Everest-Besteigung: Leichen pflastern den Weg zum Gipfel

Wer den Everest besteigt, geht im Wortsinn über Leichen. Bisher sind mehr als 300 Alpinisten bei einem Besteigungsversuch ums Leben gekommen. Nur die wenigsten Körper wurden bisher geborgen.

Von Oliver Schulz

Mehr als dreihundert Menschen sind am Mount Everest gestorben, etwa zweihundert liegen bis heute dort. Einige sind für immer in Gletscherspalten verloren oder über Kanten hinabgestürzt. Aber viele sind steifgefroren, wie konserviert für die Ewigkeit, sie hocken auf Abhängen oder liegen in einer Höhle, die Haut sonnengebleicht, ihre Glieder verdreht. Und mindestens in Sichtweite der lebenden Kletterer, die an ihnen vorbeiziehen.

In der Todeszone ist nicht immer leicht auszumachen, wer ein ambitionierter Kletterer oder ein Erfrorener ist. Wie gespenstisch die Szenerie ist, beschreibt der australische Bergsteiger Duncan Chessell: “Du weißt nicht, ob die Person, die da auf dem Fels sitzt, Hilfe braucht oder seit fünf Jahren tot ist. Es ist dunkel, du frierst, du bist müde …”

Der amerikanisch-britische Alpinist Daniel Mazur berichtet, teilweise blockierten die Leichen den schmalen Weg, der hart am Abgrund hinaufführe. “Es ist eine der furchtbarsten, schlimmsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe, über die Toten zu treten. Oft muss man über ihre Glieder hinwegsteigen.” Jeder, der die Hauptroute hinaufklettere, müsse, selbst wenn die Sauerstoffmaske die Sicht beschränke, mindestens zehn Leichen passieren.

In den Achtzigern und Neunzigern hockten die Skelettreste von Kletterin Hannelore Schmatz in Sichtweite aller Kletterer auf der Südroute. Die Leiche lehnte mit weit geöffneten Augen und im Wind wehenden Haaren an ihrem Rucksack. Der nepalesische Polizeiinspektor Yogendra Bahadur Thapa und der Sherpa-Führer Ang Dorje starben 1984, als sie versuchten, ihren Körper zu bergen. In den späten Neunzigern wehten schließlich starke Winterwinde ihre Überreste hinab in die Kangshung-Flanke.

Das sogenannte Rainbow Valley unterhalb des Gipfels ist mit Leichen übersät, die bunte Bergsteigerkleidung tragen. Der erfahrene Gipfelstürmer David Breashears, der in der Katastrophensaison 1996 die IMAX-Filmexpedition auf den Gipfel des Everest leitete, hat den Bereich als “den offenen Friedhof, der oben wartet” bezeichnet.

Der Tote von 1924: George Mallory

Selbst die Leiche des legendären britischen Everest-Bergsteigers George Mallory befindet sich immer noch auf 8200 Metern über Meeresniveau, gefunden 1999 von Kletterern, die hofften festzustellen, ob er und sein Begleiter Andrew Irvine es im Juni 1924 nun an die Spitze geschafft hatten oder nicht. Das Seil, mit dem er einst an Irvine befestigt war, lag immer noch um seine Taille, seine Hände krallten sich immer noch in den Felsen. Mallory wurde wenigstens die Würde eines Begräbnisses am Berg gegeben.

Leichentransport per Hubschrauber im Mai 2021 nach Kathmandu: Die Bergsteiger Puwei Liu verunglückte beim Abstieg vom Mount Everest tödlich.

© Imago Images

Denn es ist fast unmöglich, eine Leiche von dort oben zu bergen. Bisher soll es in nur etwa fünfzig Fällen gelungen sein. Es ist zu aufwändig. Und es ist sehr teuer. Tausende von Dollar werden dafür veranschlagt, sechs bis acht Sherpas sind nötig. Nicht nur sind bei entsprechenden Versuchen manche Bergsteiger gestorben – mehrfach wurden die Aktionen auch nach tagelanger Arbeit aufgegeben, weil sich das Vorhaben einfach als unmöglich erwies.

Letzter Wille: Am Berg bleiben

Viele Bergsteiger sagen, man könne sich nicht vorstellen, welchen Aufwand eine solche Arbeit bedeute, wenn man nicht selbst dort oben gewesen ist. “Sogar das Aufheben einer Bonbonverpackung hoch oben auf dem Berg ist eine große Anstrengung, da sie völlig gefroren ist und man herumgraben muss”, sagt Ang Tshering Sherpa, Vorsitzender und Gründer von Asian Trekking mit Sitz in Kathmandu und langjähriger Präsident der Nepal Mountaineering Association. “Eine Leiche, die normalerweise 80 Kilo wiegt, kann 150 Kilo wiegen, wenn sie gefroren und mit dem umgebenden Eis ausgegraben wird.”

Dawa Steven Sherpa, Geschäftsführer von Asian Trekking und Ang Tsherings Sohn, ist mit seinen jahrelang auf dem Berg gewesen – um ihn von Müll zu befreien. Doch seit 2008 haben sie nicht nur Tausende Kilogramm Unrat entfernt. Auch wenn eine Leiche oder einzelne Körperteile aus dem immer dynamischen Khumbu-Gletscher herausschmelzen, kommt sein Team zum Einsatz. Eine Reihe Toter haben sie geborgen, unter anderem vier Sherpas – von denen sie einen kannten – und einen australischen Kletterer, der 1975 verschwunden war. “Wenn möglich sollten menschliche Überreste beerdigt werden”, sagt Dawa Steven Sherpa.

Viele Bergsteiger möchten aber auch auf einem Berg bleiben, wenn sie dort nicht überleben – das ist fast schon eine Tradition. Sie dem Berg zu “übergeben” ist deshalb mehr als nur die technisch einfachere Alternative. Sie werden mit Steinen bedeckt, die einen Grabhügel bilden. Wenn das nicht geht – werden sie mit allem Respekt in eine Gletscherspalte fallen lassen oder von einem steilen Hang geschoben, außer Sichtweite.

Die vermeintliche Bergung der Sleeping Beauty

Als Sleeping Beauty bekannt wurde Francys Distefano-Arsentiev, die erste Frau aus den USA, die 1998 den Gipfel ohne Hilfe von zusätzlichem Sauerstoff erreichte. Sie stieg ab, kollabierte auf 8850 Metern Höhe und blieb an Ort und Stelle liegen. Ihre lilafarbene Jacke war lange für die Kletterer deutlich sichtbar.

2007 unternahm der Bergsteiger Ian Woodall, der Francys Distefano-Arsentiev kurz vor ihrem Tod noch dort gesehen und zu retten versucht hatte, eine Expedition, um ihren Körper beizusetzen. Gemeinsam mit Phuri Sherpa, der regelmäßig am Everest arbeitete, erreichte der Brite am 23. Mai die Stelle, an der er sich daran erinnerte, Francys verlassen zu haben – einen Abhang, etwa sechzig Grad steil, bedeckt von Schiefertrümmern. Eigentlich wollten sie einen Steinhaufen für die Verunglückte errichten, aber zu Woodalls Bestürzung lag der gesamte Bereich mittlerweile unter einer mehr als einen Meter hohen Schneedecke. “Es gab überhaupt keine Anzeichen von ihr, nur einen riesigen, instabilen Schneehang”, erinnert er.

Also begannen die beiden zu graben. Sie hatten Glück und auch noch einige grobe Erinnerung, und so entdeckten sie Distefano-Arsentiev beim zweiten Versuch in den Schneemassen. Ein Steingrab war keine Option mehr, aber ihr Seil reichte gerade aus, um den Körper der Verunglückten über den Rand des Berges hinabzulassen. Sie wickelten die hartgefrorenen Überreste in eine amerikanische Flagge, sprachen ein paar Worte – und schickten sie auf den Weg hinab. Es sei das Schwierigste gewesen, was er in seinem Leben getan habe, sagt Woodall später. “Viel schwieriger, als zum Gipfel zu gehen.”

Tote als Wegweiser

Macht es den Bergsteigern nichts aus, die Toten zu passieren, wenn sie dort hinaufsteigen? Was macht das mit den Alpinisten? Die meisten reden sich vermutlich selbst ein, dass alles, was mit dieser Person passiert ist, ihnen nicht passieren wird, vermuten Psychologen.

Aber das gelingt nicht jedem. 2010 machte sich Geert van Hurck auf den Weg auf die Nordseite des Everest, als er, wie er es später beschrieb, eine “farbige Masse” am Boden sah. Als der Amateurkletterer aus Belgien bemerkte, dass es sich um einen Bergsteiger handelte, schritt er näher, er wollte helfen. Dann erst erkannte er die Plastiktüte. Jemand hatte sie über das Gesicht des Mannes gelegt, vermutlich um zu verhindern, dass Vögel ihm in die Augen pickten. Van Hurck kehrte auf der Stelle um. “Es fühlte sich einfach nicht richtig an, weiterzuklettern und auf dem Gipfel zu feiern. Ich glaube, ich habe mich selbst dort liegen sehen.”

Irritierend muss es auch für die Hinterbliebenen sein, wenn sie registrieren, dass alljährlich Hunderte Menschen an den Überresten ihrer am Berg verunglückten Verwandten vorbeistapfen, förmlich über sie hinwegsteigen. Und wenn die Toten als Wegweiser oder in sozialen Medien einen höchst zweifelhaften Rum erlangen.

Wer ist “Green Boots”?

Das gilt für den wohl bekanntesten Toten am Berg, der Green Boots genannt wird. Dieser Name ist im Laufe der Jahrzehnte zu einer festen Bezeichnung geworden. Viele Kletterer nutzten die kleine Höhle auf 8 500 Metern Höhe, in der der Alpinist mutmaßlich verendet ist, als Rastplatz auf dem Rückweg vom Gipfel. Ein wenig vor dem Wind geschützt, setzen sie sich dort hin, um zu Atem zu kommen oder einen Snack zu verzehren. 80 Prozent aller, die auf der Nordroute unterwegs sind, täten das, schätzte die irische Bergsteigerin und Alpinistin Noel Hanna.

Das erste Video von Green Boots hat der französische Bergsteiger Pierre Paperon veröffentlicht, es zeigt einen Mann, von dem allgemein angenommen wird, dass es der Inder Tsewang Paljor ist, in einer orangen Jacke und einer hellblauen Hose. Er liegt auf der Seite im Schnee, den Kopf abgewandt, unter einem Felsvorsprung, neben ihm eine Sauerstoffflasche. Man kann seine grünen Schuhe erkennen, die ihm den Namen gegeben haben, Marke Koflach. Es gibt sogar ein ziemliches albernes Elektropop-Lied über ihn, zu hören auf YouTube. Er war lange der wohl berühmteste Orientierungspunkt unter den Toten am Berg. “Ich würde sagen, dass wirklich jeder, besonders diejenigen, die auf der Nordseite klettern, etwas über Green Boots weiß”, sagt Noel Hanna.

Green Boots, die Leiche, die eine besondere Berühmtheit auf dem Everest erlangt hat, war der gängigsten Theorie zufolge ein Mitglied der indisch-tibetischen Grenzpolizei und erst 28 Jahre alt, als er sein Leben verlor. Zusammen mit den Kletterpartnern Tsewang Smanla und Dorje Morup soll er im desaströsen Orkan von 1996 ums Leben gekommen sein.

Am 10. Mai jenes Jahres wurde das Team knapp unterhalb des Gipfels vom Schneesturm überrascht. Doch während drei andere Mitglieder abbrachen, beschlossen Smanla, Morup und Paljor, den Aufstieg zu wagen. Gegen 15.45 Uhr funkten sie hinab zu ihrem Expeditionsleiter, dass sie auf dem höchsten Punkt stünden. Ihr Chef Smanla wies die beiden anderen an abzusteigen, während er noch eine buddhistische Zeremonie abhalten wollte.

Später kam es zu Kontroversen darüber, inwieweit ein Team japanischer Kletterer die vermissten indischen Kletterer gesehen habe und ihnen keine Hilfe geleistet habe. Sicher ist nur, dass es nach der Meldung vom Gipfel keinen Funkkontakt mehr gab. Teammitglieder berichten von zwei Lichtkegeln, sie hätten beobachtet, wie die sich auf 8570 Metern Höhe bewegten. Doch es gelang keinem der drei, in das auf 8 300 Metern eingerichtete Hochlager zurückzukehren.

Einmal habe er seinem Bruder gesagt, dass er mehr daran interessiert sei, sein Leben etwas Größerem zu widmen, als zu heiraten, berichtete Paljors Mutter einem BBC-Reporter, der sie in dem kleinen Ort Sakti in der indischen Region Ladakh besuchte, aus der der Bergsteiger stammte. Und als er die Reise zum Everest angetreten sei, habe er geflunkert. “Er erfand eine kleine Lüge, dass er einen anderen Berg besteigen würde. Aber er erzählte auch einigen Freunden, was er tatsächlich tat, und die Nachricht gelangte dann auch zu uns.”

Nach dem Unglück kamen zwei Männer der Indo Tibetan Border Force, in deren Dienst er stand, an die Tür seiner Mutter. Sie sagten, dass es am Everest einen Unfall gegeben habe und dass ihr Sohn vermisst werde. Es war bald klar, dass er eigentlich tot war, aber lange wollten die Angehörigen die Hoffnung nicht aufgeben. Irgendwann musste die Familie der Realität jedoch ins Auge sehen, eine Beerdigungszeremonie wurde abgehalten. Viele hundert Kilometer vom Ort des Unglücks entfernt.



Der Tod klettert mit: Everest-Besteigung: Leichen pflastern den Weg zum Gipfel

Ein Schock sei aber dann gewesen, dass Tsewang Paljor eine so seltsame Berühmtheit erlangt habe, sagte sein Bruder Thinley. 2011 habe er den Spitznamen zusammen mit Fotos entdeckte: “Ich war im Internet und habe festgestellt, dass sie ihn Green Boots oder so nennen. Ich war wirklich verärgert und schockiert und ich wollte nicht, dass meine Familie davon erfährt. Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, die Bilder im Internet anzusehen”, sagte er der BBC. “Ich fühle mich so hilflos.”

2006 machte der englische Kletterer David Sharp in der Höhle neben Green Boots Rast. Plötzlich erstarrte sein Körper, Sharp war unfähig sich zu bewegen. Über vierzig Kletterer stiegen an dem Mann vorbei, der erfrierend in dem Unterschlupf hockte. Erst als er ein leises Stöhnen von sich gab, versuchten Bergsteiger ihm Sauerstoff zu geben, ihn dazu zu bewegen aufzustehen. Aber da war es schon zu spät.

Green Boots wurde zwischen 2014 und 2017 nicht gesehen, man vermutete, dass die Leiche entfernt oder begraben worden war. 2017 wurde ein toter Körper entdeckt, der neben einem Zelt und anderen Gegenständen von einer Flanke baumelte. Einige Bergsteiger spekulierten, dass es sich um die sterblichen Überreste von Tsewang Paljor handelte.

Auzug aus dem Buch: “8849. Massentourismus, Tod und Ausbeutung am Mount Everest” von Oliver Schulz. Erschienen im Westend Verlag, 192 Seiten, Preis: 18 Euro.

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