Interview mit Sandro Wagner: „Ich bin zu mutig rangegangen“ – Sport

Schon auf dem Parkplatz am Sportpark der SpVgg Unterhaching ist das Gebrüll vom Rasenplatz zu hören. Jubelschreie in kurzen Abständen, es klingt wie bei einer Jugendmannschaft. Kommt man näher, sieht es auf den ersten Blick auch so aus: lauter junge Fußballer im Trainingsspiel. Zwischendrin sieht man dann aber den groß gewachsenen Sandro Wagner, 34, ehemals streitbarer Nationalspieler, Stürmer unter anderem beim FC Bayern München, seit vergangenem Sommer Co-Kommentator beim Sender Dazn – und im Hauptberuf Trainer in Unterhaching. Es handelt sich also um das Training seiner Männermannschaft, Achter in der Regionalliga Bayern. Im Interview im Hachinger Medienzimmer gibt es Erklärungsbedarf.

SZ: Herr Wagner, auf dem Trainingsplatz sind Ihre Spieler ja geradezu ausgeflippt eben. Woher kommt die Begeisterung?

Sandro Wagner: Wir versuchen, jede Übung im Wettkampfmodus zu gestalten, ich will in jedem Training Action. Und die Atmosphäre ist seit Tag zwei sehr gut. Weil die Jungs merken, dass sie ehrliches Feedback bekommen und dass ich mit jedem Spieler arbeiten will.

Was war an Tag eins?

Wir haben schwierige Umstände vorgefunden. Einige Spieler waren untereinander verkeilt, das war keine Mannschaft. Sicher auch durch den Abstieg aus der dritten Liga. Wir haben gesagt: Jeder bringt einen Zettel mit zum Abendessen, darauf steht, was ihn stört. Ich habe einen Rucksack hingelegt und gesagt: So, ihr ladet jetzt euren Rucksack bei mir ab. In jedem Bereich war etwas Kritisches dabei. Zum Beispiel: Obwohl ich nicht viel Einsatzzeit hatte, wurde nicht mit mir gearbeitet. Oder: Ich habe hier den Stempel, faul zu sein, bin aber gar nicht faul. Aber auch Sachen, die das Team betreffen, wie: Die Führungsspieler haben mir zu wenig geholfen. Wir haben das vor allen besprochen, und sie haben gemerkt: Die Trainer gehen ja auf jeden Punkt ein! Am zweiten Abend war das eine andere Mannschaft. Und das spüre ich bis heute. Wir haben versucht, Mauern einzureißen. Wir haben auch die Kabine neu gestaltet.

Wie müssen wir uns das vorstellen?

Der Kabinengang war dunkel, leere Flaschen standen herum. Jetzt leuchtet eine LED-Lampe auf das Haching-Emblem. In der Kabine waren noch Sachen drin von Spielern, die gar nicht mehr hier sind, die Spinde waren Müllhalden! Der Fernseher in der Kabine ist mein alter Fernseher. Anstatt aufs blöde Handy oder in die Luft zu schauen, können sich die Spieler beim Umziehen Videos ansehen, da zeigen wir Taktikszenen vom Training, vom Spiel gegen Bayreuth, oder auch mal von Inter Mailand gegen AS Rom. Und es gab ein Materiallager, das ist jetzt ein Stüberl. Da sitzen die Jungs vorm Training auf Sofas, wie ein Zuhause. Ich will ganzheitlich arbeiten, nicht nur den Ball auf den Platz werfen. Nach Weihnachten haben wir einen Geschäftsstellenvortrag gehalten darüber, was bei uns im sportlichen Bereich alles passiert. Was ist ausbaufähig, wie arbeiten wir jeden Tag, was haben wir vor? Von der Putzfrau bis zum Präsidenten waren alle da.

Das alles klingt nach der Begeisterung eines Neulings im Job und, mit Verlaub, vielleicht sogar ein bisschen übermotiviert.

Ich habe eine Riesenbegeisterung für den Trainerjob! Und wenn ich etwas mache, mache ich es richtig. Ich will nicht superklug klingen, ich mache das auch nicht alles alleine, sondern mit meinem Trainerteam und weiteren tollen Mitarbeitern. Und es ist ein Prozess. Klar gibt’s Dämpfer, die wehtun. Aber wir wollen neue Strukturen aufbauen. In der Hinrunde hatten wir sechs Tage gemeinsame Vorbereitung, jetzt hatten wir fünf Wochen – extrem spannend, was man da aufbauen kann!

In der Tabelle steht bislang ein nicht ganz so begeisternder Platz acht, 20 Punkte hinter Platz eins. Und Präsident Manfred Schwabl ist zwar voll des Lobes für Sie, sagt aber auch: Sandro Wagner hat sich den Job einfacher vorgestellt. Stimmen Sie ihm zu?

Was den Tabellenplatz angeht: Wir haben keinen sportlichen Ergebnisdruck, über allem steht die Entwicklung junger Spieler. Bis 2024/25, zum Hundertjährigen, wollen wir aufsteigen. Aber ja, ich habe mir die Liga ein bisschen einfacher vorgestellt. Ich bin überrascht, wie gut ausgebildet gerade die kleineren Teams sind. Und was ich noch gelernt habe: Als Cheftrainer bist du oftmals zwischen den Fronten. Der Berater und der Spieler haben eine Meinung, der Präsident hat eine andere. Sportlich willst du einen Spieler spielen lassen, wirtschaftlich verstehst du den Verein, dass er nicht auf Spieler mit auslaufenden Verträgen setzen will.

Das Flick-Salihamidzic-Dilemma.

Nicht ganz so, denn wir kommen sehr gut miteinander aus! Das Ziel des Vereins ist klar, wir wollen uns entwickeln. Dann lassen wir jetzt lieber den U19-Spieler spielen. Bei Bayern ist das anders, die müssen Niklas Süle spielen lassen, obwohl er nach Dortmund geht, weil sie die Champions League gewinnen wollen. Wenn wir um den Aufstieg spielen würden, wäre es auch bei uns anders.

“Wenn sich junge Spieler super entwickeln, kannst du sie nicht über drei Jahre halten. Da sind bei uns schon ein paar Diamanten dabei.”

Welche Fehler haben Sie in Ihrem ersten halben Jahr als Trainer gemacht?

Ich bin zu mutig rangegangen, wollte zu schnell zu viel. Meine Spielweise basiert auf Pressing, ständigem Attackieren. Dazu brauchst du eine hohe Grundfitness, die meine gesamte erste Elf nicht hatte. Wir hatten einige Spieler, die hatten eineinhalb Jahre nicht Fußball gespielt. Die konnten nicht über 90 Minuten Gas geben. Die Gegner waren eingespielt. Da hätte ich etwas moderater spielen lassen können.

Kann man als Trainer auch in Aubstadt etwas lernen, wo Sie zum Saisonauftakt mit Ach und Krach 0:0 spielten?

Ich find das total interessant, die Ansätze von Aubstadt. Mit dem Trainer bin ich seitdem in Kontakt. Oder Heimstetten, die spielen im Abstiegskampf noch hinten raus. Ich versuche wie ein Freak, mir alle Informationen zu holen.

Wenn man als ehemaliger Nationalspieler in Aubstadt nicht gewinnt, was bekommt man da zu hören?

Ich habe in der Liga keine negativen Erfahrungen gemacht, im Gegenteil: Ich werde echt freundlich empfangen. Und ich habe tolle Flecken kennengelernt: Ich war zum Beispiel vorher noch nie in Schalding. Da gab’s dann eine Pressekonferenz draußen im Flutlicht vor hundert Leuten. “Magst du noch ‘ne Wurscht oder ein Bier?”, wurde ich gefragt. “Das jetzt nicht”, habe ich gesagt. Aber es macht Spaß. Ich war ein Arschloch auf dem Platz, deshalb hat man mich unter einem anderen Image abgespeichert, mit dem Image habe ich auch gespielt. Aber eigentlich bin ich ein netter Kerl, das merken die Leute jetzt auch.

Wagner wurde beim FC Bayern ausgebildet – und kehrte zur Rückrunde der Saison 2017/18 zu den Münchnern zurück. Im Champions-League-Halbfinale duellierte er sich auch mit Real Madrids Gareth Bale (Mitte) und Sergio Ramos (li.).

(Foto: Bernd König/Imago)

Im Sommer haben Sie viel von Ihrem Werkzeugkasten als Trainer gesprochen, den Sie fortan füllen wollen. Was ist dazugekommen?

Viele Sachen. Ich hatte jetzt meine erste Vorbereitung, und es war total cool, die habe ich seit Oktober geplant. Wie können wir unsere Spielidee in allen Ebenen von Torwart-Aufbau bis ins letzte Drittel mit Ball weiterentwickeln? Aus verschiedenen Ansätzen entwickelt man seinen eigenen Stil. Und Nuancen ändert man immer wieder. Einen Laufweg von einem Rosenheim-Spieler, den hatte ich so noch nie gesehen, nicht mal in der Bundesliga. Ich weiß gar nicht, ob er den wollte. Aber er ist so gelaufen, dass man es ganz schwer verteidigen konnte. Da habe ich gesagt: Jungs, das müssen wir einbauen! Da darf man keine Eitelkeit haben. Ich hole mir von jedem irgendwas rein. Ich habe schon mit Mitte zwanzig gewusst, dass ich Trainer werden will, und habe Ordner angelegt.

Was für Ordner?

Meine Frau sagt: Miste sie bitte aus. Aber ich liebe die. Ich habe von jedem meiner Trainer Sachen gesammelt, egal von welchem: Heynckes, Nagelsmann, Löw, Schuster, Kovac, Luhukay, Neururer, Hitzfeld … ihre Taktik. Oder wie sie sich verhalten haben, wenn wir drei Spiele gewonnen oder verloren haben. Wie sie Zugänge und Weggänge kommuniziert haben. Zuletzt habe ich bei zwei Trainern noch mal nachgeschaut, wie sie ihre Vorbereitung aufgebaut haben.

Und dann wenden Sie deren Trainingsformen an?

Nee, ich orientiere mich daran – aber entwickle eigene. Ich bin zum Beispiel ein Riesenfan von Julian (Nagelsmann, Anm. d. Red.), wie er taktisch spielen lässt, mag aber auch nicht jedes Detail davon.

Was fasziniert Sie an Nagelsmanns Fußball?

Seine Statik im Spiel ist sehr interessant. Es ist auch interessant, wie er schon Anfang der Woche trainieren lässt, die Schwachstellen des Gegners auszunutzen, und sein Plan geht fast immer auf. Oder die Position von Robert Lewandowski: Julian hat es geschafft, ihm zu vermitteln, die Laufwege raus zu machen aus der Zone, wo du Tore schießt, um Räume frei zu machen im Rücken. Und neben dem Inhaltlichen: Egal mit wem man spricht im Umfeld, die mögen ihn alle. Er hat einfach was Besonderes.

Wir haben uns sagen lassen, dass in der Hachinger Kabine auch die Spielprinzipien zu lesen sind – wie bei Nagelsmann.

Das hat Julian ja nicht erfunden, das hätte ich so oder so gemacht (lacht). Bei Julian sind es 31 Prinzipien, weil er sagt, es kann sich zwar kein Spieler 31 merken, aber wenn sich der Spieler 18 merkt, ist das besser als zehn. Bei uns sind es weniger, wir haben es in Spielphasen aufgeschlüsselt, drei mit und drei gegen den Ball, und dazu jeweils die Prinzipien.

“Bei unserer U13 oder U14 hieß es: Der hat Samstag gespielt, der kann am Montag nicht voll trainieren. Da sage ich: Habt ihr sie noch alle?”

Worum geht’s denn sportlich in dieser Saison für Unterhaching noch?

Entwicklung! Wir haben von allen Vereinen der obersten vier Ligen in Deutschland die meisten U19-Spieler spielen lassen. Das ist der Weg hier: die Jungs sofort in den Erwachsenenfußball zu schicken. Und natürlich ist mein 17-jähriger Torwart dann mal nervös, mein 17-jähriger Mittelfeldspieler macht Fehler. Aber das kalkulieren wir ein.

Auch weil der Verein davon lebt, Spieler zu verkaufen?

Das ist das A und O. Es ist schwierig, einen Verein wie Haching finanziell auf eine gesunde Basis zu stellen, ohne Spieler zu verkaufen. Wenn sich junge Spieler super entwickeln, kannst du sie nicht über drei Jahre halten. Da sind bei uns schon ein paar Diamanten dabei. Und es kommt weiter viel nach. Unsere U19 steht in der Bundesliga auf Platz acht, unsere U17 ist ein herausragender Jahrgang. Wenn Sie mich fragen, wo ich meine Kinder hinschicken würde: nicht zu Bayern, nicht zu Sechzig, sondern zu Haching.

Warum?

Du hast hier eine Nische. Wie schnell schaffst du es hier in den Profifußball? Bei Bayern kommt ein Fünfzehnjähriger aus den USA. Bei Sechzig ist die Ausbildung sehr, sehr verbissen. Hier hast du einen Präsidenten, der jeden Zwölfjährigen kennt und sich die Schulzeugnisse anschaut. So kann Haching eine Vereins-DNA aufbauen, die eigentlich noch mehr Bekanntheit verdient hat.

In der Tat ist der aktuelle Marketing-Claim ein bisschen schief. Er lautet: “Uns schreibt man wir”…

Das kenne ich ja aus der Bundesliga. Jeder Verein hat heutzutage so einen Spruch. Keine Ahnung, ich bin kein Marketing-Fachmann. Manni Schwabl sagt zu mir immer: “Attacke mit Hirn”. Das hätte doch was (lacht).

Wo Sie sich nun auch übers Klubmarketing Gedanken machen: Ist denn geplant, dass Sie 2024/25 beim Aufstieg noch dabei sind?

Das weiß ich nicht. Das hört sich jetzt saublöd an, wie beim Interview mit einem 18-jährigen Fußballer, bei dem der Pressesprecher danebensitzt. Aber ich weiß wirklich nicht, was in dreieinhalb Jahren ist. Und meinen Job würde ich genauso energisch machen, wenn ich in einer Woche weg wäre. Es ist ein Jackpot, hier trainieren zu dürfen. Ich bin auf der höchsten Ebene, auf der ich ohne abgeschlossene Fußballlehrer-Ausbildung trainieren kann. Und ich kann mich voll mit dem Weg des Vereins identifizieren.

Momentan ist ihr anderer Job als Co-Kommentator für Dazn wahrscheinlich noch der bekanntere.

Das ist lustig, denn das ist quasi mein Hobby, das mich nebenbei noch für den Trainerjob schult. Ich kann mit Spielern sprechen, mit Sportdirektoren. Ich muss vor den Spielen und live Taktiken analysieren mit dem Druck, richtigliegen zu müssen – sonst heißt es am nächsten Morgen: Was hat der Wagner für einen Mist geredet? Ich sehe, wie die Medienwelt arbeitet. Das ist die perfekte Schule. Und es macht noch Spaß. Und ich kriege noch Geld.

Sandro Wagner: "Das ist die perfekte Schule. Und es macht noch Spaß. Und ich kriege noch Geld": Wagner beim Dazn-Gespräch mit Bayern Münchens Vorstandschef Oliver Kahn.

“Das ist die perfekte Schule. Und es macht noch Spaß. Und ich kriege noch Geld”: Wagner beim Dazn-Gespräch mit Bayern Münchens Vorstandschef Oliver Kahn.

(Foto: Michael Weber/Imago)

Wieviel Dazn-Wagner steckt denn noch im Haching-Wagner?

Das ist etwas anderes. Vor der Kamera ist das ein Frage-Antwort-Spiel. Wenn ich vor der Mannschaft stehe, muss ich flüssig über 20, 30 Minuten vortragen.

Mal abgesehen von Nagelsmann: Welche Trainerleistungen beeindrucken Sie noch?

Mich beeindruckt, was Christian Streich in Freiburg macht, wie pragmatisch der seine Mannschaft einstellt, wie diszipliniert die spielen, und das über ein Jahrzehnt hinweg. Und er hat diese menschliche Komponente, obwohl sie auch in Freiburg Millionen verdienen. Das Wichtigste als Trainer ist Empathie. Immer. Auch wenn du taktisch nicht die hellste Kerze auf der Torte bist. Wobei es mein absoluter Anspruch ist, das zu sein. Aber selbst wenn es so wäre, kannst du mit Empathie sehr viel rausholen.

Und Sie wollen beides verbinden?

Absolut! Viel Empathie, viel Inhalt – und auch etwas Old School, Stichwort Tiger, Hermann Gerland.

Was ist bei Ihnen Old School?

Ich sag’s mal so: Der Tiger ist ein Fan von ganz spezieller Belastungssteuerung (lispelt jetzt wie Gerland): “Erst belasten, dann kannste steuern!” Und das ist richtig. Bei unserer U13 oder U14 ging’s mal um Belastungssteuerung. Da hieß es: Der hat Samstag gespielt, der kann am Montag nicht voll trainieren. Da sage ich: Habt ihr sie noch alle? Ich bin auch mit Horst Hrubesch in Kontakt, der zu solchen Themen gute Meinungen hat.

Auch ein früherer Trainer von Ihnen, bei der U21-Nationalmannschaft. Wie groß ist Ihr Netzwerk?

Der Fußball ist wie eine Zirkusfamilie. Ich war bei vielen Bundesligavereinen. Irgendwann kennst du überall jemanden. Wenn ich bei Dazn kommentiere, schreiben mir immer wieder Bundesliga-Spieler, Trainer und Manager.

Zum Beispiel?

Mir hat ein Trainer mal geschrieben, wieso ich den Awoniyi von Union Berlin so hochlobe. Ich habe geantwortet: Schau mal, was er für ein geiler Wandspieler ist! Dann kam ein verwirrtes Emoji – und später: Stimmt, hat er echt gut gemacht.

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