Fentanyl hat das Geschäft der mexikanischen Drogenkartelle verändert

Das Opiat Fentanyl ist die neue Boom-Droge in den USA und Kanada. In weniger als einem Jahrzehnt haben mexikanische Drogenhändler ein hochprofitables Geschäft aufgebaut, um die Nachfrage zu befriedigen.

An einem Sonntagmorgen im Mai wurde Sergio Emmanuel Martínez entführt. Er war der neue Zolldirektor des größten mexikanischen Hafens Manzanillo im Westen des Landes und hatte gerade ein Restaurant verlassen. Am nächsten Tag wurde er tot neben einer Autobahn aufgefunden, bereits der vierte Zollbeamte des Hafens von Manzanillo, der in weniger als zwei Jahren ermordet wurde.

Manzanillo ist ein pulsierendes Zentrum des Welthandels, aber auch Einfallstor für Chemikalien aus China, die zur Herstellung des synthetischen Opiats Fentanyl verwendet werden. Wie andere Drehkreuze an der Pazifikküste hat seine Bedeutung für das Drogengeschäft mit dem Fentanyl-Boom stark zugenommen und einen verbissenen Kampf zwischen den Kartellen über die Kontrolle des Hafens ausgelöst.

Präsident Andrés Manuel López Obrador erklärte, der Tod von Martínez stehe im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Unterbindung illegaler Importe. “Die Menschen, die beim Zoll arbeiten, werden unter Druck gesetzt”, sagte Manzanillos Bürgermeisterin Griselda Martínez der “Financial Times”. “Wenn sie akzeptieren, was eine Gruppe vorschlägt, werden sie getötet … und wenn sie es nicht akzeptieren auch.”

Fentanyl-Nachschub ist kaum zu stoppen 

In den letzten zehn Jahren ist Fentanyl zur häufigsten Todesursache bei jungen Erwachsenen in den USA geworden. Auch Mexikos illegaler Drogenhandel hat sich dem Wandel von pflanzlichen zu synthetischen Drogen angepasst und einen neuen, schlanken und hochprofitablen Zweig des illegalen Geschäfts geschaffen – mit weniger Arbeitskräften und geringeren Kosten, aber ebenso viel Gewalt. Dieser Wandel sorgte für Spannungen in zwei der wichtigsten Beziehungen Washingtons, mit China und Mexiko. Für die US-Republikaner wird das Thema im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2024 zu einer Priorität, die Kandidaten legen immer radikalere Vorschläge für Maßnahmen gegen beide Länder vor.

Den Nachschub zu stoppen, ist nicht einfach. In Manzanillo heben Kräne neu eingetroffene Container an, die mit allem Möglichen gefüllt sind, von Kleidung über Milchpulver bis hin zu Autoteilen. Auf den staubigen Nebenstraßen warten Lastwagen mit Walzstahl auf ihren Einsatz und Männer in Warnwesten rasen auf Motorrädern herum, um wichtige Papiere zu transportieren. Im Hafen werden täglich 9.500 20-Tonnen-Container umgeschlagen, die etwa 30 Prozent der maritimen Einfuhren des Landes ausmachen.

Selbst wenn es keine Drohungen und Korruption gäbe, hätte der mexikanische Zoll – der jetzt von der Marine kontrolliert wird – Schwierigkeiten, die winzigen Mengen an chemischen Grundstoffen zu finden, die zur Herstellung von Fentanyl benötigt werden, sagen Experten. Erschwerend hinzu kommt, dass viele der Zutaten auch für legale Zwecke verwendet werden können und für das hochwirksame Fentanyl selbst, das ursprünglich als Schmerzmittel entwickelt wurde.

Den Forschern der Rand Corporation zufolge wiegt das gesamte Fentanyl, das zur Versorgung der USA für ein Jahr benötigt wird so viel wie fünf Tonnen und würde problemlos in einen Lastwagen passen. Zum Vergleich: Bei Heroin sind es etwa 125 Tonnen und bei Kokain sogar noch mehr. “Es ist nicht die Nadel im Heuhaufen, sondern das Loch in der Nadel im Heuhaufen”, sagt Peter Reuter, Professor für öffentliche Ordnung an der Universität von Maryland.

Herstellung von Fentanyl beinahe “problemlos” möglich

Vom Hafen aus werden die Chemikalien in die nördlichen Bundesstaaten Mexikos gebracht, wo sie gemischt und zu Pillen gepresst werden, erklären Experten. Während die Produktion von Mohn oder Marihuana von geeigneten Witterungsbedingungen auf riesigen Feldern abhängt, können die “Labors” für synthetische Drogen schnell in Häusern eingerichtet werden und bleiben selbst in Städten unentdeckt. Anstatt Zehntausende von Landarbeitern zu beschäftigen, könnte die gesamte Fentanyl-Industrie in Mexiko mit Hunderten “Köchen” arbeiten, die laut Reuter meist keine qualifizierten Chemiker sind.

Die Ausbreitung von Fentanyl scheint sich vor allem auf die Heroinproduktion auszuwirken. Denn der Mohnanbau in Mexiko liegt nach Angaben des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung immer noch weit unter seinem Höchststand.

In einem rudimentär eingerichtetem Labor in den Hügeln von Sinaloa saßen zwei Teenager in Latexhandschuhen an einem Tisch, auf dem sich Fentanylpulver stapelte, wie ein Bericht des mexikanischen Fernsehsenders Televisa zeigte. Es war zuvor unter unkontrollierten Bedingungen gekocht worden. Die Teenager füllten 21.000 Kapseln pro Woche ab und erhielten dafür etwa 330 Dollar, sagten sie. “Es ist nicht viel Geld, aber überall wird so wenig bezahlt. Es ist auch langweilig”, sagte einer der maskierten Männer, die die Drogen für das Sinaloa-Kartell herstellen.

Von dem Labor aus werden die Drogen über die Landgrenze transportiert von sogenannten “Maultieren”. Bei ihnen handelt es sich laut einer kürzlich in den USA erhobenen Anklage häufig um amerikanische Frauen, die teilweise in Privatflugzeugen eingeflogen werden. Experten zufolge wird das Fentanyl dann über ähnliche US-Netzwerke wie bei anderen Drogen verteilt.

Fentanyl ist inzwischen für die meisten der jährlich mehr als 85.000 Todesfälle durch Überdosierung von Opiaten in den USA und Kanada verantwortlich. Während viele andere Drogen weltweit ihren Tribut fordern, sind die Todesfälle durch Überdosen von Fentanyl vor allem in Nordamerika zu verzeichnen. Obwohl die Welle in den USA durch die übermäßige Verschreibung von Opiaten durch Ärzte angeheizt wurde, wird Fentanyl inzwischen auch in viele andere illegale Drogen gemischt. Die mexikanischen Drogenkartelle mischen inzwischen sogar andere Substanzen bei, zum Beispiel das Beruhigungsmittel Xylazin für Tiere. Europol äußerte sich besorgt über die Entwicklung in Europa, dort hat sich die Droge aber noch nicht in großem Umfang durchgesetzt.

Umstellung der Drogenkartelle stürzt ländliche Teile Mexikos in Armut

US-Parlamentarier beider Parteien sind der Ansicht, dass Mexiko mehr tun muss, um den Handel mit Fentanyl einzudämmen. Einige schlagen sogar ein militärisches Eingreifen der USA gegen die Kartelle vor. Bei seinem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping im Juni betonte US-Außenminister Antony Blinken die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit in dieser Frage. China hat nach eigenen Angaben “beispiellose Maßnahmen” zur Kontrolle von Fentanyl und ähnlichen Substanzen ergriffen. Sowohl China als auch Mexiko argumentieren, dass die Nachfrage der US-Konsumenten nach Drogen die wahre Ursache des Problems sei.

Insbesondere Mexiko behauptet, es zahle bereits einen hohen Preis. Die Umstellung der Drogenkartelle auf Fentanyl zur Belieferung Nordamerikas begann laut einer aktuellen US-Anklage etwa 2014. Das habe die Gewalt in Mexiko angeheizt, wo die Zahl der Tötungsdelikte von 2018 bis 2020 einen Rekordwert erreichte und derzeit nur leicht rückläufig ist. Fentanyl war eine Quelle des Konflikts zwischen den beiden führenden Gruppen des Landes, dem Sinaloa-Kartell und dem Jalisco New Generation Cartel (CJNG), sagt Falko Ernst, leitender Mexiko-Analyst bei der International Crisis Group. “Das Kartell ist definitiv zu einem wichtigen Motor der Gewalt in Mexiko geworden. Es ist ein riesiger Goldesel für diejenigen, die Zugang zu ihm haben.”

Teile des armen, ländlichen Hochlands Mexikos, wo Mohn für die Herstellung von Heroin angebaut wurde, haben ebenfalls einen wirtschaftlichen Einbruch erlebt – die Konsumenten sind auf Fentanyl umgestiegen. Zehntausende von Landwirten in Guerrero, Sinaloa und anderen Bundesstaaten haben heute nur noch ein Zehntel des Einkommens, das sie auf dem Höhepunkt des US-Heroinbooms in den Jahren 2015 bis 2017 erzielten, so Romain Le Cour Grandmaison von der gemeinnützigen Global Initiative Against Transnational Organized Crime. “Es gibt diese Vorstellung, dass Drogen das profitabelste Produkt der Welt sind, dass es sich um eine rezessionssichere Industrie handelt, aber was [wir dokumentiert haben] … ist eine noch nie dagewesene Wirtschaftskrise rund um eine Droge”, sagte Le Cour.

Trotz gegenteiliger Beweise behauptet Präsident López Obrador, dass Fentanyl nicht in Mexiko hergestellt wird. Gleichzeitig verpflichtete sich seine Regierung vor kurzem zu einer Reihe neuer Maßnahmen, um die Einfuhr von chemischen Vorprodukten “drastisch zu reduzieren”, einschließlich einer verstärkten Überwachung der Häfen.

In Manzanillo kämpfen Sinaloa und die CJNG um die Kontrolle über die Hafenstadt. Im Jahr 2019 versuchten zwei Bewaffnete auf Motorrädern Bürgermeisterin Martínez zu töten. Sie gehört der Morena-Partei von López Obrador an. Leibwächter retteten sie. Heute lebt sie in einem Regierungsgebäude, weit weg von ihrer Familie, geschützt von mehr als einem Dutzend bewaffneter Beamter. “Ein Sicherheitsdienst nimmt dir das Leben”, sagte sie und fügte hinzu, dass ihre Angreifer noch immer nicht gefasst worden seien. “Das sollte niemals normal werden. So sollte es nicht sein.”

Copyright The Financial Times Ltd. 2023

Dieser Beitrag erschien zunächst bei Capital.de.

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