Kandidaten für das Kanzleramt: Sieben Superlative des Wahlkampfs

Stand: 26.09.2021 05:14 Uhr

Die größten Irrtümer, die wichtigsten Themen, die Nebendarsteller: Was bleibt von diesem Wahlkampf der Kanzlerkandidaten? Sieben ausgewählte Momente.

Von Wenke Börnsen und Dietmar Telser, tagesschau.de

Es war ein merkwürdiger Wahlkampf der Kanzlerkandidaten. Voller Höhen und Tiefen. Auf und ab ging es auch in den Umfragen. Hinter den Kandidaten und der Kandidatin liegen Monate der Strapazen. Dabei dürften alle gewusst haben, auf was sie sich einlassen. Von der “Todeszone” sprach einst Joschka Fischer mit Blick auf den Kanzlerjob.

Es war auch ein Wahlkampf voller Wendepunkte. Erst kam er nicht in die Gänge, dann wurde er auf den letzten Metern spannend wie lange nicht. Unterwegs gingen Gewissheiten verloren und schon sicher geglaubte Wahlerfolge.

Was bleibt?

1. Die größten Irrtümer

Die SPD braucht keinen Kanzlerkandidaten”

Als die SPD am 10. August 2020 ihren Kanzlerkandidaten aus dem Hut zauberte, dümpelte sie im ARD-DeutschlandTrend bei 15 Prozent. Die Union lag bei 38, die Grünen bei 18 Prozent. Ausgerechnet mit Olaf Scholz sollte es nun für die Sozialdemokratie bergauf und sogar bis ins Kanzleramt gehen. Der Mann, den die Partei ausdrücklich nicht als Chef wollte. Allgemeines Kopfschütteln war noch die freundliche Reaktion, Häme und Spott die weniger freundliche.

Sonntagsfrage zur Bundestagswahl

“Ich will gewinnen”, sagte Scholz von diesem Tag an in jedes Mikrofon. Vergessen die verzagte Selbstverzwergung. Immerhin hatte der heutige Parteichef Norbert Walter-Borjans mit Blick auf die desolate Lage seiner SPD noch einige Monate zuvor von einem eigenen Kanzlerkandidaten abgeraten – sehr zum Missfallen von – genau: Olaf Scholz. Als die FDP im Frühsommer der SPD in den Umfragen sogar zeitweise Platz drei streitig machte, forderten die Liberalen die Teilnahme an den TV-Triellen. Es kam dann anders.

Laschets härtester Kampf ist nicht der ums Kanzleramt”

Armin Laschet ist in seinem politischen Leben schon oft unterschätzt worden. Das hat Norbert Röttgen erfahren, Hannelore Kraft, Friedrich Merz und schließlich auch Markus Söder. Und nachdem er sich in einem zähen Ringen und mit einer einzigen sehr guten Parteitagsrede gegen seine Konkurrenten um den Parteivorsitz durchgesetzt und danach sogar noch den bayerischen “Kandidaten der Herzen” niedergerungen und es endlich zum Unions-Kanzlerkandidaten geschafft hatte, wähnten er und die Seinen sich eigentlich am Ziel. Man schrieb “Stabilität und Erneuerung” auf das Regierungsprogramm und plante per wolkigem Wohlfühlwahlkampf schon fürs Kanzleramt. Ein Selbstläufer? Von wegen.

“Das Klimathema wird den Wahlkampf bestimmen”

Es ist ein Paradox dieser Wahl. Den Menschen in Deutschland scheint zumindest laut Umfragen Klima- und Umweltschutz so wichtig wie wenig andere Themen. Tatsächlich nahm es in fast allen Parteiprogrammen viel Raum ein. Im April zwang das Verfassungsgericht die Bundesregierung auch noch zum Nachbessern der Klimaschutzgesetze. Dann kam auch noch die Flutkatastrophe. Die Voraussetzungen waren da, dass dieser Wahlkampf vom Klimaschutz geprägt wird.

Doch dann? Rückte das Thema relativ stark in den Hintergrund. “Die Bundestagswahl ist eine Klimawahl”, wurde Baerbock noch einmal zitiert. Am Ende blieb es aber vielleicht doch vor allem Wunschdenken der Grünen. “Es ist ein wichtiges Thema”, stellt Nico Siegel von Infratest dimap in aller Nüchternheit fest, “die Mehrheit orientiert sich bei der Wahlentscheidung aber nicht allein entlang dieses Themas.”

2. Die größten Fehler

Lange Zeit schien es in diesem Wahlkampf so, als blieben politische Fehler ein Exklusiv-Merkmal der Grünen. Knapp vier Wochen nach ihrer Nominierung musste sich Baerbock zum ersten Mal erklären. In einer Bundestagsrede schrieb sie ausgerechnet der SPD die soziale Marktwirtschaft zu – eine Sprecherin räumte ein “Versehen” ein. Wenig später wurde bekannt, dass die erste grüne Kanzlerkandidatin Nebeneinkünfte nachgemeldet hat, zugegeben ziemlich verspätet. Baerbock sprach diesmal von einem “blöden Versäumnis”.

Es dauerte nicht lange, da musste Baerbock einräumen, dass ihr Lebenslauf aufgehübscht daher kam. Ein “Fehler”, wie sie zugab. Dann war da noch die Sache mit dem Buch und den Plagiatsvorwürfen. Die Grünen sprachen zunächst von “Rufmord”. Später räumte Baerbock ein, dass sie vielleicht doch besser mit einem Quellenverzeichnis hätte arbeiten sollen. Die Umfragewerte waren da bereits von 26 auf 20 Prozent gesackt.

Immerhin: Inzwischen hatte der Unions-Kanzlerkandidat die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Als die Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen mehr als 100 Opfer forderte, Häuser mitriss und ganze Orte zerstörte, war Laschet schnell zur Stelle und machte dabei eigentlich viel richtig – eher er mit einem Lacher zum falschen Zeitpunkt seine ganze Wahlkampagne nachhaltig schädigte. Es sollte nur der Auftakt einer Reihe von unglücklichen Auftritten sein.

Als er angesichts der Flut wenig später im WDR zum Klimaschutz befragt wurde, formulierte er zumindest zu diesem Zeitpunkt etwas unpassend: “Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik”. Beim Hambacher Forst musste sich Laschet auch noch vom Verwaltungsgericht Köln bescheinigen lassen, dass die anberaumte Räumung nicht rechtmäßig war. Dann schaffte er es sogar, aus einem Kinderinterview geschwächt hervorzugehen. Am Ende des Wahlkampfs hatte der “Spiegel” nur ein Wort und ein fallende Kurve für den Laschet-Titel übrig: “Uups!”

Dabei bleibt wohl eine der großen Ungerechtigkeiten des Wahlkampfs, dass die Vorwürfe gegen Scholz gleich eine ganz andere Dimension hatten. Wirecard, die Warburg Bank, die FIU – es ging um Milliarden, oft um Steuergeld. Aber selbst eine öffentlichkeitswirksame Razzia im eigenen Ministerium sorgte kaum für das Beben, um das sich die politische Konkurrenz bemühte. Die Skandale waren offenbar zu komplex.

3. Die meistbeachteten Nebendarsteller

Esken und die Pommesbude

Im Nachhinein kann niemand mehr sagen, wann das Gerücht zum ersten Mal auftauchte. Zum Politikum wurde es jedenfalls erst nach “Anne Will” am Abend des zweiten Triells. Wo ist bloß Saskia Esken? Das fragte sich dort die Runde anlass-, aber nicht absichtslos. Immer wieder war zuletzt gemutmaßt worden, die Scholz-SPD wolle die Partei-Linken im Wahlkampf verstecken, um potenzielle Mitte-Wähler nicht zu verschrecken.

Jens Spahn brachte Esken an diesem Abend als Erster wieder ins Gespräch. Die SPD-Chefin war eingeladen worden, hatte aber abgesagt. Diejenigen, die mit der Linkspartei koalieren wollten, dürften bei der SPD nicht mehr auftreten, mutmaßte CDU-Vize Spahn. “Welt”-Journalist Robin Alexander wollte Esken sogar an der Pommesbude gesehen haben, “300 Meter” entfernt, wie er präzisierte. Die Frage blieb im Raum – und “Bild” machte es zumindest in der Schlagzeile zum Fakt: “Saskia Esken versteckt sich vor Anne Will an der Pommesbude.” Was davon nun tatsächlich wahr ist, bleibt unklar. Die “Zeit” durfte nach einem Telefonat mit der SPD-Vorsitzenden immerhin beruhigen: “Keine Sorge, es geht ihr gut!” 

Die Roten Socken

Man darf davon ausgehen, dass die CDU sich in der Esken-Debatte nicht wirklich um den Verbleib der Politikerin sorgte, sondern vor allem um abwandernde Wählerstimmen. Und so kehrte auch ein Klassiker vergangener Wahlkämpfe zurück: die Rote-Socken-Kampagne.

Je nach Stärke der Grünen oder der SPD wurde die Warnung auch in diesem Wahlkampf erneuert: Mal sprach CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt vor der “buckeligen Verwandtschaft” der Grünen – er meinte die Linkspartei. Mal war es Söder, der vor den Folgen eines Linksbündnisses warnte, dann wieder Laschet und schließlich positionierte sich selbst Kanzlerin Merkel ungewöhnlich deutlich in einer Bundestagsdebatte.

Söder & Habeck

Eigentlich wollten sie beide Kanzler werden. Am Ende scheiterten sie beide – und dürften vielleicht gerade deshalb in Zukunft noch ein gewichtiges Wort mitreden. Söder lieferte sich bis in den April hinein ein erbittertes Duell mit Laschet. Laschet ging als angeschlagener Kandidat ins Rennen um das Kanzleramt – und musste weiterhin Söders Sticheleien ertragen. Tenor: Mit ihm wäre der Wahlkampf anders gelaufen. Oder wie es sein Generalsekretär Markus Blume konkretisierte: besser.

Deutlich harmonischer einigten sich die Grünen auf Kanzlerkandidatin Baerbock. Dabei war es für Habeck wohl nicht weniger schmerzhaft. “Nichts wollte ich mehr, als dieser Republik als Kanzler zu dienen”, sagte er der “Zeit” nach der Bekanntgabe und verbarg in dem Interview nicht, wie sehr ihm diese Entscheidung zusetzte. Dennoch unterstütze er Baerbock. Als die Kanzlerkandidatin allerdings wegen der Plagiatsaffäre massiv in der Kritik stand, blieb sein Beistand zunächst aus. Er sei mit Zelt und Campingkocher im Urlaub gewesen, rechtfertigte er sich später.

4. Die stärksten Momente

Bilder sagen mehr als 1000 Worte – eine Auswahl aus dem Wahlkampf der Kanzlerkandidaten:

5. Die wichtigsten Themen

Lange Zeit ging es in diesem Wahlkampf wenig um Inhalte. Dabei lieferten die Wahlprogramme der Parteien durchaus Stoff für inhaltliche Diskussionen. Es interessierte sich zunächst aber kaum jemand für Steuerpolitik, Rente oder Wohnungsbau, auch weil eine Krise die nächste jagte. Corona, Hochwasser, Afghanistan … Irgendwann wurde es dann aber doch inhaltlich.

Steuerpolitik:

Es war eines der wichtigeren Themen in diesem Wahlkampf – und das hat vermutlich viel damit zu tun, dass die Steuerpläne auch über künftige Koalitionsverhandlungen mitentscheiden könnten. Die Fronten sind nicht ungewöhnlich: SPD, Grüne und Linke wollen vor allem Besserverdiener zur Kasse bitten. FDP und AfD wollen vor allem Entlastungen. Bei der Union wurde es im Wahlkampf mitunter kompliziert – und sorgte für Zwist zwischen CDU und CSU. Im Wahlprogramm verspricht die Union – zumindest perspektivisch – Steuersenkungen, Laschet machte aber früh klar, dass das derzeit nicht realistisch sei. Die CSU wiederum beharrte darauf. Zum erwarteten Showdown in Seeon kam es nicht. Am Tag von Laschets Auftritt erschütterte die Flutkatastrophe das Land.  

SPD, Grüne und Linkspartei gruben zudem einen Klassiker des Steuerrechts wieder aus: die Vermögensteuer. Zwei potenzielle Koalitionspartner der SPD und Grünen lehnen dies ab: die FDP und die CDU. Und auch von der Wirtschaft kamen im Wahlkampf unmissverständliche Signale.

Mindestlohn:

Scholz hat sich festgelegt: “Ich verspreche den Bürgern: Der Mindestlohn wird mit mir als Kanzler im nächsten Jahr auf zwölf Euro angehoben”, sagte er der “Bild am Sonntag”. Die SPD hatte das Thema schon früh zu einem zentralen Bestandteil der Wahlkampagne gemacht – zurück zu den Wurzeln sozusagen. Soziale Gerechtigkeit gehörte einst zu den Kernkompetenzen der Partei.

Im Grünen-Wahlprogramm ist ebenfalls die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro vermerkt, die Linkspartei fordert 13 Euro. Union und FDP machen das nicht mit. Zwar müssten Menschen mit niedrigsten Einkommen besser gestellt werden, sagte Laschet. Das sei aber Aufgabe der Tarifparteien, nicht des Staates. Das meint auch die FDP: Ein höherer Mindestlohn sei Sache einer unabhängigen Kommission.

Kohleausstieg:

“Wollen Sie das Pariser Klimaziel einhalten oder wollen Sie weiterhin 17 Jahre lang Kohle verstromen?”, fragte Grünen-Kandidatin Baerbock im dritten TV-Triell ihre Konkurrenten von Union und SPD. Ihre eigene Antwort ist klar: Früher raus aus der Kohle – und zwar schon 2030 statt erst 2038. Sie macht es sogar quasi zur Koalitionsbedingung. Die SPD hält hingegen am gesetzlich vereinbarten Ausstiegsdatum fest – mit Hintertür allerdings. Wenn es machbar sei, unterstütze er einen früheren Kohleausstieg, sagte Scholz. Ein “Wenn-Satz” kommt auch von Mitbewerber Laschet: “Wenn wir es schneller hinkriegen, wenn der Strukturwandel schneller geht, wenn neue Arbeitsplätze da sind, gerne auch früher.” Im Übrigen hätte man erst aus der Kohle und danach aus der Atomkraft aussteigen sollen.

6. Die größten Leerstellen

Auf Erinnerungslücken beruft sich SPD-Mann Scholz im Cum-Ex-Skandal bei der Warburg Bank, ob strategisch oder altersbedingt lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Kurzzeitig orientierungslos war auch Laschet – vor laufenden Kameras im zweiten Triell. “Was war noch mal die Frage”, gab er zurück, was vermutlich eher der gehetzten Gesprächsführung geschuldet war als Konzentrationsproblemen. Eine leere Seite veröffentlichte die “Bild am Sonntag” Anfang September, als ein Interview mit Baerbock nicht zustande kam.

Leerformeln prägten auch die Debatte um mögliche Koalitionen nach der Wahl. Würde die SPD mit der Linkspartei paktieren, wenn es allein mit den Grünen nicht reicht? Würde die FDP auch für SPD und Grüne bereitstehen? Alles bleibt möglich, alles eine Frage des Preises. Sehr zum Ärger der Union übrigens, die die politischen Mitbewerber hartnäckig in die Ausschließeritis-Ecke drängen wollte.

Auch inhaltlich gab es Leerstellen. Denn viele Themen blieben in den Wahlprogrammen versteckt. Außenpolitik, Europa, Migration, Digitalisierung, auch Wohnungspolitik, Bildung oder Rente – all das wurde, wenn überhaupt, nur in den Fernsehdebatten kurz diskutiert. Ähnlich erging es auch anderen Themen, wie etwa Corona.

7. Die letzten Dienstreisen

Kommen und gehen ist normal in der Politik – der neue Bundestag und auch die neue Bundesregierung werden anders aussehen als bisher. Wie, das entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Einige “Aussteiger” waren aber über viele Jahre dabei, an viele Gesichter hatte man sich gewöhnt, manche prägten sogar eine Ära. Etwa Angela Merkel. Doch nicht nur die Kanzlerin kehrt dem politischen Tagesgeschäft demnächst den Rücken.

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