Frauenhäuser als Schutzraum: “Manchmal schrie sie – aber lautlos”

Jedes Jahr fliehen über 16.000 Jungen und Mädchen mit ihren Müttern in Frauenhäuser – und versuchen dort, die Schrecken der Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Sie leben abgeschirmt hinter einem hohen Zaun, aber sie fühlen sich frei. So frei wie seit Monaten, seit Jahren nicht mehr. Das Haus, in dem sie wohnen, fällt nicht auf zwischen vielen anderen. Nur wenige wissen, wer hinter den Sicherheitsfenstern kocht, schläft und spielt. Nur wenige wissen, dass das Haus in der Nähe von Nürnberg ein Frauenhaus ist. Mit falschen Namen an der Klingel, mit einer videoüberwachten Eingangstür, die sich nur öffnet, wenn Mitarbeiterinnen sie entsperren. Mit einer Adresse, die nicht genannt werden darf, weil die Bewohnerinnen und ihre Kinder geflohen sind. Nicht vor Krieg, Armut oder politischer Verfolgung, sondern vor dem eigenen Ehemann, dem eigenen Vater.

Aufs Jahr gerechnet werden in Deutschland jede Stunde 13 Frauen Opfer häuslicher Gewalt durch ihre Partner. Beinahe täglich versucht ein Mann, seine Frau oder Ex-Frau umzubringen. Beinahe jeden dritten Tag gelingt es einem. Jährlich suchen hochgerechnet über 14.000 Frauen Schutz in Häusern wie jenem bei Nürnberg, und mit ihnen kommen mehr als 16.000 Mädchen und Jungen. In Frauenhäuser flüchten also mehr Minderjährige als Erwachsene. Die Kinder haben Gewalt gesehen. Sie hörten die Schreie und das Weinen ihrer Mütter. Waren Zuschauer eines Films, den sie nicht abschalten konnten. Manchmal spielten sie sogar die Hauptrolle. Das Frauenhaus ist für sie ein Zuhause auf Zeit. Eine Notunterkunft, bevor es weitergeht.

Yvonne Hohnhausen am Tisch mit einem Mädchen

Yvonne Hohnhausen ist Traumapädagogin. Sie arbeitet seit 25 Jahren im Frauenhaus

© Sonja Och/stern

Yvonne Hohnhausen, 44 Jahre alt, graue Haare, eisblaue Augen, beim Sprechen ein rollendes R, sitzt auf einem runden Stoffteppich. Um sie herum fünf Kinder. Die Jüngste zwei, der Älteste fünf. Sie lärmen mit Rasseln und Holzklappern, schlagen mit Holzstäben auf ein Xylofon ein. Hohnhausen spielt Gitarre und gibt den Ton an, die Kinder versuchen mitzusingen: “Zwischen Wagemut und Ängsten nimmt das Leben seinen Lauf. Schritt ins Offne, Ort zum Atmen. Hinter mir Vergangenheit, mit dem Blick in meine Zukunft, mache ich mich endlich frei.”

Hohnhausen ist Trauma- und Diplom-Sozialpädagogin, arbeitet seit 25 Jahren im Frauenhaus und kümmert sich mit zwei Kolleginnen um die Kinder, die mit ihren Müttern hierherkommen. Nach ein paar Liedern legt sie die Gitarre beiseite. Die Kinder verteilen sich im Raum. Ein Mädchen spielt mit Puppen. Ein Junge baut eine Burg aus Lego-Steinen. Zwei weitere schieben eine Eisenbahn über Holzschienen. Ein paar Zimmer weiter büffeln einige der Mütter Deutsch-Vokabeln.

“Ich schmeiße dich aus dem Fenster und kaufe mir ein neues Kind”

Im Spielzimmer am Basteltisch sitzt die vierjährige Ela*. Sie trägt ein rosafarbenes Kleid. Vor der Tür stehen ihre Einhorn-Pantoletten, erzählt sie stolz. Sie lacht laut, wenn ihr etwas gefällt. Und ihr gefällt viel. Erst gestern hat sie freudig quietschend eine Blume im Garten geküsst, weil es sie so glücklich machte, dass die Pflanze gewachsen war. Über ihren Vater spricht Ela kaum. Auch nicht über das, was sie, ihre beiden älteren Geschwister und ihre Mutter vor drei Monaten hierhergebracht hat. Nur ganz am Anfang hat sie einmal zu Yvonne Hohnhausen gesagt: “Zu Hause war es ekelhaft. Immer habe ich mich gefürchtet. Immer habe ich mich versteckt.”

Elas Familie stammt aus Afghanistan und ist 2015 aus dem Iran nach Deutschland gekommen. Das Mädchen hat drei erwachsene Halbgeschwister, die beim Vater geblieben sind. Mit ins Frauenhaus geflohen sind Elas 16-jährige Schwester Ayla und der neunjährige Bruder Malik. Seine Mama habe das Haus nicht verlassen dürfen, erzählt Malik. Der Vater habe verboten, dass sie Deutsch lernt. Nur am Handy sei er gewesen, kein bisschen hätten ihn seine Kinder interessiert. “Er hat uns immer wieder angeschrien und gebrüllt: ‘Ich schmeiße dich aus dem Fenster und kaufe mir ein neues Kind.’ Dabei ist meine Schwester doch noch so klein. Kleine Kinder hüpfen eben auf dem Sofa.”

Zu Hause war es “ekelhaft”, sagt die vierjährige Ela. Jetzt fühlt sie sich endlich sicher

© Sonja Och/stern

Malik steht auf. Tritt in die Luft, rammt seine Fäuste in Richtung Boden. “So hat er seine großen Töchter geschlagen”, sagt der Junge. “Ich habe auch gesehen, wie er meine Mutter geschlagen hat. Obwohl Ayla meinte, ich soll Ela nehmen und mich verstecken.” Mehrfach trat sein Vater seiner Mutter in den Rücken und schlug sie mit der Faust. Alles nur, weil sie ihn bat, sich auch mal um die Kinder zu kümmern. Und es war nicht das erste Mal.

“Ich träume jede Nacht davon, wie mein Papa mit Mama streitet. Warum ist er so?”, fragt Malik. Dann sagt er leise: “Ich vermisse mein Zuhause – es war so schön. Aber zu meinem Vater will ich nie wieder.” Die Muskeln in seinem Gesicht sind hart, sein Blick geht Richtung Boden. Ein Junge, der mit Malik im Spielzimmer sitzt, kommt zu ihm und umarmt ihn. Wortlos. Malik wehrt sich nicht. Hier wird er verstanden. Hier ist er nicht mehr der Junge mit der seltsamen Familie.

Frauenhäuser geben ein Stück Sicherheit zurück

Die Kinder, die ins Frauenhaus kommen, sind traumatisiert. Sie wurden aus ihrem Zuhause gerissen. Sie haben ihre Freunde zurückgelassen. Ihr Spielzeug. Ihre Normalität. Manche ritzen sich, haben Essstörungen oder Depressionen. Bei manchen muss man Angst haben, dass sie sich etwas antun. Wieder andere sind außer Rand und Band. “Sie brüllen aggressiv herum, zerstören alles, was ihnen in die Finger kommt, wie ein Tornado”, sagt Yvonne Hohnhausen. Manchmal seien sie nicht mehr ansprechbar. Als hätten sie ihren Körper verlassen.

Hohnhausen erzählt von einem kleinen Mädchen, vier Jahre alt, ihre “Traumamaus”. Immer wieder war Tiana dabei, wenn ihr Vater durchdrehte. Auch als er auf dem Kopf ihrer Mutter ein Bügeleisen zertrümmerte. “Als sie hier ankam, sprach sie nicht mehr. Manchmal schrie sie – aber lautlos”, sagt Hohnhausen, “es war das pure Grauen in ihrem Gesicht. Es war nichts mehr von ihrer kleinen Kinderseele da. Keine Freude, nur Angst.” Was sie brauchte, war das Gefühl von Sicherheit. Nach und nach gewann sie es im Frauenhaus zurück. Inzwischen lebt Tiana mit ihrer Mutter in einer eigenen Wohnung. Kontakt zum Vater haben sie nicht mehr.

Lautes Stimmengewirr, Kinderlachen und Jubelschreie. Kurz vor 15 Uhr. Die Herbstsonne knallt vom Himmel herunter. Nach der Hausaufgaben-Stunde spielen die Schulkinder mit ihren Geschwistern im großen Garten. Einige pflücken Äpfel von den Bäumen, andere rasen mit besorgniserregender Geschwindigkeit auf Tretrollern über das Gelände. Auch auf dem Klettergerüst ist Betrieb. Und auf dem in den Boden eingelassenen Trampolin.

Manche Frauen bleiben nur einige Tage im Frauenhaus, die meisten aber für mehrere Wochen oder Monate. Die Verantwortlichen geben sich große Mühe, die Notunterkunft wie ein Zuhause aussehen zu lassen. Gemütliche Sitzecken, ein grün gepflanzter Außenbereich, ein prall gefülltes Spielzimmer. An den Fensterscheiben kleben selbst gebastelte Igel aus getrockneten Blättern, in den spartanisch eingerichteten Zimmern der Frauen gibt es für die Kinder Bauarbeiter-, Bärchen- oder Prinzessinnen-Bettwäsche. Das alles wird teils aus Geld- und Sachspenden finanziert, teils aus Fördermitteln.

60 Wochenstunden werden den drei angestellten Mitarbeiterinnen des Kinderbereichs bezahlt für Bastelnachmittage, Gesangsstunden, Hausaufgabenhilfe und Erziehungsberatung. Außerdem bekommen sie Unterstützung von Ehrenamtlichen. Damit ist das Haus bei Nürnberg gut aufgestellt, an vielen anderen Standorten gibt es keinen eigenen Kinderbereich mit ausgebildetem Personal. Meist fehlt dafür das Geld.

Kinder sollen wieder Kind sein dürfen

Die Kinder spielen noch, da stehen zwei neue Mitbewohner im Garten. Ein 13-Jähriger und seine Mutter, eine Ukrainerin. Sie spricht kein Deutsch, ihr Sohn übersetzt. Er erklärt, er habe bei seiner Schule angerufen und mitgeteilt, dass er ab sofort nicht mehr kommen könne, weil er ins Frauenhaus gehe. Nachdem eine Mitarbeiterin ihm erklärt hat, wo das Zimmer für die beiden liegt, wie die Regeln lauten und wo sie einkaufen können, schaut der Junge die Frau an und fragt selbstbewusst: “Haben Sie noch Fragen an mich?” Sie lacht überrascht. “Das sollte ich dich fragen.” Er wirkt nicht wie ein 13-Jähriger. Eher wie ein Mann im Körper eines Kindes.

Die Rollen sind oft vertauscht, wenn Familien hier ankommen: Da sind Mütter, die sich auf ihre Kinder verlassen, und Kinder, die sich um die Mütter kümmern und sie beschützen. Viele Frauen haben nie gelernt, sich durchzusetzen, sind geschwächt von der körperlichen und psychischen Gewalt, die sie erlebt haben. Manche sprechen kein Deutsch – durften es nie lernen. Manche sind es nicht gewohnt, mit Geld umzugehen. “Wir müssen die Frauen ins Handeln bekommen und den Kindern erlauben, dass sie Kind sein dürfen”, sagt Yvonne Hohnhausen.

Die Frauenhaus-Mitarbeiterinnen helfen bei Anträgen auf Annäherungsverbote und Kontaktsperren und bei Sorgerechtsfragen. Dazu gibt es Deutschunterricht, und die Sozialarbeiterinnen und Pädagoginnen üben mit den Frauen alltägliche Dinge wie Busfahren und Einkaufen. “Mit unserer Hilfe können die Kinder ihre Mütter wieder selbstständig und stark erleben”, sagt Hohnhausen. So würden die Mütter wieder zu Vorbildern. Und die Söhne und Töchter wieder zu dem, was sie eigentlich sein sollten: einfach nur Kinder.

Ela liebt Blumen und die Farbe Rosa. Sie ist im Frauenhaus aufgeblüht

© Sonja Och/stern

Die Geschichten der Jungen und Mädchen sind schwer zu ertragen. Da ist zum Beispiel Sarina, die Tochter einer ehemaligen Frauenhaus-Bewohnerin. Sarina sitzt mit ihrer Mutter im Aufenthaltsraum, sie ist gekommen, um zu erzählen. Die heute 16-Jährige war acht, als ihr Vater begann, seine Frau zu schlagen. Es fing an mit einer Ohrfeige und endete in brutalster Gewalt. Sarina wischte das Blut ihrer bewusstlosen Mutter auf. Sie wollte nicht mehr spielen gehen, weil sie Angst hatte, dass ihre Mutter eines Tages nicht mehr leben würde, wenn sie zurückkäme.

Sarina sah, wie ihr Vater ihrer Mutter verschiedene Patronenhülsen zeigte und fragte: “Mit welcher soll ich dich erschießen?” Sie hörte, wie die Mutter antwortete: “Mit der größten.” “Ich habe immer wieder meine Mama angefleht, dass wir fliehen. Habe nicht verstanden, warum sie bleibt”, sagt Sarina. “Es war die Angst”, sagt ihre Mutter. Die Angst, dass der Vater ihr und ihrer Tochter etwas antun könne. “Als wir im Frauenhaus ankamen, sagte ich zu einer der Mitarbeiterinnen: ‘Wäre es nach mir gegangen, wären wir schon viel früher gekommen'”, erinnert Sarina ihre Mutter. Die wischt sich Tränen aus den Augen und sagt: “Ich weiß.”

“Die Gerichte gehen davon aus, dass ein Schläger trotzdem ein guter Vater sein kann”

In Deutschland gilt seit 2018 die Istanbul-Konvention. Mit dem Vertrag verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu bekämpfen. Experten des Europarats überprüfen, ob sie das tun. Ihr 2022 veröffentlichter Bericht beklagt gravierende Defizite in Deutschland. Noch immer gebe es zu wenige Frauenhausplätze – vor allem für Frauen mit vielen Kindern, mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus oder einer Behinderung und generell im ländlichen Raum.

Ein weiterer Kritikpunkt des Expertenausschusses: Frauen seien im Umgangs- und Sorgerecht noch nicht ausreichend geschützt. Und auch die Kinder sind es nicht. Monika Schröttle von der Hochschule Ravensburg-Weingarten forscht seit 30 Jahren zu Gewalt an Frauen, auch zu Problemen beim sogenannten Umgang, den getrennte Väter in der Regel mit ihren Kindern haben dürfen. Für ihre 2008 veröffentlichte Studie berichtete jede zehnte Befragte, dass es zu körperlicher oder psychischer Gewalt bei diesen Vater-Kind-Treffen gekommen war. Jede fünfte dieser Frauen gab an, dass ihr Ex-Partner die Kinder angegriffen habe. Drei Prozent sagten, dass der Partner versucht habe, die Kinder zu töten.

“Die Gerichte gehen davon aus, dass ein Schläger trotzdem ein guter Vater sein kann”, sagt Yvonne Hohnhausen. Wenn die Frau sich weigere, dem gewalttätigen Partner das Kind zu übergeben, könne sie sogar ihr Sorgerecht verlieren. “Man weiß inzwischen, dass Zeugenschaft von Gewalt genauso traumatisierend wirkt, als hätte man sie selbst erlebt. Dass der Mann trotz Gewalt ein guter Vater ist, stimmt einfach nicht.”

Der Vater von Malik und dessen kleiner Schwester Ela versucht, ein Umgangsrecht einzuklagen. Malik hat Angst vor den Gerichtsterminen, bei denen er immer wieder sagen muss, dass er nicht zu seinem Vater möchte. “Was, wenn sie mich falsch verstehen und ich ihn dann sehen muss?”, fragt er die Betreuerinnen immer wieder. “Wir können ihm nicht versprechen, dass er seinen Vater nicht mehr sehen muss. Wenn das Familiengericht entscheidet, dass Umgang stattfindet, wird er per Gesetz dazu gezwungen”, sagt Yvonne Hohnhausen. Bei Prozessen, in denen es um häusliche Gewalt gehe, müsse das Kindeswohl viel mehr berücksichtigt werden, fordert die Sozialpädagogin. Viele Richter seien nicht für diese Themen sensibilisiert.

Die Mutter von Ela und Malik hat mithilfe des Frauenhauses eine Wohnung gefunden. Sie und ihre Kinder werden noch im November umziehen. Dann haben Ela, Malik und Ayla wieder eigene Zimmer. Dazu eine eigene Küche und ein Bad. Elas Mutter blickt der Zeit voller Vorfreude entgegen: endlich ein friedliches Leben in Sicherheit – weit weg von ihrem gewalttätigen Mann. Ela hingegen möchte nicht über die Zeit nach dem Frauenhaus sprechen. Sie wird den Garten und die anderen Kinder vermissen, sagt ihre Mutter. Ela stellt klar: “Hier ist mein Zuhause.”

Erschienen in stern 46/2023

source site