auch ich habe regelmäßig diese peinlichen Momente, in denen ich nicht weiß, ob ich etwas richtig sage. Und dann richtet sich dieses Gefühl von Peinlichkeit direkt gegen diejenigen, die das verursacht haben. Was natürlich einfach nur ein Versuch ist, kognitive Dissonanzgefühle auszugleichen, um den Ärger über sich selbst wegzuleiten. Aber da müssen wir durch. Denn es gibt einfache und gute Möglichkeiten, sich selbst zu informieren und weiterzubilden. Das muss man nicht auch noch denen aufhalsen, die sowieso viel zu oft ihr Leben aus der Defensive oder als Erklärbären leben müssen.

Ich bin nicht dagegen, zu fragen: Manche Menschen wünschen sich gefragt zu werden und erklären sehr gerne ihren Namen, ihre Herkunft, ihre Religion, ihre Geschichte. Es ist schön, wenn diese Geschichten und Namen ihren Raum im Alltag einnehmen und miteinander geteilt werden. Aber manche reagieren unwirsch, müde, gelangweilt. Auch das ist nachvollziehbar.

Es gibt nun einmal mehr als zwei Geschlechter, Menschen, die Schwarz sind und Ur-deutsch, Muslime mit Kopftuch und Muslime mit Bier. Die Gleichzeitigkeit von Codes ist unübersehbar und unüberschaubar. Das macht Zuordnungen noch schwieriger und wirkt auf Teile der Bevölkerung verängstigend, andere navigieren da lässiger durch, Stichwort Ambiguitätstoleranz. Es ist auch ok, die eigene Verunsicherung zu artikulieren und fehlbar zu sein. Das ist schwer mit der Erfahrung meiner Mutter als deutsche Frau in Iran zu vergleichen – sie hatte dort nicht als Deutsche unter Diskriminierung zu leiden. Auch nicht als Christin. Eher als Frau durch das islamistische Regime. Aber ansonsten hatte sie eine privilegierte Position und dann stört man sich nicht an der falschen Aussprache des Namens.

Aktuell ist das Ärgern über die falsche Aussprache der Namen in Deutschland keine überempfindliche Pickyness, sondern eher Reaktanz auf viele Jahre der Abwertung, zu denen auch gehört, nicht den Versuch zu unternehmen zu begreifen, dass sich der Namenskanon in diesem Land ausgeweitet hat. Es ist nicht fundamental und nicht gravierend Namen falsch auszusprechen – aber es ist auch kein Grund, empört zu sein, wenn Gegenwind kommt oder Menschen sich anfangen darüber lustig zu machen, wenn immer noch jemand LAMAKUUN sagt.

Was können wir alle im Einzelnen tun, um Ängste abzulegen?

Es gibt ja sehr viel Forschung zur sogenannten “Kontakthypothese”. Die weist, wie der Name schon sagt, nach, dass Kontakt dazu führen kann Stereotype abzubauen. Stereotype basieren darauf, sich schnelle Entscheidungen auf der Basis von Unwissenheit zu ermöglichen. Das Gehirn kann oft nicht lange Schleifen drehen, bis wir uns ein Bild über jemanden gemacht haben. Das passiert oft über Schubladen, in denen wir bestimmte Vorstellungen gelagert haben, die teilweise auch durch rassistisches Wissensrepertoire stabil bleiben, um dann Personengruppen schnell zu klassifizieren, zuzuordnen und zu positionieren. Kontakt ermöglicht natürlich eine direktere Überprüfung zwischen Bild/Stereotyp und der realen Person. Das heißt aber nicht, dass jeder Kontakt automatisch dazu führt, dass Stereotype abgebaut werden. Albert Einstein hat ja so treffend formuliert: Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als ein Stereotyp (Er hat glaube ich Vorurteil gesagt, statt Stereotyp, aber das zahlt auf ein ähnliches Phänomen ein).

Kurzum, zu Ihrer Frage: Kontakt kann helfen Ängste abzulegen. Aber es können nun nicht alle Menschen künstlich auf Kontaktsuche gehen – auch wenn das natürlich durch die Digitalisierung leichter geworden ist. Eine andere Sache, die Einzelne tun können, ist, sich weiterzubilden. Besonders relevant erscheint mir hier, sich historisch weiterzubilden und mehr Kenntnis über Rassismus, Kolonialismus, Antisemitismus, Orientalismus etc. aufzubauen, um darin zu verstehen, dass die etwas verharmlosend als Angst beschriebene Gefühlslage auch tiefe Wurzeln darin hat, uns dagegen zu wehren eigene Täterschaften zu reflektieren. Diese Verunsicherung und die damit einhergehende Abwehr, die auch als “White Guilt” oder “White Fragility” bezeichnet wird, zu erkennen, sie auszuhalten und sich ihr zu stellen, ist eine große emotionale und kognitive Herausforderung. Sie kann aber helfen zu erkennen, woher sich Ängste speisen.

Angst kann sehr real sein, ausgelöst zum Beispiel durch terroristische Attacken, Kriminalität, sexuelle Übergriffe, die sich alle in den letzten Jahren auch tatsächlich mit ins Land gekommenen Migranten verbinden lasse. Gleichzeitig haben ja migrantische Menschen in diesem Land vor genau den gleichen Dingen Angst. Oder glauben Sie, dass ein muslimischer Vater keine Angst davor hat, dass seine Tochter sexuell belästigt oder gar getötet wird – was ja leider schrecklicherweise in Illerkirchberg passiert ist. Genauso kann eine islamitische Terrortat auch geflüchtete Familien auf einem Weihnachtsmarkt treffen. Ob dies im Gegenzug bei diesen Personengruppen zu Muslimfeindlichkeit oder Flüchtlingsfeindlichkeit führt und mit Angst begründet wird, wäre eine Frage, der es sich lohnt nachzugehen.

Wer sollte Ihr Buch insbesondere gelesen haben?

Dadurch, dass das Buch ja eine Essaysammlung ist, ist es sehr zugänglich. Es kann sowohl in Schulen gelesen werden, als auch im Zug, von jungen Menschen und älteren. Für diejenigen, die als Erwachsene das letzte Jahrzehnt durchlebt haben, erzeugt das Buch viele Aha-Momente, weil es zentrale Diskurse und Ereignisse der Zeitgeschichte reflektiert. Für junge Menschen, die in der Zeit noch Kinder waren, ist es vielleicht hilfreich zu erkennen, dass sich viele Debatten wiederholen und sie können sich so Argumente für heute in dem Buch suchen. Es zeigt aber auch auf, dass sich Diskurse verändern. Sie können also alte und neue Argumente finden.

Hätten Sie Ihr Buch mit dem Kapitel “Es wäre einmal deutsch” enden lassen, hätte das etwas von einem “Happy End”. Besonders mit den Worten Ihres Vaters: “Sie sind jetzt so nett wie die Ausländer, und die Ausländer sind so organisiert wie die Deutschen?! Das ist ein gutes Land. Schade, dass ich so alt bin. Früher war nicht so.” Sie haben sich aber bewusst dagegen entschieden.

Es gibt kein Happy End, denn gesellschaftliche Veränderungen enden ja nicht, sie gehen immer weiter. Rückschläge und Krisen müssen dabei nicht unbedingt dysfunktional sein – so lautet zumindest die Simmelsche Konflikttheorie: Gesellschaften erneuern sich durch Konflikte. Und zum Happy End: Nach Happy Ends lernen wir nicht weiter, wir ruhen uns auf dem vermeintlich Gelerntem aus. Aktuell hat niemand das Gefühl, dass es sich gerade besonders positiv anfühlt über eine Gesellschaft zu sprechen, die durch Migration geprägt ist. Schon gar nicht, wenn man selbst migrantisch ist. Es ist eher das Gefühl da, als wären wir mal weiter gewesen als jetzt.

Mit der AfD als einer offen antimigrantischen, antimuslimischen, spaltenden und gehässigen Partei fühlt sich auch das, was mein Vater damals geäußert hat, als er hier in einem Impfzentrum war und von der Organisation und den Mitarbeitenden so begeistert war, an, als wäre es in einer lange vergangenen Zeit gewesen. Der Titel, “Es wäre einmal deutsch” ergibt also auch vor diesem Hintergrund Sinn. Deutschland war schon mal weiter als heute. Die Ungleichheitskrisen der Zeit, der Krieg, die Umweltangst, alles das bündelt sich in Abwehr und rassistischen Ressentiments gegen Menschen, denen es noch schlechter geht. Das ohnmächtige Gefühl, an die Schuldigen nicht heranzukommen, lenkt die Bestrafungssehnsucht um, auf Unschuldige. Das fühlt sich nicht gut an. Es geht in dem Buch auch darum, dieses Gefühl in der Simmelschen Tradition in Konflikte zu überführen, durch die wir uns als Gesellschaft progressiv erneuern.

Wo sehen Sie noch besonderen Handlungsbedarf?

Es ist ein Problem, wenn zunehmend mehr Menschen sich davor sperren, mehr zu wissen. Sei es Corona, Klimafolgen, Geschlechterwandel oder humanitäre Rechtslagen. Die Abwehr gegenüber Wissen und Wissenschaft nimmt zu. Nicht nur in Deutschland. Ich bin aktuell in den USA und da nimmt das schon bedenkliche Züge an. Vor allem Wissen über Rassismus, über Geschlechtergerechtigkeit, und historisch ungerechtes politisches Handeln, das in den Strukturen von heute nachhallt, wird in Frage gestellt und aus dem Bildungskanon der Schulen verbannt. Wir sehen ja, wie teilweise auch in Deutschland Debatten um Gender, Impfung, Grenzschutz, Flucht und Asyl, oder um unterschiedliche kulturelle Sinnstiftung so abgetan werden, als gründeten progressive Zugänge entweder auf naivem humanistischen Gutmenschentum oder aber, als sei das ein gefährliches infiltriertes Wissen irgendwelcher abgekoppelter Eliten, die die Gesellschaft re-ingenieuren wollen.

Dabei sind Diversitätsoffenheit, Antirassismus oder Willkommenskultur keineswegs nur Positionen, die in bürgerlichen Schichten favorisiert werden. Im Gegenteil, wir müssen hier gut hinschauen: Gerade aus bürgerlichen Schichten wird sich oft hinter dem angeblichen Rassismus des “kleinen Mannes” versteckt. Da wird die eigene Diversitätsskepsis damit begründet, dass das ja nicht mehrheitsfähig sei und über die Köpfe der “wahren” Deutschen oder des Volkes hinweg ginge. Ich sehe hier Handlungsbedarf, dieses Narrativ zu sprengen.

Sehr viele dörfliche Regionen, viele ältere Menschen, Konservative oder auch jene, die nicht mit goldenen Löffeln geboren sind, haben im Sommer der Migration ihre Häuser geöffnet und sind bis heute in der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit aktiv. Heute tun alle so, als sei das nur eine Minderheit und die radikalen Migrationsfeinde seien eigentlich die Mehrheit. Das stimmt empirisch so nicht. Ich sehe Handlungsbedarf darin, die Stimmen dieser leiseren, aber humanitären Mehrheit hörbarer zu machen. Wir müssen auch das Wissen darüber steigern, dass die Abwehr gegenüber Migration zunimmt, je stärker die Aufstiege von Migrant:innen und deren Nachkommen sichtbar werden. Hier entsteht eine Privilegien- und Statusangst, die auch aus dem bürgerlichen Milieu kommt und für die es gilt stärkere Aufmerksamkeit zu schaffen, denn dieses Milieu stellt zu großen Teilen politische Entscheidergruppen und reflektiert die eigene Abwehr nicht beziehungsweise versteckt sie hinter der Annahme, im Namen der vermeintlichen Mehrheit zu entscheiden.

Es wird an vielen Stellen deutlich, dass sich in den vergangenen Jahren viel verändert hat. Welche Entwicklung sehen Sie als besonders positiv an?

Ich sehe vor allem die Gesetzesinitiativen als positiv an. Da hat sich sehr viel getan in diesem postmigrantischen Jahrzehnt, in dem die Frage nach der Rolle von Migration und von Migrant:innen sehr stark gesellschaftspolitisch ausgehandelt wurde. 2012 zum Beispiel gab es die Blue Card EU, die akademische Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen erleichterte; im gleichen Jahr gab es ein Berufsqualifikationsanerkennungsgesetz – sehr bürokratischer Name, aber ich selbst kann mich noch erinnern, wie viele unserer iranischen Bekannten früher Taxifahrer werden mussten, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt wurden. Dieses Gesetz war ein großer Schritt. 2013 wurden dann auch Zuwanderungsmöglichkeiten für Menschen mit qualifizierter Berufsausbildung erleichtert. Das war dann der Vorläufer des heutigen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, das gerade verabschiedet wurde und Deutschland endgültig zum internationalen Einwanderungsland macht.

2014 wurde der Arbeitsmarktzugang für die meisten Geflüchteten massiv erleichtert, 2015 die Westbalkanregelung, 2022 das Chancenaufenthaltsrecht und auch die Möglichkeit der Mehrfachstaatsbürgerschaft. Es hat sich also sehr viel getan in diesem Jahrzehnt. Und auch wenn es sich grade nicht so anfühlt: Dem Aufstieg der Rechtspopulisten und der Abwehr von Diversität steht trotzdem noch ein großer Teil der Bevölkerung gegenüber, der in den vergangenen Jahren für eine offene, plurale Gesellschaft gekämpft hat, denken wir nur an die gigantische Mobilisierungswelle 2018 mit der Unteilbar-Demo in Berlin, an der 250.000 Menschen teilgenommen haben, um für ein weltoffenes Deutschland Flagge zu zeigen. Und spätestens seit den rassistischen Morden in Kassel, Halle und Hanau lässt sich eine verstärke öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus beobachten. Und auch hier zeigt sich, dass ein Großteil der Bevölkerung sich mit diesem Thema beschäftigt und es als Bedrohung der Gesellschaft versteht.

Sie haben die Entwicklung der vergangenen zwölf Jahre mit eindringlichen Fakten und Beobachtungen in Ihr Buch integriert. Zudem wird an einigen Stellen, besonders in dem Kapitel “Migrantisches Gold”, deutlich, wie die zukünftige Entwicklung aussehen könnte. Wenn sich in einer Fortsetzung Ihres Buches die Jahreszahl 2030 finden würde: Was denken Sie, würden sich für Aussagen auf dieser Seite finden?

Im Moment sehe ich zwei mögliche Szenarien. Sie spielen sich sogar zeitgleich ab und lagern zwischen den Polen “Migrationsbedarf und Migrationsmüdigkeit”. Das macht die postmigrantische Gesellschaft so ambivalent: Sehr unterschiedliche, ungleiche Dinge, die sich teilweise fundamental widersprechen, passieren zur gleichen Zeit. Ernst Bloch hat das als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beschrieben. Durch den akuten Bedarf an Arbeitskräften – und damit sind sowohl qualifizierte Fachkräfte als auch ungelernte Arbeitskräfte gemeint, denn beide werden für die deutsche Standortsicherung benötigt, denken Sie nur an die Gastronomie oder die Logistik an Flughäfen – können wir einen Paradigmenwandel erwarten, der Migration deutlich stärker wertschätzt. Das aktuell verabschiedete Fachkräftezuwanderungsgesetz ist hier ein Beispiel. Gleichzeitig ist eine hohe Migrationsabwehr zu erkennen, die sich vor allem gegen Geflüchtete richtet. Dafür steht wiederum die Entscheidung zur geplanten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die das Recht auf Asyl massiv einschränkt. Die Hälfte der Flüchtenden soll mit schnellen Grenzverfahren daran gehindert werden, in die EU zu gelangen. Dafür werden auch Lager für Familien in Kauf genommen.

Diese beiden Gruppen – Arbeitskräfte und Flüchtende – sind aber nicht vollkommen isoliert voneinander zu betrachten. Viele Fachkräfte von heute sind mal als Geflüchtete gekommen oder als Kinder von Geflüchteten. Ich spreche hier auch aus persönlichen biographischen Erfahrungen. Wenn ich also für 2030 sprechen soll, dann könnte ich aus der heutigen Linse, Stand Sommer 2023, entweder ein Alcatraz-Szenario beschreiben, in dem Europa an seinen Grenzen Gefängnisse aufgebaut hat und rund um den Kontinent Staaten finanziert, die ihre autoritären Strukturen mit europäischem Geld sichern werden. Irgendwann werden diese Staaten dann wie Russland, die Abhängigkeit Europas erkannt haben und unkontrollierbar sein.

Ich könnte auch das andere Szenario beschreiben, in welchem in den nächsten Jahren die EU zur Besinnung kommt und erkennt, dass genauso wie das Bestreben irgendwann atomare Aufrüstungen zurückzufahren, die weltdestruktiv ist, die Frage der Grenzen – als möglicherweise zukunftsdestruktiv – neu überdacht werden müsste. Nicht, dass es gar keine Grenzen mehr geben sollte. Die Staaten haben ein Recht auf Registrierung und das Wissen, wer sich wo aufhält, aber Registrierung und dennoch offenere Grenzen sind gleichzeitig möglich. Das würde einen weltweiten Arbeitskräfteflow ermöglichen, ohne dass die Familien ihre Herkunftsorte verlassen müssten. Ich spreche jetzt nicht von Krisen- oder Kriegsorten. Das Geld, das hier erwirtschaftet würde, könnte den Status der Familien im Heimatland stärken, Mobilität würde zur Kapitalerwirtschaftung an zwei Standorten beitragen und die offenen Grenzen würden den Druck nehmen, nie wieder ein- oder ausreisen zu können. Das ist schwer mit dem bestehenden Sozialsystem in Einklang zu bringen. Hier müsste mit den Herkunftsländern verhandelt werden, ob vergleichbare Sozialsysteme aufbaubar wären, und wer sagt, das wäre absurd und utopisch vergisst, dass aktuell mit genau den Ländern verhandelt wird, wie sie Gefängnisse, Kontroll- und Grenzsysteme aufbauen.

An einigen Stellen beziehen Sie sich auf Thilo Sarrazins Aussage, Deutschland würde sich abschaffen. Sie drehen den Spieß um und schreiben davon, dass das Land sich keine “Sarrazins und Co.” mehr leisten könne, wenn es sich nicht abschaffen wolle. Und dass “Deutschland nicht mehr Deutschland bleiben wird”, wenn wir nicht smart und vorausschauend denken, sondern uns von rassistischer Panik treiben lassen. Wie muss diese Migrationspolitik aussehen, damit das Land vom “migrantischen Gold” profitieren kann? Aber sich die Menschen hier auch wertgeschätzt und wohl fühlen? Also kurz: damit sich Deutschland nicht abschafft?

Den allermeisten Menschen ist klar, dass es ohne Migration nicht mehr weitergeht. Zentrale Strukturelemente brechen sonst weg und ich meine damit nicht nur den Pflegesektor. Bis 2036 geht die Hälfte der deutschen Verwaltung in Rente, Lehrkräfte fehlen überall, ich muss das nicht wiederholen. Es wird aber nicht funktionieren, wenn wir Migrant:innen nur unter einem utilistaristischen Gesichtspunkt als verwertbare Arbeitskräfte ins Auge fassen. Wir brauchen hier ein postmigrantisches Narrativ, das die binäre Festschreibung in Migranten und Einheimische aufbricht und dahinter das gemeinsame, vielfältige Ganze beschreibt, das in Teilen bereits da ist und sich weiterentwickelt.

Ganz abgesehen davon, dass bis 2036 möglicherweise schon fast die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland selbst migrantische Biografien haben wird – zumindest bei den jungen Menschen. Die deutsche Kerngesellschaft verändert sich also. Dazu gehören zunehmend Menschen, deren Ahnen nicht schon immer deutsche waren. Sie fordern heute, das Land gleichberechtigt mitzugestalten. Wenn wir aus dem heutigen reaktionären Tal herausfinden wollen, wo immerfort suggeriert wird, man könne auch ohne Migrant:innen oder man könne sie sich aussuchen wie in einem Einkaufsladen, dann wäre ein Schritt schonmal, sich zu erinnern, dass die Vielfalt, die wir heute bereits leben, dieses Land weitergebracht hat als die Homogenitätspolitiken, die Deutschland schon einmal an den Abgrund geführt haben.

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