J. Peirano: Meine Mutter verwöhnt und verhätschelt meinen Bruder und behandelt mich wie eine Sklavin

Nicole Z. leidet unter dem Verhalten ihrer Mutter, die ihren Bruder, der nur auf dem Sofa rumhängt, bevorzugt und verwöhnt. Julia Peirano erklärt dieses “tradierte Verhalten” mancher Frauen und rät ihr, diese Ungleichbehandlung nicht länger hinzunehmen.

Liebe Frau Peirano,

ich habe ein Problem damit, dass meine Mutter meinen Bruder bevorzugt. Ich bin 27 und lebe seit Jahren alleine und verdiene mein Geld selbst. Mein Bruder Dennis ist 23 und lebt noch zu Hause bei meiner Mutter. Sie arbeitet als Krankenschwester im Schichtdienst, während mein Bruder schon die dritte Ausbildung abgebrochen hat. Er schlägt sich so durch, arbeitet mal auf dem Bau oder kellnert.

Meine Mutter verhätschelt meinen Bruder und er braucht nichts im Haushalt zu machen. Wenn ich nach Hause komme, werde ich sofort eingespannt. Meine Mutter fängt an zu jammern und zu stöhnen, wie sehr ihr der Rücken wehtut, ich putze dann die Wohnung durch und helfe ihr beim Einkaufen. Mein Bruder liegt auf der Couch und sieht fern oder spielt an seinem Handy.

Er hatte schon einige Freundinnen und meine Mutter hat von denen erwartet, dass sie bei uns zu Hause kochen und mithelfen. Von meinem Bruder erwartet sie das nicht, oder sie sagt ihm, dass er ruhig liegen bleiben und sich ausruhen soll. Mich regt das so auf! Ausruhen vom Handyspielen?!?

Ex-Freundin von Dennis hat mir erzählt, dass meine Mutter ihr gesagt hat, dass sie sich um Dennis kümmern soll, weil er es nicht leicht hat. Das Krasseste war, dass diese Freundin von ihm schwanger wurde und meine Mutter Dennis bemitleidet hat, weil er überfordert war, Vater zu werden. Meine Mutter hat darüber hergezogen, dass die Freundin nicht aufgepasst und nur versucht hat, Dennis durch das Kind an sich zu binden. Ich war fassungslos. Sie hat dann eine Abtreibung gehabt und ihn verlassen.

Mit dem Geld ist es auch so eine Sache. Obwohl meine Mutter immer knapp bei Kasse ist, erwartet sie nicht, dass Dennis zu Hause Geld abgibt. Sie steckt ihm immer etwas zu und zu Weihnachten und zum Geburtstag schenkt sie ihm Sachen im Wert von 500 Euro. Mal zum Vergleich: Ich bekomme immer etwas Praktisches (z.B. einen Toaster oder einen Wasserkocher) im Wert von maximal 60 Euro. Und wenn sie kein Geld hat, erwartet sie von mir, dass ich von meinem Gehalt etwas abgebe. Das ist doch nicht richtig, oder?

Sie hat Dennis immer bevorzugt und alles anders gesehen, was er macht. Ich bin früh selbstständig geworden und habe meine Ausbildung durchgezogen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Aber an mir hat sie immer etwas auszusetzen. Sie wirft mir auch vor, dass ich egoistisch sei und nur an mich und nicht an die Familie dächte.

Aber von Dennis erwartet sie gar nicht erst, dass er etwas für die Familie tut. Komischerweise ist das Verhältnis zwischen Dennis und mir gut, insbesondere wenn sie nicht da ist. Er erzählt mir Sachen im Vertrauen und hört auch eher auf mich als auf unsere Mutter.

Ach ja, und unser Vater hat die Familie verlassen, als ich 7 und Dennis 3 war und meldet sich nicht. Er hat auch nie Unterhalt gezahlt. Meine Mutter hat keine Zeit für einen neuen Partner und findet sich auch nicht attraktiv. Sie wiegt 95 kg und achtet wenig auf sich, das nur nebenbei.

Ich weiß nicht, wie ich mit der Ungerechtigkeit umgehen soll. Es fällt mir echt schwer, zu meiner Mutter Nein zu sagen, weil sie dann nur noch wenig mit mir redet und kalt zu mir ist.

Haben Sie ein paar Denkanstöße für mich?

Viele Grüße
Nicole Z.

© Kirsten Nijhof

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben. 

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Nicole Z.,

Ihre Schilderung hat mich berührt. Und ich gebe Ihnen Recht: Die Art, wie Ihre Mutter Sie und Ihren Bruder behandelt, klingt extrem ungerecht. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie darunter leiden und dass auch Ihr Selbstwertgefühl von dieser Ungleichbehandlung beschädigt wurde.

Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass ich schon öfter (junge) Frauen in Therapie hatte, die ähnliche Geschichten berichtet haben von Ihrer Mutter, Ihrem Bruder und sich selbst. Das macht es nicht gerechter, aber manchmal tut es gut, Leidensgenossinnen zu haben. 

Sie haben sich das nicht ausgesucht, und Sie können auch nichts dafür, dass Ihre Mutter das macht! Ich würde gerne einmalÜberlegungen anstellen, warum Ihre Mutter Sie und Ihren Bruder so ungleich behandelt. 

Ein Grund für diese Ungleichbehandlung ist höchstwahrscheinlich, dass Ihre Mutter es aus ihrer Herkunftsfamilie kennt, dass Söhne dort mehr wert sind als Töchter. Ich habe Familien in meinem Umfeld, in denen die Mutter (und später die Tochter) für alle kocht und die Familie beim Essen bedient, während der Vater (und der Bruder) sitzen bleiben und gemütlich essen.

Ich habe eine Freundin, deren Bruder den elterlichen Hof geerbt hat, während und sie selbst leer ausging – verständlicherweise war sie wütend darüber (übrigens ist das in vielen Gebieten üblich und sogar rechtlich verankert: der älteste Sohn erbt den Hof).

Ich kenne Frauen, deren Schwiegermütter sich danach erkundigen, wie es dem Sohn geht und die Frauen dazu anhalten, Rücksicht zu nehmen, ihn zu verwöhnen und ihm den Rücken freizuhalten. Und das, obwohl die Frauen selbst berufstätig sind und den Löwenanteil der Kinderbetreuung übernehmen.

Wir haben das Jahr 2023, und dennoch erwarten einige Frauen das von ihren Geschlechtsgenossinnen!

Gehen wir mal davon aus, dass diese Mütter als junge Frau selbst unter der Ungleichbehandlung gelitten, dies aber nie verarbeitet haben. Sie haben den Schmerz, den das verursacht hat, abgespalten und in sich hineingefressen und geben ihn nun selbst an ihre eigene Tochter und an andere junge Frauen weiter.

Um sich gegen diese Ungleichbehandlung zu wehren und es später anders zu machen (also solidarisch mit Frauen zu sein), müsste man sich erst einmal eingestehen, wie schmerzhaft diese Behandlung war und man müsste eine Lösung finden: Widerworte geben, sich abgrenzen, sich distanzieren, rebellieren. Wenn man sich fügt, entsteht möglicherweise auch das Bedürfnis, sich an späteren Generationen für das erlittene Unrecht zu rächen. Also: Wenn ich als Mädchen immer die Hausarbeit machen musste und mein Bruder, Vater, Cousin auf meine Kosten davon befreit wurde, dann möchte ich jetzt, dass jemand anders für mich die Hausarbeit machen muss und da ich es nicht anders kenne, sind das dann jüngere Frauen. Man sagt sich dann: Die sollen sich mal nicht so anstellen, ich musste da auch durch!

Eigentlich könnte man ja auch die eigene Tochter und den eigenen Sohn dazu erziehen, sich ihren Anteil an der Hausarbeit fair zu teilen, aber diese Möglichkeit kommt oft nicht infrage, wenn man den eigenen Schmerz “einfach” abgespalten hat.

Eine weitere Ursache von dieser toxischen Mutterschaft, in der Töchter und Söhne ungleich behandelt werden: Manche Frauen haben gelernt, ihren Selbstwert von der Bestätigung durch Männer abhängig zu machen und nicht von ihren eigenen Erfolgen oder der Befriedigung eigener Bedürfnisse.

Ihre Mutter hat, so wie es klingt, bei Männern wenig Erfolg gehabt. Von dem Vater Ihrer Mutter weiß ich nichts. Aber der Partner Ihrer Mutter hat sie mit zwei Kindern verlassen und ist auch als Vater der Kinder aus ihrem Leben verschwunden. Sie muss seitdem alles allein machen und das klingt bei ihr nach einem harten und entbehrungsreichen Leben. 

Doch anstatt zu gucken, wie es ihr selbst gut gehen könnte, z. B. durch Freundschaften und Schwesternschaft mit anderen Frauen, durch Hobbys oder Entspannung, sucht Ihre Mutter wieder nach männlicher Bestätigung, und zwar der ihres Sohnes. Dessen Liebe hatte sie sicher, als er klein war, und jetzt sorgt sie durch völlig unangemessene Verhätschelung, Schonung und übertriebene Geschenke dafür, dass sie ihren Sohn an sich bindet. Offensichtlich sieht sie dabei andere Frauen als Rivalinnen. Die schwangere Ex-Freundin Ihres Sohnes hat von Ihrer Mutter weder Hilfe noch Verständnis bekommen, sondern wurde allein für die Schwangerschaft verurteilt, wofür Ihr Bruder mit verantwortlich ist.

Dadurch schadet Ihre Mutter nicht nur der jungen Frau, sondern auch Ihrem Bruder! Denn die Aufgabe einer Mutter (und eines Vaters) ist es, den eigenen Kindern einen möglichst klaren Spiegel vorzuhalten. Und dazu gehört auch mal, dem eigenen Sohn zu sagen: “Das war verantwortungslos von dir, dass deine Freundin schwanger geworden ist. Nun sieh mal zu, dass du zu ihr hältst und das mit ihr zusammen in Ordnung bringst.” Durch das eigene Vorbild und durch den Spiegel vermitteln Eltern ihren Kindern Haltungen und Werte, und dazu sollten eigentlich auch Respekt, Fairness, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gehören. Und natürlich wäre es angebracht, dass Ihre Mutter Dennis gründlich Feuer unter dem Arsch macht und ihn dazu drängt, eine Ausbildung abzuschließen. Es macht ihn klein und unselbstständig, ungelernter Arbeiter zu sein und im Hotel Mama zu wohnen. Wo soll das hinführen?

Aus meiner Warte betrachtet, sind Sie zwar das Kind Ihrer Mutter, dass offensichtlich benachteiligt wird (mehr kritisiert wird, mehr mithelfen muss, sich quasi die Zugehörigkeit erkaufen muss). Aber Sie hatten einen großen Vorteil: Sie konnten sich lösen und haben sich ein eigenes Leben aufgebaut, weil Ihre Mutter Sie nicht durch Zuckerbrot an sich gebunden hat. Ihr Bruder wird es nicht leicht haben in seinem Leben, weil er immer einen Zerrspiegel vorgehalten bekommen hat. 

Er wurde durch die Behandlung seiner Mutter bequem und egozentrisch, und damit kommt man im Leben nicht weit. Durch den abwesenden Vater hat er kein gutes männliches Vorbild gehabt (eher jemanden, der sich vor der Verantwortung drückt und damit alle verletzt). Seine Mutter hat ihm vorgelebt, dass er grundlos im Mittelpunkt steht und hat ihn so in einer unreifen, kindischen Rolle gelassen.

In seinen Beziehungen mit Frauen wird Ihr Bruder wahrscheinlich versuchen, Frauen für sich einzuspannen und zu benutzen, wie er es von zu Hause kennt. Er wird wenig Verständnis für die Bedürfnisse seiner Partnerinnen haben und keine Verantwortung übernehmen. Es ist nicht weit hergeholt, dass er eines Tages bei einer Partnerin auf dem Sofa liegt und sie für sich sorgen lässt, wie er das aus dem Hotel Mama kennt. Und mit diesem Ballast werden seine Beziehungen nicht glücklich werden können. Das ist im Prinzip tragisch!

Ich hoffe, dass diese Erklärungsansätze zum Verhalten Ihrer Mutter Ihnen ein wenig weiterhelfen. Im Folgenden würde ich Ihnen gerne noch ein paar Tipps geben, um sich weiter aus dem Netz von Erwartungen zu befreien. 

Das Wichtigste: Benennen Sie zu Hause immer wieder Ihre Position. Sagen Sie zum Beispiel: “Mama, ich bin deine Tochter und ich bin ausgezogen. Ich finde es nicht angemessen, dass ich zum Putzen und Einkaufen eingespannt werde, während Dennis auf der Couch liegt. Du solltest ihm beibringen, wie man putzt und dann kann er das übernehmen.”

Sagen Sie: “Mama, ich bin deine Tochter und nicht dein Partner. Es ist nicht in Ordnung, dass ich zu Hause Geld abgeben soll, während mein erwachsener Bruder hier gratis wohnt und nichts beiträgt.” Versuchen Sie, Ihrer Mutter diese Grenzen zu setzen und das auch in Ihrem Verhalten konsequent zu befolgen. Also nicht putzen, kein Geld beisteuern für den Lebensunterhalt usw. 

Sie sind als erwachsene Tochter ein Hausgast. Ihre Mutter wird wahrscheinlich erst einmal wütend sein und ihre bekannten Methoden einsetzen, um Sie gefügig zu machen. Stellen Sie sich darauf ein, dass es eine Weile schwierig wird und versuchen Sie, nicht einzuknicken! Fragen Sie doch Ihre Freundinnen mal, wie viel diese zu Hause tun, wenn sie zu Besuch sind! 

In vielen Familien wird die erwachsene Tochter selbst etwas verwöhnt, wenn sie nach Hause kommt. Oder die Mutter und die Tochter kochen als erwachsene Frauen zusammen und bestärken dadurch ihre Verbundenheit. Holen Sie sich doch mal Unterstützung von Freundinnen oder ggf. auch einer Therapeutin, um eine Vorstellung von einer angemessenen Rolle zu finden und zu stärken.

Und stärken Sie das Verhältnis zu Dennis als seine große Schwester. Sie sind nicht seine Mutter und auch nicht sein Vater oder Stiefvater. Ihr Bruder ist erwachsen und Sie brauchen keine Verantwortung für ihn zu übernehmen. Indem Sie das konsequent ablehnen und mit ihm Zeit verbringen und reden wie eine große Schwester, wird die Beziehung zu ihm weniger belastet. Und Sie beide haben mehr Spaß zusammen. Spiegeln Sie ruhig sein Verhalten und sagen ihm, wie er auf Sie wirkt, sowohl Positives als auch Negatives. Zum Beispiel: “Dennis, es ist wichtig, dass du auf eigenen Füßen stehst, dein eigenes Geld verdienst und deinen Beitrag leistest, auch bei der Hausarbeit! Du bleibst sonst ein Müttersöhnchen!”

Ich kann mir vorstellen, dass es gut wäre, eine Zeit Abstand von zu Hause zu halten und nur selten zu kommen, damit Sie sich an Ihre neue Rolle gewöhnen können. Meistens gelingen solche Veränderungen nicht von einem Tag auf den anderen.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg damit und hoffe, dass Sie es so sehen können, dass Sie unterm Strich durch die Ungleichbehandlung durch Ihre Mutter weniger geschädigt wurden als Ihr Bruder.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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