J. Peirano: Ich habe meine Kinder verlassen, jetzt sehne ich mich nach ihnen

Als sie noch mit ihrem Ex-Mann zusammenlebte, war Simone totunglücklich. Und wählte schließlich ein Leben ohne ihn – und ohne die Kinder. Fünf Jahre später will sie nun wieder Kontakt. Aber kann das gutgehen?

Liebe Frau Peirano,

ich bin jetzt 36 und lebe in Spanien. Und zwar ohne meine beiden Kinder (zehn und zwölf), die ich seit fünf Jahren nicht gesehen habe. Ich weiß, was andere Menschen über mich denken: Rabenmutter.

Ich habe mit 22 meinen späteren Mann Jason kennen gelernt. Am Anfang haben wir uns gut verstanden und dann auch geheiratet. Ein Jahr später kam unsere Tochter Lena. Ich erlebte eine Achterbahn der Gefühle. Obwohl ich stolz und glücklich war, ein Kind zu haben, fand ich es auch eine Last, immer für jemanden zu sorgen. Ich war ja selbst noch recht jung und habe mich nie ausprobieren oder finden können. Schon als Teenager habe ich immer gejobbt und meine Mutter unterstützt, die mit mir und meinem Bruder überfordert war und sich immer beklagt hat, dass ihr Leben so anstrengend ist.

Ich wollte es besser machen als meine Mutter und habe mich sehr in die Mutterrolle gestürzt. Gekocht und gebacken, den Balkon bepflanzt, Babyschwimmen, das ganze Programm.

Ich habe mich als Kosmetikerin selbstständig gemacht. Zwei Jahre später, da war ich 26, kam dann Liam auf die Welt und wir zogen kurz darauf in die Nähe meiner Schwiegermutter, damit sie uns helfen konnte. Ihre Mutter war gestorben und so wurde das Haus frei. Jason drängte, und ich gab nach, obwohl ich ein mulmiges Gefühl dabei hatte.

Das war ein riesiger Fehler, wie sich später heraus stellte. Meine Schwiegermutter hat viel dazu beigetragen, einen Keil zwischen uns zu treiben. Als ich Jason kennengelernt habe, war meine Schwiegermutter zwar auch schon aufdringlich und dominant. Sie wollte alles bestimmen, stellte auch mal die Möbel bei uns im Wohnzimmer um und erkundigte sich kritisch, was ich ihrem Sohn gekocht hätte. Aber sie war 600 Kilometer weit weg und wir ertrugen das zwei bis drei Mal im Jahr.

Als wir in ihre Nähe zogen, verlor ich viel: meine Kundinnen, meine Freunde, meine Unabhängigkeit. Ich wollte mich war schnell wieder selbstständig machen, aber es kam immer etwas dazwischen. Und in der erzkatholischen, ländlichen Gegend, in der wir nun wohnten, gab es zu wenige Kita-Plätze. Meine Schwiegermutter lag mir im Ohr, warum ich denn die Kinder überhaupt bekommen hätte, wenn ich sie dann in fremde Hände geben würde.

Sie selbst half uns aber nur mit der Kinderbetreuung, wenn sie Lust und Zeit hatte. Und sie manipulierte die Kinder, indem sie ihnen viel Zucker zu essen gab oder teuere Spielzeuge kaufte, die ich selbst nicht erlaubt habe, weil ich elektronisches Spielzeug ablehne.

Wir hatten viel Stress mit der Schwiegermutter. Mal stand sie einfach bei uns in der Wohnung (sie hatte einen Schlüssel), mal redete sie uns in die Erziehung rein und oft beschwerte sie sich bei Jason über mich. Er konnte sich gegen sie nicht durchsetzen und sagte mir dann so “hilfreiche” Sachen wie: “Stell doch einfach auf Durchzug” oder “sie meint das nicht so” oder “naja, ein bisschen Recht hat sie schon.”

Ich war todunglücklich. Ich war 27, lebte in einer spießigen Kleinstadt, wo jeder über jeden redet, hatte zwei kleine Kinder, die mich den ganzen Tag forderten, einen Mann, mit dem ich mich nur stritt, und nichts zu melden. Meine Schwiegermutter dominierte unser Leben, und wenn ich mich widersetzen wollte, ging sie zu Jason und beschwerte sich über meinen Egoismus.

Ich probierte es mit einer Therapie, arbeitete daran, mir meine Selbstständigkeit wieder aufzubauen (mehr schlecht als recht) und verlor mich selbst. Bis sich meine Jugendliebe Maik wieder meldete, der in Spanien lebte. Wir schrieben uns lange Emails, trafen uns dann auch und verliebten uns ineinander. Ich fühlte mich von ihm verstanden, ich kümmerte mich wieder um mich selbst, machte Sport und achtete  wieder auf mein Aussehen. Ich konnte endlich wieder lachen und hatte wieder Freude am Leben. Trotzdem war ich natürlich innerlich zerrissen, denn ich sehnte mich nach Maik und wollte mit ihm leben, und auf der anderen Seite hatte ich meine beiden Kinder, die mich brauchten und denen ich nicht mehr bieten konnte als ein Leben mit täglichem Streit zwischen den Eltern und einer heulenden Mutter.

Nach zwei Jahren Zerrissenheit traf ich die Entscheidung, zu Maik nach Spanien zu ziehen und sagte das Jason. Er willigte sofort ein, dass ich ihn verlasse, aber er und natürlich seine Mutter waren strikt dagegen, dass ich die Kinder mitnehme. Sie redeten so lange auf mich ein, bis ich einknickte. Die Kinder würden die Muttersprache verlieren, das Schulsystem sei in Deutschland viel besser als in Spanien, beim Vater hätten sie ein schönes Haus mit Garten und gesicherte Verhältnisse, während ich den Kindern nichts bieten könnte und mich bitteschön erst mal selbst finden solle, ehe ich mit den Kindern irgendwelche “Hippie-Abenteuer” wagen sollte.

Das war es dann. Ich hielt es einfach nicht mehr aus und floh zu Maik nach Spanien. Und dort konnte ich mir recht schnell eine Existenz aufbauen, indem ich mich als Kosmetikerin und Masseurin selbstständig machte.

Mir ging es gut, Maik ist der Mann an meiner Seite, und in Spanien gefällt es mir viel besser als in Deutschland. Nur wenn ich an die Kinder denke, zieht sich alles in mir zusammen. Lena ist jetzt zwölf, Liam zehn. Ich habe die beiden seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Sie waren nie bei mir in Spanien, weil Jason das nicht unterstützt und schlecht über mich spricht.

Jason hat eine Haushälterin angestellt, hat mittlerweile eine neue Partnerin und natürlich geht seine Mutter bei ihm ein und aus. Ich erkenne die Kinder fast nicht wieder auf den wenigen Fotos, die ich bekomme. Meine Briefe und Mails kamen öfters nicht an oder wurden nur oberflächlich beantwortet. Ich glaube, dass die Kinder sich kaum noch an mich erinnern.

Es ist schwer, mit der Schuld zu leben, dass ich meine Kinder verlassen habe. Und ich hätte doch gerne eine Annäherung mit ihnen. Glauben Sie, dass es da eine Möglichkeit gibt? Und wie?

Viele Grüße und danke,

Simone T.

Liebe Simone T.,

beim Lesen Ihrer Geschichte kam es mir schlüssig vor, dass es irgendwann zu einer abrupten Kehrtwendung aus Ihrer erdrückenden Situation kommen musste. Was glauben Sie, wo Sie wären und wie es Ihnen gehen würde, wenn Sie nicht nach Spanien gegangen und einfach bei Ihrem Mann geblieben wären, den Kindern zuliebe?

Können Sie sich für einen Moment mal in Ihre Gefühlswelt aus der Zeit vor Ihrer Trennung zurück versetzen und sich vorstellen, das bis heute auszuhalten?
Wahrscheinlich fühlt es sich unerträglich an, sich das auch nur vorzustellen!

Doch trotz allem war ihre Flucht aus der Situation recht groß und wahrscheinlich auch radikal.

Deshalb kann ich es auch gut verstehen, dass Sie unter Schuldgefühlen leiden. Schuldgefühle entstehen dann, wenn wir unsere Handlungen kritisch hinterfragen und denken, dass wir jemandem geschadet haben. Manchmal trifft das zu, manchmal ist es eine Fehlannahme. Aber die Schuldgefühle quälen einen so lange, bis man das für sich geklärt und auseinander gedröselt hat.

Schuldgefühle sind auch etwas Gutes, denn sie sind (wie auch Schamgefühle) soziale Gefühle und sorgen dafür, dass wir uns anderen gegenüber “richtig” verhalten (wobei das, was falsch und richtig ist, kulturell gesteuert wird und nicht immer eindeutig ist). Und wenn man schuldig ist, kann man auch etwas wieder gut machen oder ausgleichen. Der Jugendliche, der Sachen beschädigt hat, wird zu Aufräumarbeiten herangezogen. Der Autofahrer, der ein anderes Auto beschädigt hat, muss die Reparatur bezahlen…

Ich empfehle Ihnen, sich mit Ihren Schuldgefühlen noch einmal intensiv auseinander zu setzen.

Versetzen Sie sich doch einmal in alle beteiligten Personen hinein und fragen sich, wem gegenüber Sie sich schuldig gemacht haben, warum Sie Schuld auf sich geladen haben und was Ihre Handlung für den anderen bedeutet.

Haben Sie sich Lena und Liam gegenüber schuldig gemacht, weil Sie sie beim Vater gelassen haben? Was meinen Sie, was das für jedes Ihrer Kinder bedeutet, sowohl in der Vergangenheit als auch jetzt? Meinen Sie, dass Ihre Kinder traurig sind, weil sie ohne Mutter aufwachsen müssen?

Wenn das so ist: Warum melden sich Ihre Kinder nicht bei Ihnen oder kommen zu Besuch? Haben Sie die Kinder in Deutschland besucht und den Kontakt gehalten? Wenn nicht: Werfen Sie sich das vor? Und wenn ja: Wie könnten Sie das wieder gut machen oder ausgleichen?

Was waren Ihre Gründe dafür, die Kinder beim Vater zu lassen? Und welchen Anteil hat Jason daran, dass es keinen Kontakt mehr zwischen Ihnen und den Kindern gibt?

Ich kann mir vorstellen, dass genau das der kritische Punkt ist. Viele Eltern trennen sich, und viele Elternteile ziehen aus den verschiedensten Gründen an einen anderen Ort. Trotzdem bemühen sich die meisten dieser Elternteile darum, weiterhin Kontakt zu ihren Kindern zu haben. Sie treffen (oft mühselige) Absprachen mit dem/der Ex-Partner*in, nehmen lange Reisen und Kosten auf sich, verbringen ihre Wochenenden zum Großteil auf der Autobahn oder mieten Ferienwohnungen in der Nähe der Kinder. Wenn wir mal den Finger auf die Wunde legen: Wie würden Sie Ihre eigenen Bemühungen nach der Trennung von Jason beurteilen, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben?

Ihre Kinder waren zu dem Zeitpunkt der Trennung noch Vorschulkinder und konnten den Kontakt zu Ihnen nicht selbst in die Hand nehmen. Sie konnten weder lesen noch schreiben, noch besaßen sie ein Telefon, noch konnten sie selbst eine Reise planen oder bezahlen.

Haben Sie sich mit Jason gründlich genug auseinander gesetzt, um den Kontakt mit den Kindern zu regeln? Oder haben Sie resigniert?

Mir fallen zwei Aspekte Ihrer Geschichte auf, mit denen Sie sich auch auseinander setzen könnten:

Erstens habe ich die Vermutung, dass Sie stark durch die Geschichte Ihrer eigenen Mutter geprägt wurden, die selbst ein großes Mädchen (Sie) und einen kleineren Jungen hatte und sich damit überfordert fühlte. Sie haben damit unbewusst die Botschaft aufgesogen: “Kinder sind eine Last. Und die bleibt an der Mutter hängen. Die Mutter wird durch Kinder unglücklich”. In den ersten Jahren der Mutterschaft haben Sie versucht, diesen familiären Leitsatz ins Gegenteil zu wenden. Sie wollten eine perfekte Mutter sein, die alles schafft: Babyschwimmen, Backen, Kochen, Pflanzen.

Doch letztlich haben Sie durch die unverarbeitete familiäre Übertragung eigentlich das wiederholt, was Ihrer Mutter passiert ist: Sie haben sich als junge Mutter selbst verloren, waren überlastet und unglücklich. Wie Ihre Mutter.

Ich würde Ihnen empfehlen, das Thema mal anzugehen. Empfehlenswert ist das Buch von Sandra Konrad: “Es bleibt in der Familie. Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten.”

Zweitens habe ich den Eindruck, dass Sie Ihre Geschichte öfters mal aus der Opfer-Perspektive erzählen. Es hört sich so an, als hätten Sie zwar alles versucht, um die Situation zu verbessern, aber gegen die anderen Menschen und die Umstände wären Sie einfach nicht angekommen.

Es gibt sicher auch einige Aspekte, die unveränderlich waren (z.B. die unabgelöste Beziehung zwischen Jason und seiner Mutter, die dominante Persönlichkeit Ihrer Schwiegermutter, die fehlenden Kinderbetreuungs-Angebote in Ihrer Gegend). Dennoch hatten Sie Spielraum und haben viele Entscheidungen getroffen, wie z.B. zu Ihrer Schwiegermutter zu ziehen. Und Sie haben es dabei belassen.

Wer Geschichten über sich als Opfer erzählt, fühlt sich auch wie ein Opfer. Es stärkt einen, beim Erzählen einer Geschichte selbst die Verantwortung zu übernehmen, indem Sie z.B. sagen: Ich habe mich dafür entschieden… Ich habe die Entscheidung dann nicht mehr geändert,…

Sie fragen mich, ob und wie Sie wieder Kontakt zu Ihren Kindern aufnehmen können. Auch dafür ist es wichtig, dass Sie Verantwortung für Ihre Geschichte übernehmen, denn wenn Sie sich als Opfer des Vaters und der Schwiegermutter darstellen, bringen Sie die Kinder in einen inneren Konflikt. Die werden das so wahrscheinlich nicht gerne hören.

Ich denke, dass die Kinder Ihrer Verletzung über den Verlust der Mutter tief in sich abgespalten haben und ihn nicht mehr fühlen. Es liegt eine Schicht Gleichgültigkeit darüber, und wahrscheinlich auch Ablehnung, die durch die Erzählungen Ihres Ex-Mannes und seiner Mutter gefüttert wurden. Die Kinder werden sich vor weiteren Verletzungen schützen und nicht gleich freudig auf Sie zuspringen. Sondern es wird ein langer Weg sein, das Vertrauen zurück zu gewinnen, dass Sie den Kindern einen Platz in Ihrem Leben geben wollen.

Aber wollen Sie das? Sind Sie dazu bereit, diesen hohen und langandauernden Einsatz zu bringen?

Vielleicht lesen Sie sich hier auch einmal ein:

Marianne Nolde: “Eltern bleiben nach der Trennung. Was Ex-Partner für sich und ihre Kinder wissen sollten.”

Wenn Sie für sich geklärt haben, ob Sie dazu bereit sind, wirklich verlässlichen Kontakt zu Ihren Kindern aufzubauen und dadurch auch ein Stück ihrer Umwelt (Jason und seine Mutter plus erzkatholisches Dorf) zu ertragen, dann empfehle ich Ihnen folgende Schritte:

  1. Schreiben Sie Jason, dass Sie wieder Kontakt zu den Kindern haben möchten und klären Sie das mit ihm, ggf. über das Jugendamt. Es ist die Grundlage für den Kontakt mit den Kindern, dass das zwischen Ihnen und Jason bereinigt ist. Sonst wird der Konflikt auf dem Rücken der Kinder ausgetragen.
  2. Schreiben Sie Ihren Kindern, dass Sie sie gerne besuchen wollen. Richten Sie sich nach den Plänen der Kinder (Ferien usw.) und suchen Sie sich eine Ferienwohnung in der Nähe der Kinder, in der Sie ein paar Tage Zeit haben, die Kinder auf neutralem Ort zu sehen.
  3. Lassen Sie am Besten Ihren neuen Partner erst einmal außen vor, da seine Beteiligung zu weiteren Konflikten und Überforderung führen würde
  4. Bleiben Sie nach dem Besuch am Ball und lassen Sie sich ggf. von einer Erziehungsberaterin unterstützen.

Aber das Wichtigste ist, dass Sie es ernst meinen. Es gibt ein wundervolles Zitat aus der Bibel: So wie ihr mich von ganzem Herzen suchet, so will ich mich finden lassen.

Und ob Sie aus ganzem Herzen suchen wollen oder nicht, wissen Sie selbst am Besten, und das werden auch Ihre Kinder spüren.

Herzliche Grüße

Julia Peirano

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