Masuren: eine Reise auf den Spuren von Marion Gräfin Dönhoff

1941 durchmaß Marion Gräfin Dönhoff auf ihrem Braunen das herbstliche Masuren, ihre Heimat, aus der sie bald fliehen musste. Heute kann man ihren Spuren folgen. Na dann: Hü!

Von Beatrix Gerstberger

Mit jener Gewissheit, mit der man nur Wunder erwartet, seien sie losgeritten, schrieb Marion Gräfin Dönhoff ihrem Bruder Dietrich. Zwei Frauen, zwei Pferde, fünf Tage, 200 Kilometer. Von Allenstein, nahe dem Dönhoffschen Gut Quittainen, bis nach Steinort, dem Schloss der Familie Lehndorff, ritten Marion und ihre Cousine Sißi im September 1941 durch Ostpreußen. Sie durchquerten dieses weite, stille Land mit seinen 2700 Seen, das Dönhoff nur dreieinhalb Jahre später auf der Flucht vor der russischen Armee verlassen würde. “Es ist unsagbar schön, auf diesem sandigen Boden zu traben, das Laub raschelt unter den Hufen – Buche und Eiche wechseln, dazwischen steht dann und wann eine Linde oder der rote Schaft einer Kiefer.”

82 Jahre später sind wir drei Frauen und vier Männer, die insgesamt 235 Kilometer reiten: durch Dörfer, in denen Holunder, Kornblumen und Heckenrosen aus den Gärten rund um verwitterte Holzhäuser quellen, vorbei an Storchennestern, schilfbewachsenen Seen und durch lichte Birkenwälder. Auf alten Eichenalleen, aber auch über neue vierspurige Straßen inmitten eines Nirgendwo, an deren Rand alle fünf Meter eine Laterne steht. “EU-Gelder”, sagt Tadeusz Żebrowski, 68, unser Reitführer.

eine Gruppe von Reitern auf einem Trampelpfad

Trabgesellschaft: unterwegs zwischen Piaski und Mikołajki

© Melanka Helms

Es sind seine Pferde, robuste polnische Malopolskas, auf denen wir sitzen. Wir sind zwischen 50 und 79 Jahre alt und suchen eine längst verloren geglaubte Landschaft und eine Ahnung von der bewegten Geschichte einer Gegend, die jahrhundertelang zu Ostpreußen gehörte. Aus den Adelsfamilien der von Lehndorffs, zu denen auch Marion von Dönhoff indirekt gehörte, kamen Widerstandskämpfer gegen Hitler. In ihrem Buch beschreibt sie diese für sie so heile Welt aus Wäldern und Seen, aber sie ahnte schon auf diesem Ritt, dass sie ihre Heimat verlieren würde. Denn Soldaten, militärische Transporte begegneten den beiden Frauen unterwegs immer wieder.

Es ist September 1941, der Krieg ist an allen Grenzen. Dönhoff, 31, schreibt: “Man nimmt eigentlich immerfort Abschied, nicht nur von Menschen – von allem, was man liebt …” Über die letzte Konfirmation in der Dorfkirche von Quittainen heißt es: “Mir wurde plötzlich klar, dass keiner dieser Jungen, wie doch all ihre Väter, noch einmal vor diesem Altar stehen würde und dass es das Los der meisten kleinen Mädchen sein werde, allein zu bleiben.”

Die Dörfer Masurens tragen heute polnische Namen, aber die Landschaft ist geblieben, die Wälder, das Heidekraut, die Sandwege. Wir hören die Schreie der Kraniche, die über uns hinwegziehen, riechen das welke Laub, das die Hufe unserer Pferde hochwirbeln. Es ist seltsam, den Ritt in einer Zeit zu wiederholen, in der erneut die Angst vor dem russischen Nachbarn umgeht, in der Männer Bunker unter ihre Häuser bauen, ukrainische Flüchtlinge in den Hotels arbeiten, in denen wir wohnen, und in der auf den Speisekarten in Restaurants nun “ukrainische Piroggen” stehen.

Hof-Land: Viele alte Gutshäuser sind heute Raststätten und Unterkünfte

© Melanka Helms

Über den Sand

In der Nacht, bevor es losgeht, wohnen wir in einem alten Forsthaus in Kruklanki. All die dampfenden Schüsseln passen kaum auf den langen Holztisch. So wird es von nun an jeden Abend sein. Wir essen uns auf dieser Reise durch die masurische Küche, mal von Schwestern in einer kleinen Unterkunft zubereitet, mal von einem ehemaligen Manager, der sein Glück auf einem einsamen Hof sucht, mal von einem Hotelkoch. Knödel, Gulaschsuppe, Kohlwickel, eingelegte Rote Bete, mit Sauerkraut und Pilzen gefüllte Piroggen und zum Nachtisch Walderdbeeren oder mehrstöckige Torten.

Graugänse sammeln sich auf den Feldern zum Flug in den Süden, als wir am ersten Morgen den Hof von Tadeusz erreichen. Er hat in Deutschland gearbeitet und irgendwann festgestellt, dass das, was er wirklich liebt, die Pferde sind und das Reiten durch die Wälder in seiner Heimat. Und weil auf diesen Touren viele Dorfbewohner von der Gräfin auf ihrem dicken Braunen und ihrer Cousine auf dem leichtfüßigen Fuchs erzählten, weil diese beiden Frauen so allgegenwärtig auch nach so langer Zeit waren, besorgte er sich das Buch und begann, die alten Wege und Orte zu recherchieren.

Manches hatte sich verändert. Sand war zu Asphalt geworden, Felder zu dunklen Fichtenwäldern, Forsthäuser, in denen sie schliefen, waren verfallen, aus Lichtungen waren Gewerbegebiete geworden. Dennoch kommen wir dem Sehnsuchtsort der Gräfin unterwegs nahe. Uns geht es nicht um die Genauigkeit des Weges, sondern um die oft unberührte Landschaft. Noch heute können Reiter hier über kilometerlange weiche Sandwege galoppieren.

Unter der Führung von Tadeusz 32-jähriger Tochter Agata machen wir nach einem schnellen Frühstück die Pferde fertig. Tadeusz fährt mit dem Gepäck voraus zur nächsten Unterkunft. “Denkt dran, masurische Kilometer können lang werden”, ruft er, “ihr müsst schnell reiten, sonst ist es schon dunkel, bevor ihr ankommt.”

Auf den Spuren

Jeden Tag sitzen wir zwischen sechs bis neun Stunden auf unseren Pferden. Gespräche unter gestern noch Fremden werden schnell persönlich und nah. Abends sitzen wir noch vor dem Duschen bei einem Bier, eine verschwitzte Gemeinschaft, die sich im Leben zu Hause vielleicht so nie getroffen hätte. Eine Physikerin, ein Biologe vom Max-Planck-Institut, ein IT-Dienstleister, ein Germanist, ein Ingenieur. Der eine mit Lederhut, Jeans, Halstuch und dem immer gleichen T-Shirt, der andere im perfekten Reitkatalog-Outfit mit Wachsmantel und polierten Stiefeletten. Für uns gibt es nur die Landschaft, die Bewegungen des Pferdes, Gespräche und Schweigen, nichts, an dem sich die Gedanken verhaken.

Reitführer Tadeusz Żebrowski hat den Dönhoff-Trail entwickelt

© Melanka Helms

An einem anderen Tag steht Tadeusz aufgeregt an einer Waldweggabelung und deutet zwischen die Bäume. “Hier”, ruft er, “das ist genau der Weg, den Marion und Sißi genommen haben.” Über die Jahre sind die beiden Frauen für ihn zu Vornamen geworden, die er erwähnt wie Familienmitglieder. Die Stelle, die er meint, ist eine grasige Landzunge am Ufer des Ruciane, des Niedersees. Wir lassen die Pferde frei laufen, während wir unter dem hellgrünen Blätterdach der Birken auf dem Rücken liegen, Brote und aufgeschnittene Wildwürste essen.

Eines der Gebiete, durch die wir reiten, ist die Puszcza Piska, die Johannisburger Heide, eines der größten Waldgebiete Polens. Sie ist beliebt bei Pilzsammlern, fast 100 essbare Sorten gibt es hier. Wir dürfen diese Wälder nicht einfach mit einem Pferd betreten, sagt Tadeusz: “Polnischer Umweltschutz”, und er reckt die Hände klagend in den Himmel. “Dabei ist Pferd doch Natur. Mehr Natur geht nicht!” Viele Forstämter mussten ihre Zustimmung geben, dass wir durch ihren Wald reiten dürfen, und so hat Tadeusz einen Haufen Zettel mit Stempeln dabei. Aber niemand möchte diese Zettel sehen.

Unsere Pferde schlafen jede Nacht auf einer nahen Wiese, manchmal können wir sie aus unserem Zimmerfenster sehen, wie sie sich wälzen und schnauben. “Es ist so ein beseligendes Gefühl, so durch das herbstliche Land zu reiten, ganz leicht und beschwingt fühlt man sich, fern von aller heimatlichen Begrenzung und den Sorgen des Alltags”, schrieb Marion von Dönhoff. Und tatsächlich, je länger wir reiten, desto weiter entfernt sich alles, was sich zu Hause stapelt an Aufgaben und Sorgen und Leben. Wir halten unter Birnbäumen, pflücken saftige Birnen und lassen die Pferde von ihnen kosten. Morgens schwebt der Herbstnebel über den Wiesen, und wenn der Tag warm und der Himmel blau wird, riecht es nach Äpfeln am Straßenrand und nach Pflaumen.

Achtung: Elch!

Eine alte Frau reicht uns Mirabellen über den Zaun, Hunde laufen die Dorfstraßen neben uns her. Ein Elch tritt aus dem Gebüsch und betrachtet uns. Still bleiben wir stehen, die Pferde werden unruhig, da dreht er ab ins dichte Grün. Wir galoppieren über abgeerntete Felder, waten durch einen trägen Fluss. Am Abend kommen wir am Sniardwy, dem Spirdingsee, an, wo auch Marion von Dönhoff übernachtete. Hier ist es genauso, wie sie beschreibt: “Schöne alte Gebäude, ein kleines Gutshaus auf einer Landzunge, die weit in den See hineinragt. Ich habe in Ostpreußen noch nichts ähnlich Verwunschenes gesehen.”

Unsere vorletzte Unterkunft liegt inmitten von Wiesen in Małszewo. Es ist ein altes Fachwerk-Forsthaus, das ein ehemaliger Fernsehstar und Immobilienmogul aus Warschau restaurieren ließ. Wir sind die einzigen Gäste und wohl auch seine letzten, sagt er. Er will sein Gästehaus demnächst schließen, Zeit für etwas Neues. Unsere Satteldecken liegen schweißnass über dem Holzgeländer eines großen Balkons und trocknen in der Herbstsonne. In der Nacht umrunden die Hirsche das Haus, stehen auf dem Hügel hinter unseren Zimmern im Licht des Vollmonds und brüllen.

Vom Sattel auf den Steg: kurze Pause am Spirdingsee

© Melanka Helms

Das Buch der Gräfin ist nach den Tagen in der Satteltasche etwas abgegriffen. Jemand hat es über Nacht auf der Balkon-Veranda liegen lassen, es ist aufgeschlagen: “Wir reiten langsam im halbverkühlten Sonnenschein des Nachmittags gen Norden, vielfach ohne Weg, entweder unmittelbar am Wasser oder durch den hohen Bestand, der bis an das oft steil abfallende Ufer heranreicht. Die Sonne färbt die Kiefernstämme glühend rot und lässt das Buchenlaub in allen Schattierungen von leuchtendem Gold bis zum tiefen Kupferton erstrahlen. Unten liegt der See, eingefasst von einem Saum lichtgelben Schilfs. Herr Gott, wie schön diese Welt ist – sein könnte …”

Als die russische Armee 1945 anrückte, floh Marion Gräfin Dönhoff auf ihrem Trakehner Alarich von Quittainen nach Westfalen. Sie hat sich danach nie wieder auf ein Pferd gesetzt.

Tipps für Ihre Reise nach Masuren

  • Folwark Łuknajno:
    Das Gutshaus von 1918 liegt an einem See, die Zimmer sind im Landhausstil eingerichtet. Sehr gute regionale Küche. DZ/F ab 75 Euro, Mikołajki, Łuknajno 1, Tel. +48/874 21 68 62

     

  • Żabie Oko
    Ein ruhiger Ort, der sich auch für Familien eignet. Das ehemalige Forsthaus hat groß-zügige Zimmer, das Essen ist deftig und traditionell. DZ/F ab 54 Euro, Kruklanki, Jasieniec 9, Tel. +48/500 82 48 02
  • Hotel Marina Club
    Auf einer Halbinsel im See Jezioro Wulpińskie in der Nähe von Olsztyn liegt dieses schöne Hotel mit Garten, Wellness und eigenem Strand. Kajaks und Boote können gemietet werden. DZ/F ab 140 Euro, Olsztyn, Siła 100, Tel. +48/895 23 87 97

  • Bonobo
    Wer neben der oft fleischlastigen masurischen Küche etwas Veganes sucht, findet hier leckere Suppen und einen besonders guten Schokoladenkuchen. Olsztyn, 1 Maja 4, Tel. +48/737 18 95 57

  • Oberża Pod Psem
    In einem Drei-Höfe-Dorf mitten in der Johannisburger Heide liegt dieses historische Holzhaus. Unbedingt probieren: die Käsesorten und die geräucherten Schweine- und Wildschinken. Kadzidłowo, Kadzidłowo 1, Tel. +48/874 25 74 74

  • Dönhoff-Trail
    Reittouren mit Tadeusz Żebrowski können unter www.pferdreiter.de gebucht werden.

  • Schiffstouren
    Mit seinem Yachthafen ist Nikolaiken das bedeutendste Wassersportzentrum der Region. Von der Promenade aus starten zahlreiche Schiffs- und Bootstouren über die Seen. 

  • Lehndorffsches Jagdhaus
    Das renovierungsbedürftige Gebäude wurde 2005 in seine Einzelteile zerlegt und in dem Ort Gałkowo originalgetreu wiederaufgebaut. Pension, Restaurant und ein kleines Marion-Gräfin-Dönhoff-Museum in einem. Ruciane-Nida, Gałkowo 46

 

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