Hier kommt die Sonne – Reise

Erwartet hatte ich nicht viel, was ja manchmal das Beste ist. Es war eine Idee einer Freundin, die damals in Tel Aviv lebte und die fröhlich vorgeschlagen hatte: Komm, lass uns ans Rote Meer fahren! Und dann, nach ein paar Schnorchel-Tagen dort: Wollen wir nicht auf den Berg Sinai?

Nächtens stiegen wir in Dahab in ein schlecht gefedertes Taxi, schaukelten über bucklige Pisten, passierten Checkpoints und hielten irgendwann in schwarzer Dunkelheit. Hier geht’s hoch? Ah, da vorne ist eine Mauer zu sehen – Begrenzung des Katharinenklosters, Unesco-Weltkulturerbe. Wir leuchteten uns mit Taschenlampen den Weg, müde und aufgeregt zugleich, stiegen unfassbar viele steile Steinstufen hinauf, bis wir in der blauen Stunde die Umrisse des Gipfels ausmachten. Und dann, in der Kühle des Morgens, standen wir leicht atemlos oben, auf 2285 Metern, dort, wo Moses der biblischen Überlieferung nach die Zehn Gebote erhalten hat.

Die ersten Sonnenstrahlen blinzelten, eine Gruppe amerikanischer Gläubiger fing an, Gospels zu singen, sie feierten ihren Lord, priesen Jesus, tanzten. Das Licht fiel weich auf die zackigen Felsen vor uns, ließ sie rötlich schimmern, und ich Ungläubige war vollkommen überwältigt (was ist das für ein magischer Ort!), gerührt (wie schön die singen können!), staunte still. Nie hätte ich geahnt, wie erhebend es sein kann, hier oben zu stehen.

Es ist mehr als zwei Jahrzehnte her. Die buckligen Pisten, habe ich gehört, sind nicht mehr so bucklig. Wer hoch möchte, braucht einen Führer. Aber alle, die dort gewesen sind, werden die gleiche Erfahrung teilen: Wie wenige Minuten im Morgengrauen reichen, um sich für immer in der Erinnerung einzubrennen.

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