Friedemann Karig im Interview: “Ich will dieses System nicht umstürzen”

“Was ihr wollt: Wie Protest wirklich wirkt” heißt das neue Buch von Friedemann Karig. Im stern spricht er über die öffentliche Wahrnehmung der aktuellen Proteste und seine Enttäuschung über die politischen Reaktionen.

Aufgebrachte Bauern rollen mit ihren Traktoren durch die Innenstädte. Grüne Parteiveranstaltungen werden gesprengt. Millionen gehen gegen rechts auf die Straße. Die Zeiten sind unruhig, und wie es scheint, hat Autor und Podcaster Friedemann Karig genau das richtige Buch dafür geschrieben. “Was ihr wollt. Wie Protest wirklich wirkt”, heißt es, und Karig beschäftigt sich darin mit zivilem Ungehorsam, gewaltfreiem Protest und den großen progressiven Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts.

Seit Wochen sind mehrere Hunderttausend Menschen auf der Straße, um gegen rechts zu protestieren. Warum haben diese Proteste noch immer einen so großen Zuspruch?

Weil es ums Ganze geht. Der Protest auf der Straße gegen die AfD und gegen Rechtsextremismus war lange überfällig. In den letzten Jahren gab es zwar immer wieder antifaschistische Gegendemonstrationen, aber keine nationale und langfristige Protestbewegung. Viele Menschen in diesem Land machen sich aber zurecht große Sorgen darüber, wo die AfD in Umfragen steht, über ihre Pläne und ihre Radikalisierung in den letzten Jahren. Manchmal reicht dann ein Funke, wie die “Correctiv”-Recherche. Dass es den gebraucht hat, ist ein gutes Beispiel für das immens große, aber brachliegende Protestpotenzial, das wir nicht nutzen.

Erstaunlicherweise gibt es aktuell keine klar definierten Forderungen. Es geht gegen rechts, vielleicht noch gegen die AfD. Aber bei Teilnehmer:innen herrscht kein Konsens über ein AfD-Verbot, und selbst über die Vokabel “rechts” wird öffentlich gestritten. Lebt der derzeitige Protest also durch seine Vagheit?

Ja, der Protest ist vage in seinen Forderungen, aber das ist in diesem konkreten Fall auch legitim, weil politisch so viel versäumt wurde, dass man fast bei Null anfängt. Es ist auch nicht die Aufgabe eines Protestes, Politiker:innen vorzukauen, was im Detail zu tun ist. 

Protest kann durchaus sehr spezifische Forderungen haben – man denke beispielsweise an die Letzte Generation, die quasi einzelne Gesetze herbeiblockieren will. Protest kann aber auch unkonkreter sein, wie bei Fridays for Future, die sagen, man solle das 1,5-Grad-Ziel einhalten, wie genau die Regierung das schafft, ist ihnen zweitrangig. In diesem Fall richtet sich der Protest aber eigentlich gegen eine ganze Ideologie. Für eine Regierung, die aktiv gegen Rechtsextremismus vorgehen will, leiten sich trotzdem selbstverständliche Handlungsaufrufe ab. Eine Pflicht wäre es, die Gelder für Deradikalisierungsprogramme massiv zu erhöhen und gegen Neonazis als Angestellte der AfD vorzugehen.

Wie wirksam kann ein solcher Protest überhaupt sein?

Die Politik hat meines Wissens nach mit kaum einem konkreten Schritt auf die Proteste reagiert. Das ist ein unfassbares Versäumnis und sagt wirklich nichts Gutes über die Handlungsfähigkeit unserer Regierung aus. Protest kann schonungslos offenlegen, wer eigentlich auf welcher Seite steht. Diese Regierung hält sich gerade weitgehend raus, und dieser Zustand muss beendet werden.

Friedemann Karig: Wir haben die Regeln gemacht und müssen sie ändern

Mit der SPD und den Grünen sind zwei Parteien in der Regierungskoalition, die sich selbst wohl links der Mitte einordnen würden. Wieso tun sie sich so schwer mit einer Reaktion?

Ich verstehe das überhaupt nicht. Die AfD wird die Demokratie zerstören, wenn sie kann – das muss uns allen völlig klar sein. Das Thema ist so übergeordnet wichtig, dass es sich eigentlich keine demokratische Regierung erlauben kann, nicht aktiv zu werden und auf den Protest einzugehen. Es wäre sehr einfach gewesen, wenigstens mit Geldern, und Rhetorik stärker darauf zu reagieren. Und mittelfristig auch legislativ neue Wege zu finden, wenn man nur wirklich will. Noch ist die Haltung zu oft: “Wir haben die Regeln nicht gemacht”. Dabei stimmt das nicht: Wir haben die Regeln gemacht, und wenn Rechtsextreme davon profitieren, müssen wir sie sofort ändern. Sonst ist es zu spät.

Ich bin ehrlich gesagt gespannt, ob dieses Aussitzen, was Olaf Scholz von Angela Merkel geerbt hat, durch weitere Proteste beendet werden kann. Dazu müsste man aber tatsächlich konkreter in den Forderungen werden.

Wie wirkt der Protest auf seine eigenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer?

Proteste brauchen einen gewissen Organisationsgrad, eine gewisse Selbstversicherung und ein Gruppenbewusstsein der Selbstwirksamkeit. Alle Individuen müssen das Gefühl bekommen, dass sie wirklich etwas bewegen können. Viele Menschen haben sich gegenüber dem Phänomen Rechtsextremismus lange ohnmächtig gefühlt. Die Proteste sind ein erster Schritt aus der erlernten Hilflosigkeit. 

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie sich selbst über Proteste gegen Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Mölln politisiert haben. Bedeutet Protest gegen “rechts” heute etwas anderes als noch vor 20 oder 30 Jahren?

Wir haben jetzt eine Partei, die Rechtsextremismus abbildet, die im Bundestag und Landtagen sitzt und in einigen Bundesländern droht, stärkste Partei zu werden. Das ist ein riesiger Unterschied. Diese Institutionalisierung gab es in den Neunzigern nicht. Und beim NSU und in Hanau haben wir zudem eine viel stärkere Gewalt der Extremisten gesehen. 

Darüber hinaus haben wir inzwischen einen ganz anderen Antirassismus-Diskurs als damals. 

Die Gesamtgesellschaft hat ein anderes Verständnis für strukturelle und sprachliche Gewalt entwickelt, was ich gut finde. Wir reden ganz anderes über Wörter und Rassismen im Alltagsgebrauch und sind ein kleines bisschen aufmerksamer geworden für die internalisierten Mechanismen, für die Anschlussfähigkeit von menschenfeindlichem und rassistischem Gedankengut und für die immer akute Gefahr für die Demokratie von rechtsaußen.

Wie kann man diesen Gefahren entgegentreten?

Wir haben in den letzten Jahren in vielen europäischen Ländern und vor allem auch in den USA gesehen, wie schnell Neofaschisten und Antidemokraten an die Macht kommen können und was daraus folgt. Wenn man sich zum Beispiel mit Polen beschäftigt, ist es wirklich gravierend, wie demokratische Institutionen zerstört wurden. Ich glaube, wir stehen angesichts dieser immensen politischen Spannung vor zwei Grundsatzentscheidungen: Was erlauben wir Extremisten an antidemokratischem und zerstörerischem Verhalten? Und wie wollen wir die Klimakrise in den Griff kriegen? Es gibt kein “Weiter so”, es gibt keinen Status quo, den man so bequem in die Zukunft verlängern kann. Es geht wirklich ans Eingemachte.

Welche Rolle kann Protest dabei spielen?

Generell nutzen wir alle unsere demokratischen Rechte heute noch zu wenig. Wir gehen vielleicht mal wählen, sind aber immer weniger in Parteien organisiert und protestieren nur im Ausnahmefall. Meine These ist, dass wir aber in eine Zeit schauen werden, in der Protest viel allgegenwärtiger wird. Eine kleine, überzeugte Minderheit versteht, dass es allerhöchste Zeit ist, sich aktiver um die Dinge zu streiten, die uns wichtig sind. Das ist ein großer Unterschied zu den Neunzigern, als man glaubte, das Ende der Geschichte sei erreicht, und der Westen hätte gesiegt. 

Ökonomie und Ökologie der Aufmerksamkeit

In Ihrem Buch sprechen Sie über die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Wir alle verdrängen täglich unangenehme Wahrheiten. Woher weiß ich, welchen Kampf es zu kämpfen gilt?

Die Frage, welchen politischen Problemen und Konflikten wir Aufmerksamkeit schenken, ist die wohl am heftigsten umstrittene unserer Zeit. Es gibt sehr viele Akteure, die mit unlauteren Mitteln um Aufmerksamkeit kämpfen, denken wir zum Beispiel an neurechte Nachrichtenportale wie das von Julian Reichelt, wo es eigentlich nur noch um die strategische Vergiftung des Diskurses geht. Die erste Aufgabe vom demokratischen Protest ist es daher, friedlich und faktenorientiert zu bleiben. 

Die Letzte Generation war ja schon optimiert auf diese Ökonomie der Aufmerksamkeit. Die haben sich auf die Straße geklebt, weil man mit relativ wenig Aufwand relativ viel Aufmerksamkeit generieren konnte. Wenn man aber langfristig erfolgreich sein will, muss man sich sehr genau überlegen, wie diese Aufmerksamkeit strukturiert wird. Protest muss kommunikativ ganz klar in Protagonisten und Antagonisten einteilen, muss den moralischen Konflikt glasklar herausarbeiten. Da geht es dann eher um die Ökologie der Aufmerksamkeit, also die anderen Wechselbeziehungen eines Diskurses, seine Rollen und Reibungen. 

Wer sind denn die Protagonisten und wer die Antagonisten? 

Die großen Konflikte unserer Zeit sind überhaupt nicht so komplex, wie wir uns immer weismachen wollen. Nehmen wir ein Problem wie die Klimakrise: Wir müssten einfach aufhören, CO2 zu emittieren, dann wird die Katastrophe abgewendet. Es gibt aber viele Leute, die mit der Zerstörung der Welt unfassbar reich werden: Ölkonzerne, Chemiekonzerne, Schwerindustrie, denen völlig egal scheint, was sie in die Atmosphäre ausstoßen, und die uns von diesem Wandel abhalten wollen. Und es gibt Politik, die das ermöglicht. Diese kann und muss man beeinflussen.

Und das Problem des ansteigenden Rechtsextremismus? 

Es gibt in Deutschland immer noch sehr viele rechtsextreme Straftäter, die rechtskräftig verurteilt sind, aber nicht bestraft werden. Lasst uns die Aufmerksamkeit dorthin richten. Lasst uns die Justiz dazu ermutigen und ertüchtigen, diese Urteile durchzuziehen. Wenn man die Aufmerksamkeit in großem Maße und auf die richtige Art und Weise auf ein Problem richtet, passieren manchmal magische Dinge. Siehe “Correctiv”-Recherche: Große Aufmerksamkeit auf einen sehr kleinen Anlass – und auf einmal ist halb Deutschland auf den Straßen.

Ihr Buch sollte eigentlich einmal die “Revolution” im Titel tragen. Warum haben Sie sich erst dafür und dann doch dagegen entschieden?

Das ist richtig, aber ich meinte damit keine Revolution im Wortsinne. Ich will dieses System nicht umstürzen. Ich will, dass es besser funktioniert. Dazu braucht es keine Revolution, sondern eher eine Evolution, eine neue Version an Gesellschaft und unserer Teilhabe.

Ist Deutschland aus Ihrer Sicht ein protestunfreundliches Land?

Ja. Das ist einerseits natürlich berechtigt, weil uns immer noch in den Knochen steckt, dass der Nationalsozialismus nicht von oben aufgezwungen wurde, sondern, wie Thomas Mann schreibt, eine “funkensprühende Revolution” war. Sehr viele Leute dachten damals wirklich, ihr Leben wäre ohne Demokratie besser. Es endete in der absoluten Katastrophe. 

Deswegen sind wir misstrauisch gegenüber jeglicher Form von politischer Energie. In Frankreich sehen wir zum Beispiel, dass es auch im demokratischen Rahmen eine ganz andere Form von Protestkultur geben kann. Die fehlt uns leider. Wir sind ein sehr bequemes, ängstliches Land und dazu noch Weltmeister der Verdrängung. In den nächsten zehn Jahren werden wir, denke ich, aber noch viel mehr Proteste sehen – ich habe nur Befürchtungen davor, von welcher Seite die kommen. 

Sie sprechen die Unterwanderung der Proteste der Landwirte von rechten Grupppen an. Was bieten diese Parteien den Menschen, was linke Parteien Ihnen nicht bieten können?

Die Bauernproteste sind ein gutes und schlechtes Beispiel dafür, weil sich da legitime Anliegen mit rechtsextremer Unterwanderung, antidemokratischen Zügen und handfester Gewalt vermischen. Aus dieser Bewegung wurden selbst Regierungsvertreter wie Robert Habeck oder Ricarda Lang angegriffen, was mir noch viel zu wenig skandalisiert wird.

Rechtspopulismus bietet natürlich immer die berühmte einfache Antwort und das einfache Mittel. Wir blockieren die Politiker, damit sie uns nicht weiter Geld wegnehmen können, also Subventionen streichen. Dafür zu mobilisieren ist natürlich immer leichter, als sich produktiv am demokratischen Diskurs zu beteiligen. 

Gleichermaßen ist es die einfache Antwort, so zu tun, als wäre das System kaputt, nur weil das System nicht macht, was ich möchte. In den USA ist jemand damit Präsident geworden. Wir dürfen auf diese Unterkomplexität nicht hereinfallen. Wir sehen ja gerade, wie Mitte-Links-Bewegungen sehr viel mehr Leute auf die Straße bringen als die Bauernproteste. Wenn ein Rechtspopulist auf die Straße geht, ist die Aufmerksamkeit und Angst groß, wenn 100.000 Demokrat:innen auf die Straße gehen, ist es kaum eine Nachricht. 

Wird in der deutschen öffentlichen Wahrnehmung bei Protesten von links und rechts also mit zweierlei Maß gemessen?

Ja, absolut. Man hat einfach sehr viel häufiger Angst vor rechts, anstatt sich wehrhaft dagegen zu stellen. Bei den Bauernprotesten kuscht man zum Beispiel und rudert sofort zurück. Gleichzeitig tut man linke Proteste immer ein bisschen mehr als gratismutig ab und reagiert nicht darauf. Das ist natürlich ein Ungleichverhältnis, welches Demokrat:innen frustrieren kann. 

Sie beziehen sich in Ihrem Buch viel auf Fridays for Future und die Letzte Generation. Beide Organisationen schaffen viel Aufmerksamkeit, und trotzdem wird öffentlich in diesen Monaten kaum über das Klima gesprochen. Woran liegt das?

Fridays for Future hat dieses Thema überhaupt erst in diesem Maße in die Öffentlichkeit gebracht. Davor lag es 20 Jahre lang brach. Das war schon ein riesiger Erfolg. Als die angefangen haben, hatten wir kein Klimaschutzgesetz, kein Klimaschutzurteil vom Verfassungsgericht und keine Grünen in der Regierung. Aber das war noch zu wenig. 

Die Letzte Generation, als weitere Eskalationsstufe, hat es ihren Gegnern zu leicht gemacht, sie zu antagonisieren, anstatt die Blockierer in der Regierung und der CO2-Industrie in die Rolle der Schurken zu bringen. Nun versuchen sie ihren Protest, über sogenannte “ungehorsame Versammlungen” mehr zu den wahren Antagonisten zu tragen. Da freue ich mich drauf.

Und doch fühlen sich junge Menschen nicht mehr so sehr von den Klimaprotesten abgeholt wie vor der Pandemie, oder etwa nicht?

Ich glaube, man war damals schon zu schnell mit diesem Generationenbegriff. Diese Generation galt eine Weile als sehr grün und hat dann bei der Bundestagswahl überproportional viel FDP gewählt. Protest funktioniert aber auch immer in Frustrationswellen. Die Leute aus der Gen Z, die mit Fridays for Future auf die Straße gegangen sind und sich darüber politisiert haben, mussten lernen, dass die Politik sie im Zweifelsfall ignoriert. Die Klimakrise ist aber so umfassend und essenziell, dass mich alles außer einem anhaltenden massiven Protest überraschen würde.

Welche Rolle spielen wir Medien, die über Proteste berichten?

Ich fand es erschreckend, wie lange die deutschen Medien keine Antwort auf die Letzte Generation gefunden haben. Das ist ein Grund, warum ich mich entschieden habe, dieses Buch zu schreiben. Statt sich wissenschaftlich mit Protestbewegungen auseinanderzusetzen, hat man beleidigte Kommentare geschrieben oder reproduziert, was andere Leute bereits für beleidigte Kommentare ins Internet geschrieben haben. 

Im Endeffekt ist der Journalismus den Provokationen auf den Leim gegangen. Da werden zum Beispiel in den Museen “Kunstwerke zerstört”, was faktisch einfach nicht richtig ist. Dann folgt die Beschwerde, dass die Aufmerksamkeit nur auf den beschmierten Kunstwerken liegt und nicht auf den wahren Problemen. Das finde ich eine sehr lustige Feststellung aus den Medien, weil sie es ja sind, die entscheiden, wo die Aufmerksamkeit hingeht. Diese Argumentation ist so unterkomplex, dass es für Qualitätsjournalismus ein sehr großes Armutszeugnis darstellt.

Zur Person

Friedemann Karig (*1982) betreibt gemeinsman mit Samira El Ouassil den Podcast “Piratensender Powerplay”. Nach seinem literarischen Debüt “Dschungel”, erschien 2017 sein zweites Buch “Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie.” 2021 schrieb er zusammen mit Samira El Ouassil das Buch “Erzählende Affen”, welches zum Bestseller wurde und eine Nominierung für den Deutschen Sachbuchpreis erhielt. 

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