München: Über das Zusammenleben mit Geflüchteten aus der Ukraine – München

Die Hilfsbereitschaft der Münchner ist groß. Viele haben geflüchtete Ukrainer bei sich zu Hause aufgenommen. Manches Angebot war nur für ein paar Tage gedacht, andere Gastgeber haben sich auf eine längere Zeit eingestellt. Aber nicht immer ist die Situation einfach. Sieben Beispiele.

“Wir gehen so vorsichtig wie möglich mit ihr um”

Anna Osann: Seit Anfang März wohnt eine junge Frau in unserem kleinen Gästezimmer. Sie ist 19 Jahre alt und allein von Odessa nach München gekommen. Ihr Vater hat sie losgeschickt, sie wollte das eigentlich nicht. Ihre Mutter ist anscheinend schon länger tot. Ich weiß nichts Genaueres darüber, und ich will sie nicht mit Fragen belästigen, die ihr weh tun könnten. Wir gehen so vorsichtig wie möglich mit ihr um. Sie ist sehr still und zurückhaltend, freut sich über eine Tasse Tee, aber essen will sie so gut wie nie mit uns. Wenn wir sie fragen, hören wir fast immer nur: “Nein, danke.” Diese beiden Wörter hat sie schnell gelernt. Ansonsten kommunizieren wir über eine Übersetzungs-App.

Inzwischen haben wir für das Essen eine Lösung gefunden: Wir bringen ihr den Teller, sie isst dann in ihrem Zimmer. Ich glaube, es ist ihr eher unangenehm, Hilfe anzunehmen. Einmal hat sie als Dankeschön gebratene Spaghetti mit Gemüse gekocht. Das war ein schöner Moment.

Ich weiß, dass die junge Frau große Angst um ihren Papa hat. Wenn sie mit ihm telefoniert, ist sie fröhlich, fast euphorisch. In einer Wohnung bekommt man ja viel voneinander mit. Auch Krisen. Sie war sehr schockiert und traurig, als sie erfuhr, dass eine befreundete Familie auf der Flucht umgekommen ist. Vier Menschen tot. Sie kam weinend aus dem Zimmer. Ich habe sie spontan in den Arm genommen und versucht, sie zu trösten. Jetzt habe ich große Sorge, dass ihrem Vater etwas zustößt.

Ich habe eine Wohnung organisiert, die sie ab Mai mit zwei Frauen und deren Kindern teilen wird. Dass sie für die erste Zeit einen Rückzugsort hatte, war bestimmt wichtig für sie, viel besser als in einer Turnhalle. Jetzt besorge ich ihr Sachen für die Wohnung: Bettzeug, Vorhänge, einen Teppich. Ich fühle mich verantwortlich und das wird sicher so bleiben.

“Ich kann mir nicht vorstellen, sie vor die Tür zu setzen”

“Wir leben inzwischen wie eine Großfamilie”, sagt Ursula Peschers-Maus (rechts). Sie hat Olena Ivanova mit ihren Kindern Marina Elovikova und Roman Elovikov aufgenommen.

(Foto: Florian Peljak)

Ursula Peschers-Maus: Jemand Fremden bei sich zu Hause aufzunehmen, das ist schon nicht ganz so einfach. Wir haben immerhin ein bisschen Platz. Wir leben in einem Haus in Trudering und können zwei Zimmer für eine Weile abtreten. Seit Ende März wohnt eine Mutter mit ihren drei Kinder bei uns. Sie sind elf, zwölf und 17 Jahre alt. Der Vater ist in Odessa.

Da ich Vollzeit berufstätig bin, hat mein Mann ziemlich viel organisiert. Er ist schon in Rente. Auf das Sozialamt gehen und Anträge ausfüllen, dafür braucht es Zeit und Geduld. So etwas macht alles mein Mann. Er hat auch die Schulplätze gefunden. Die jüngeren Kinder gehen jetzt in ganz normale Klassen einer Mittelschule. Der ältere hat weiterhin Online-Unterricht an einer Berufsschule in Odessa.

Wir leben inzwischen wie eine Großfamilie. Wir kochen abwechselnd, decken den Tisch und essen am Abend zusammen. Leider ist die Verständigung schwierig, weil nur der älteste Sohn ein bisschen Englisch kann. Glücklicherweise habe ich eine Kollegin, die Russisch spricht. Die habe ich schon einige Male gebeten, zu übersetzen und zu vermitteln. Sie hat unseren Gästen zum Beispiel erklärt, dass uns Mülltrennung wichtig ist und wie wir das machen. Und dass die Schule um acht Uhr und nicht um zehn nach acht beginnt.

Wie lange unsere Gäste bleiben, ist völlig unklar. Vielleicht bis zu den Sommerferien? Sie wollen wieder zurück nach Hause. Ich kann mir nicht vorstellen, sie vor die Tür zu setzen, wenn das nicht so schnell klappt.

“Ich bin erschöpft, und zwar so sehr, dass ich nicht mehr schlafen kann”

Rhea Marstaller und Basil Karadais: Mein Partner und ich haben eine Mutter, ihren 14-jährigen Sohn und deren kleine Hündin bei uns aufgenommen, in einer 70-Quadratmeter-Wohnung im Lehel. Bei der Vermittlung haben wir für “ein bis zwei Wochen” angegeben. Die drei sind nach wie vor bei uns, wir suchen, aber finden keine Wohnung für sie. Mit den rund 300 Euro, die unsere Gäste monatlich vom Sozialamt bekommen, gibt es keine Chance, dass sie selbst eine Wohnung mieten können, selbst dann nicht, wenn die Stadt bis zu 906 Euro der Kaltmiete übernimmt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Unsere Gäste sind lieb und höflich, ihre Tapferkeit in dieser schlimmen Situation berührt mich zutiefst.

Nichtsdestotrotz ist die Situation auf Dauer nicht handhabbar: Mein Partner und ich schlafen auf dem Sofa, unsere Klamotten sind in Ermangelung eines Kleiderschranks auf dem Boden aufgetürmt. Der Teenager und seine Mutter teilen sich ein Doppelbett im Nebenzimmer. Wir arbeiten zu 100 Prozent im Home-Office, und unsere Gäste verbringen ebenfalls einen Großteil der Zeit in der Wohnung. Das heißt, wir sitzen hier seit sechs Wochen aufeinander, beinahe den ganzen Tag. Die zig Anträge, die es für unsere Gäste auszufüllen gilt, füllen überwiegend mein Partner und ich aus, unsere Gäste sprechen kein Deutsch. Auch Ämtergänge zählen zu unserem Standard-Programm.

Ich bin erschöpft, und zwar so sehr, dass ich nicht mehr schlafen kann. Es ist eine psychische und physische Belastungssituation. Viele Menschen und Institutionen scheinen davon auszugehen, dass die Gastgeber nun selbstverständlich dauerhaft zur Verfügung stehen. Bin ich ein Unmensch, wenn ich eine bessere Lösung für uns und unsere Gäste anstrebe? Muss ich mich moralisch schlecht fühlen, wenn ich meine auf zwei Personen zugeschnittene Wohnung nicht dauerhaft zu viert teilen möchte? Sind wirklich wir Privatleute jetzt verantwortlich für das Glück oder Leid der Menschen aus der Ukraine? Sollten sich nicht vielmehr Ämter und Behörden um zügige, pragmatische Lösungen bemühen, die auch dann funktionieren, wenn dieser Krieg Jahre dauern sollte?

“Ich habe ein bisschen Bammel, wie es weitergeht mit ihnen”

Geflüchtete aus der Ukraine: "Ich weiß, ich rette die Welt nicht damit. Aber hilft man den Tieren, hilft man auch den Besitzerinnen", sagt Christina Sasse. Sie hat zwei ukrainische Katzen bei sich aufgenommen.

“Ich weiß, ich rette die Welt nicht damit. Aber hilft man den Tieren, hilft man auch den Besitzerinnen”, sagt Christina Sasse. Sie hat zwei ukrainische Katzen bei sich aufgenommen.

(Foto: Robert Haas)

Christina Sasse: Über die Nachbarschaftsplattform nebenan.de hatte ich gehört, dass Pflegestellen für ukrainische Katzen gesucht werden. Am 8. März fuhr ich abends zum Euro-Industriepark, es war bitter kalt, und dann hatte ich auch schon Tiffany und Buffy in meinem Auto. Es sind zwei Schwestern, europäische Kurzhaar-Katzen, schwarz-weißes Fell, fünf Jahre alt. Sie gehören einer Mutter und ihrer Tochter aus Kiew, die mit 28 Katzen über Polen nach München kamen. Eine Woche waren sie unterwegs. Die Tiere waren in Reiseboxen untergebracht und machten einen gepflegten Eindruck. Ich glaube, die Besitzerinnen hatten die Katastrophe kommen sehen und schon früh diese Flucht vorbereitet. Die beiden leben jetzt bei Verwandten in Franken, wohin sie die Katzen nicht mitnehmen konnten, aber sie erkundigen sich regelmäßig nach ihnen.

Am ersten Tag bei mir waren die Tiere ziemlich durch den Wind. Sie fanden keine Ruhe und sind alle paar Minuten aufgesprungen. Am zweiten Tag waren sie wie ausgeknipst und haben nur noch geschlafen. Jetzt haben sie sich eingewöhnt und sind total verspielt. Sie drehen mir die Wohnung auf links, Teppiche fliegen durch die Gegend, kaputt gemacht haben sie bislang aber nicht viel. Mir ist klar, sie aufzunehmen ist nur ein Minibeitrag in dieser schlimmen Situation. Ich weiß, ich rette die Welt nicht damit. Aber hilft man den Tieren, hilft man auch den Besitzerinnen. Meine eigenen zwei Katzen leben momentan bei meinen Eltern. Ich habe ein bisschen Bammel, wie es weitergeht mit ihnen. Bis zum Sommer können sie auf jeden Fall bei mir bleiben, aber nicht für immer, auch wenn ich sie bestimmt vermissen werde. Vier Katzen wären mir auf Dauer zu viel.

“Sie wollen uns so wenig wie möglich belasten”

Geflüchtete aus der Ukraine: "Unser Familienrat hatte sich für die Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen", sagt Cornelia Kallert, hier mit ihren drei Kindern.

“Unser Familienrat hatte sich für die Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen”, sagt Cornelia Kallert, hier mit ihren drei Kindern.

(Foto: privat)

Cornelia Kallert: In unserer Doppelhaushälfte gibt es im Souterrain ein Zimmer mit Kochnische und Bad. Das haben wir über eine Freiwilligen-Plattform angeboten, weil wir dachten: Uns geht es gut, wir wollen helfen. Mein Mann und ich dachten an eine Mutter mit einem Kind als Gast. Aber drei Tage später kam schon der Anruf, ob wir nicht eine ganze Familie aufnehmen könnten, es wäre dringend. Jetzt sind wir zu dreizehnt. Also unsere drei Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren, die ukrainische Familie mit zwei Kindern, unser Au-pair-Mädchen aus der Türkei, und zwei Katzen und ein Hund.

Am ersten Abend hätten wir sie zum gemeinsamen Essen eingeladen, aber sie haben abgelehnt. Sie sind wohl ein wenig stolz und wollen uns so wenig wie möglich belasten. Sie hatten ein gesetteltes Leben in der Ukraine. Der Mann war Bauleiter, die Frau in der Kosmetik-Branche sogar Innungschefin. Sie findet es toll, dass ich auch Vollzeit arbeite, sie ist die kommunikativere in der Familie, will mir zum Dank die Haare machen. Ihr Mann hatte eine schwere Rückenverletzung, die noch nicht ausgeheilt ist. Deshalb ist er auch wehruntauglich.

Wir haben einen zweiten Raum im Untergeschoss frei geräumt, damit sie zwei Schlafzimmer haben, aber sie wollen weiterhin zu viert in einem Raum schlafen. Sie kommen nicht oft heraus, wir klopfen dann, bringen Kuchen, kein Mensch kann immer im Souterrain leben. Vor allem der 16-jährigen Tochter fällt das Leben hier schwer. Sie verlässt das Zimmer kaum und ist eher scheu.

Unser Familienrat hatte sich für die Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen, unter der Voraussetzung, dass der Osterurlaub auf dem Bauernhof stattfindet. Wir haben Ferien gemacht, und unsere Gäste das Haus gehütet und im Gewächshaus im Garten die Pflanzen gegossen. Sie haben sich gefreut, dass wir uns so frei fühlen, zu gehen.

“Wie es jetzt für sie weitergeht, wissen wir nicht”

Lukas Maier (Name von der Red. geändert): Ich hatte eine Mutter mit zwei Töchtern aufgenommen. Leider hat ihr Aufenthalt in München ein abruptes Ende genommen. Ich bin immer noch bestürzt darüber, was passiert ist. Die drei haben in meiner Wohnung gewohnt und ich bin zu meiner Freundin gezogen. Wir waren mit ihnen spazieren, haben Ausflüge gemacht, wir haben den Tierpark besucht. Die Mutter hat für uns Borschtsch gekocht, den wir zusammen gegessen haben.

Über die Wochen sind uns die drei richtig ans Herz gewachsen. Ich glaube, die Mutter hat immer sehr unabhängig gelebt. Sie wäre sehr gerne in eine eigene Wohnung gezogen. Wir haben uns für sie umgesehen. Die Wohnsituation bei mir war ja nicht für die Ewigkeit gedacht.

Eines Abends kam dann ein Anruf von der Mutter. Sie hatte Panik in der Stimme. Ich dachte erst, es wäre etwas kaputtgegangen. Ich bin zu ihr gefahren und da standen die drei mit ihren gepackten Koffern und wollten sofort weg. Die Mutter hatte über eine Dating-Plattform Kontakt zu einem Mann aus München bekommen. Er sprach anscheinend Russisch. Er hatte ihr Hoffnung auf ein Haus gemacht. Als sie sich nicht auf ihn einlassen wollte, hat er ihr gedroht, sie zu holen. Tatsächlich stand er einige Tage später vor meiner Wohnungstür. Da waren unsere Gäste schon weg. Sie sind mit dem Flixbus zurück in die Ukraine gefahren. Wir haben den Vorfall der Polizei gemeldet, die uns berichtet hat, dass diese sogenannte Loverboy-Methode leider kein Einzelfall ist. Wir haben noch Kontakt, aber wie es jetzt für sie weitergeht, wissen wir nicht.

“Ich freue mich, dass sie bei mir sind”

Rafaella Fabris: Auf der Galerie, wo ich sonst bei mir zu Hause arbeite, habe ich eine breite Matratze ausgelegt. Dort schlafen jetzt eine Oma und ihre Enkelin aus Charkiw. Mein Schreibtisch steht jetzt im Schlafzimmer. Obwohl meine Wohnung nicht groß ist, sehe ich meine Gäste relativ wenig. Zu Hause sind sie die meiste Zeit für sich oder sie gehen spazieren. Wenn Milena und ihre Oma aufstehen, dann arbeite ich in der Regel schon. Und wenn sie abends kochen, dann liege ich oft schon mit meiner kleinen Tochter im Bett. Ich lebe meinen Alltag weiter, doch natürlich fühlt man sich nicht mehr ganz so frei zu Hause. Aber ich freue mich, dass sie bei mir sind.

Bei dem Freiwilligen-Verein hatte ich angegeben, dass ich jemanden für vier Wochen aufnehmen könnte. Ich war mir unsicher, wie ich das den beiden kommunizieren sollte. Aber jetzt hat sich geklärt, dass sie in ein Zimmer mit eigener Küche ziehen können. Dort dürfen sie so lange bleiben, wie sie wollen.

In den Münchner Bürgerbüros hatten bis zum 28. April 13 311 Geflüchtete aus der Ukraine in München ihren Wohnsitz angemeldet. Bis zum selbem Tag hat die Ausländerbehörde München 3157 Aufenthaltstitel erteilt, die eine Arbeitserlaubnis beinhalten.

“Münchner Freiwillige”

Viele Menschen leben derzeit noch in privaten Unterkünften und sind auf der Suche nach einer festen Bleibe. Etwa 8700 ukrainische Geflüchtete hat der Verein “Münchner Freiwillige” vermittelt. Über dessen Webseite kann Wohnraum und auch Mithilfe angeboten werden. Kurz nach Kriegsbeginn und im März sei die spontane Hilfsbereitschaft der Münchnerinnen und Münchner enorm gewesen, sagt eine Sprecherin des Vereins. Mittlerweile könnte man ein paar helfende Hände mehr gebrauchen.

Die Stadt stellt derzeit knapp 2000 Betten in Sammelunterkünften zur Verfügung. Dazu 300 Schlafmöglichkeiten in Hotels für sogenannte vulnerable Gruppen. Damit sind Schwangere, Mütter mit sehr kleinen Kindern oder Menschen mit körperlichen Einschränkungen gemeint. Mittlerweile kommen sehr viel weniger aus den Kriegsgebieten am Münchner Hauptbahnhof an. Bis zum 19. März war die Zahl noch vierstellig. Jetzt sind es nur noch etwas über 200 Geflüchtete.

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