Emmanuel Levinas’ Buch „Ethik als Erste Philosophie“ – Kultur

“Was sollen wir tun?” Diese Frage gilt als Hauptfrage der philosophischen Ethik. Sie wurde in der Geschichte unterschiedlich beantwortet- und die Antworten wurden unterschiedlich begründet. Wem es um Glückseligkeit geht, hält schließlich anderes für geboten als jemand, der zuerst nach Übereinstimmung mit sich selbst strebt; wieder anderes fordert jemand, der ein moralisches Gesetz der Natur entdeckt zu haben meint oder der bloß seinem eigenen moralisch-subjektiven Gefühl entsprechen will, oder der Autonomie der Vernunft, oder der Vermeidung von Unlust.

Der moralische Skeptizismus wiederum hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es eine Sache sei, ethische Gebote argumentativ zu begründen. Eine ganz andere Sache sei es, den Menschen auf eine Erfahrung zu stoßen, die ihm zwingend deutlich macht, dass er überhaupt ethisch gut handeln soll. Das Konkreteste, das eigene nackte Leben, die eigene Erfahrung, und das Allgemeinste, das höchste Prinzip einer Ethik, hat im 20. Jahrhundert wohl niemand so radikal und zugleich so geduldig bedacht wie der französische Philosoph Emmanuel Levinas. Seine späte Vorlesung mit dem Titel “Ethik als Erste Philosophie”, die er 1982 in Leuven gehalten hat, ist nun beim Sonderzahl Verlag in Wien erschienen.

Einem breiteren Publikum wurde Levinas erst bekannt, als er schon fast 60 war

Das Werk Levinas gilt bis heute als ein herausfordernd. Der Phänomenologie, aus der er stammte, blieb Levinas insofern treu, als sein Denken zwar die subtilsten Erfahrungen des konkreten menschlichen Lebens betrifft, dabei aber doch sehr theoretisch bleibt. Das hat dem Philosophen, der einem breiteren Publikum erst bekannt wurde, als er schon fast 60 war, immer in Außenseiterrolle gebracht. Der jüdische Religionsphilosoph mit Wurzeln in Litauen, geflohen vor der Shoa und fixiert auf eine Ethik des Anderen – die Einordnung war oft schon fertig mit dem Denken von Levinas, als eben dieses Denken mit sich selbst noch lange nicht fertig war. Doch wer genau hinsieht, kann erkennen wie konsequent sich Levinas Denken in die Problemstellungen fügt, die es mit dem großen Strom der neuzeitlichen Philosophie und ihren modernen Ausläufern verbindet.

Die Philosophie liebt es, das Prinzip der Dinge offenzulegen. Sie fragt nach dem Grundsätzlichen. Seit Aristoteles heißt diese philosophische Klärung des Prinzipiellen prōtē philosophia, Erste Philosophie. Doch schon bei ihm ist sie mehrdeutig. In der Textsammlung, die mehr als 200 Jahre nach Aristoteles’ Tod den Titel “Metaphysik” erhält, wird sie einmal bestimmt als Frage nach den Prinzipien des Seienden, ein andermal als die Frage nach dem Göttlichen. Am Ende des 16. Jahrhundert verselbständigt sich die erste Frage unter dem Titel Ontologie und emanzipiert sich von der philosophischen Theologie. Sie verbindet sich mit der empirisch orientierten Rehabilitation der Sinnlichkeit, die Sein und Sollen des Menschen nicht mehr aus Gott, sondern aus der Natur verstehen will.

Der Mensch steht der Natur gegenüber, er beschreibt und ordnet sie – bald ordnet er sie auch sich unter. Doch der Mensch ist auch Natur. Sein und Sollen verteilen sich auf die beiden Perspektiven und bringen die Vielfalt der Positionen der Aufklärung hervor, deren Extrempunkte Idealismus und Nihilismus heißen: Ist der Mensch fähig, die Welt zu erkennen, muss er als Subjekt, als Ich, ihr Prinzip sein und soll er in ihr richtig handeln, muss er sich selbst das Gesetz seines Handelns geben. Ist der Mensch aber zugleich Natur, wird auch sein Erkennen durch diese Natur bestimmt und erscheint bald jedes moralische Sollen als Illusion, mit denen der Mensch die eigene Natur vor sich verschleiert, der er unabwendbar folgen muss. Darin kündigt sich ein Widerspruch an, der an die Moderne weitergegeben wird: Ist der Mensch der autonome Gesetzgeber von Erkennen und Handeln? Oder ist er bloßer Ausdruck einer Naturgesetzlichkeit, der er durch gedankliche Illusionen einen Sinn verleiht, damit es ihm leichter fällt, sie zu akzeptieren? Diese Frage beschäftigt das philosophisch-ethische Denken bis heute.

In beiden Positionen schwingt immer noch der Anspruch der Ontologie mit: Erkenntnis über das Sein der Natur, die vom Menschen bestimmt wird – und Erkenntnis über das Sein der Natur, die den Menschen bestimmt. Und so findet auch die moderne Ethik ihren Ausdruck in zwei Hauptrichtungen, die diesem doppelten Anspruch entsprechen. In der einen Richtung rechtfertigt der Mensch sein individuelles Handeln durch vernünftig-ethische Überlegung. In der anderen Richtung rechtfertigt er es durch den Rückgriff auf die Gesetze, durch die er regiert wird – Psychologie, aber als Teil einer menschlichen Natur, der er niemals entkommen kann. Bis auf den heutigen Tag ist die Ethik eine sekundäre Form des Denkens, bestimmt durch den Schatten der Ontologie, die den Menschen als unterworfenen Souverän begleitet.

Bereits hier wird deutlich, was der Satz, die Philosophie liebe es, das Prinzip der Dinge offenzulegen, auch bedeutet. Er beschreibt nicht nur die Radikalität eines Fragens, die aufs Grundsätzliche geht, sondern auch eine Tendenz zum Totalitären, Umfassenden, zur Ganzheit, die aus einem Prinzip erklärt wird. Will die Philosophie dieser Tendenz entkommen, muss sie etwas versuchen, was ihr oft ganz und gar nicht liegt: Fragen ohne Antwort, Probleme ohne Lösung, das Offenlassen des Prinzipiellen im Nachdenken darüber.

Noch vor jeder aktiven, souveränen Handlung ist der Einzelne immer schon vom Anderen angesprochen

Genau hier setzt die Philosophie von Levinas an. Sie versucht die Priorität der Ontologie rückgängig zu machen und fragt nach Ethik als Erster Philosophie. Darin beerbt sie natürlich den älteren Begriff der Metaphysik: Indem sie das Sollen dort ausmacht, wohin das Bestimmen des ontologischen Denkens nicht mehr hinreicht, markiert sie die offene Frage nach dem Absoluten, von der die Ontologie sich in der Frühen Neuzeit zu emanzipieren begonnen hatte. Andererseits ist es ein typisch moderner Zug, die Gegenspannung zum Positiven im Numinosen zu suchen – von Kierkegaard bis Kafka, von Hamann bis Heidegger und darüber hinaus reicht die philosophische Ahnung, dass der ontologischen Bestimmung etwas vorangeht, dass sie durch etwas möglich wird, was sie ausschließen muss, damit sie beanspruchen kann, was sie beansprucht.

Zugleich ist dem modernen Denken, das gegen den Positivismus argumentiert, auch klar, dass die Rückkehr zu alten theologischen Denkfiguren ein für alle Mal versperrt ist. Bei Levinas nimmt das Vorangehende daher die Gestalt des Anderen an – in der Doppeldeutigkeit dessen, was das ganz Andere ist und was der Andere ist, der mir im konkreten Leben begegnet. Es ist ausgerechnet die Sinnlichkeit – der Leib, der Schmerz, das Leiden, das Antlitz des Anderen -, in der Levinas die Spur dieses Anderen erkennt, die gleiche Sinnlichkeit, deren Rehabilitation den Aufstieg der ontologischen Frage zur Anordnung des Seienden, der Natur, des Menschen erst möglich machte.

Levinas revidiert in seinem Denken philosophische Grundentscheidungen, die das Selbstverständnis der neuzeitlichen Philosophie geprägt haben. Er setzt gegen die Ontologie, das totale Erkennen, die Metaphysik – als Ethik des Anderen. Sie ist die bewusste Aufhebung des Bestimmens in ein Immer-noch-Unbestimmtes, der Rücktritt von dem Anspruch, den Anderen auf eine Identität festzulegen, die Anerkennung auch der eigenen primordialen Passivität, in der ich noch vor jeder aktiven, souveränen Handlung immer schon vom Anderen angesprochen bin, der Akkusativ, aber als “erster Fall”.

Levinas entwickelt diesen Gedanken seit Mitte der Dreißigerjahre, in Bewegungen der Vertiefung und der Selbstkorrektur. Er geht dabei oft aus von Philosophen, deren Überlegungen stellvertretend für den doppelten Anspruch des ontologischen Denkens stehen, und dekonstruiert ihre Prämissen, um auf das Andere zu stoßen, das sie in ihnen mit ausdrücken. Ist es in seiner Habilitationsschrift “Totalität und Unendlichkeit” von 1961 vor allem Descartes, mit dem sich Levinas auseinandersetzt, so wird in seinem späten zweiten Hauptwerk “Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht” die “ontologische Differenz” Heideggers zum Ausgangspunkt dieser Dekonstruktion. Der Begriff ist hier nicht zufällig gewählt – es ist Jacques Derrida, der Levinas einem größeren Publikum in Frankreich zugänglich macht, indem er dessen Kritik gegen ihn selbst wendet. So wie Levinas in den folgenden Jahrzehnten Derridas Denken wesentlich beeinflusst, so führt auch Derridas Kritik Levinas dazu, seinen Ansatz kritisch zu wenden.

“Sein auf Zehenspitzen, Sein ohne es zu wagen zu sein”

Die Philosophiegeschichtsschreibung, vor allem die populäre und die des Feuilletons, neigt dazu, aus Philosophen einsame Gedankengenies zu machen, die theoretische Gedankengebäude in schwindelerregender Höhe errichten und deswegen bewundert oder verlacht werden müssten. So gilt Derrida als “Dekonstruktivist”, weil er seiner kritischen Revision der Phänomenologie Husserls und der dabei angewendeten operational aufmerksamen Lektüre den Titel der “Dekonstruktion” gegeben hat. Ignoriert man das feuilletonistische Quartettspiel der Philosophen, kann man die gleiche Lektüre auch bei anderen Kritikern Husserls entdecken – bei Levinas oder auch bei Eugen Fink, der in seinen Notizen nicht nur Derridas, sondern auch Sartres Husserlkritik vorwegnimmt.

Wer statt auf Etikettierungen auf Problemstellungen achtet, muss Levinas nicht als “jüdischen Religionsphilosophen” wahrnehmen, der in philosophischer Sprache nur eine vage “jüdische negative Theologie” zum Ausdruck bringt. Die Tatsache, dass Levinas erst spät die Aufmerksamkeit zuteilwird, die ihn für die breitere philosophische Rezeption interessant macht, bedeutet nicht, dass seine Philosophie des Anderen selbst ein Anderes ist, dessen fehlende Einordbarkeit man immer wieder neu betonen müsste.

“Ethik als Erste Philosophie” kann man als eine Variation über die Gedankenfigur lesen, die Levinas immer weiter vertieft. Hier ist es nicht Heidegger, sondern es ist Husserl, dessen “absolutes Ich” Levinas ein passives Ich entgegenstellt, eine unbestimmte Erfahrung der “Dauer, die sich jedem Willen des Ich entzieht, absolut außerhalb der Aktivität des Ich.” Der Anschluss an Henri Bergson ist überdeutlich, doch es geht in dieser Dekonstruktion nicht darum, Ansätze auszutauschen. Vielmehr zeigt sich die Passivität in der Dauer als “Nicht-Intervention (…) als Sein auf Zehenspitzen, Sein ohne es zu wagen zu sein”. Der Boden des selbstsicheren Ich, das jedes Erkennen begründet, ist ein unsicheres Ich, das weniger Ich ist als “schlechtes Gewissen”, als “Mangel an Wagemut, sich in seinem Sein oder in seinem Fleisch oder in seiner Haut zu behaupten”. Es ist dieser Mangel, der die “Berechtigung der Stellung selbst im Sein (…) in Frage stellt”.

Ist die Passivität der Anfang, kommt jede Aktivität, jedes aktive Ich-Sagen zu spät und ist so Antwort auf das, wovon es, als schlechtes Gewissen, betroffen ist. Doch ein schlechtes Gewissen wem gegenüber? Dem Anderen, auf den man immer schon antwortet, wenn die Passivität in Aktivität umschlägt. Dieser Andere ist der Adressat, wenn ich “Ich” sage und er ist aber auch in Gefahr, durch mein “Ich” und das, was es aus ihm macht, verdrängt zu werden. Wer das primordiale schlechte Gewissen des passiven Ich ernst nimmt, für den stellt sich das Recht der eigenen Selbstbestimmung als bedingt durch die “Furcht um den Anderen” heraus. “Waren mein Auf-der-Welt-Sein (…), mein Zuhause nicht bereits eine Usurpation von Orten, die dem anderen, schon vor mir unterdrückten oder hungrigen, in eine dritte Welt ausgestoßenen Menschen zustehen”? Es ist die Variation eines Rechtsbegriffs, der noch vor jeder Metaphysik und Ontologie formuliert wird, nämlich im Satz des Anaximander. Dort schulden die Dinge in ihrem Werden und Vergehen einander Rechenschaft – “Strafe und Buße” – “nach dem Recht der Zeit”. Ist eines, so ist es nur, weil an seiner Stelle anderes nicht ist.

Das Ethische liegt hier nicht in konkreten Handlungsanweisungen, denen misstraut Levinas

Auch hier verwandelt Levinas die Ontologie in eine Ethik, wenn er nicht Dinge zueinander ins Verhältnis setzt, sondern den Menschen – mich – zum Antlitz des Anderen. In der “Verletzlichkeit selbst” des Anderen, in dem, wovon ich angeblickt werde noch “[v]or jedem spezifischen Ausdruck”, zeigt sich mir die “Direktheit der Ausgesetztheit gegenüber dem unsichtbaren Tod (…) im Anderen”. Es ist dieser Tod, der sich mir aufdrängt, in einem Als-ob, das eine Zumutung ist, noch vor jeder Selbstbestimmung: “Als ob ich für den Tod des Anderen verantwortlich wäre, bevor ich überhaupt zu sein habe.” Doch ist es eine Zumutung? Oder nicht eher das “Regime einer unvordenklichen Freiheit, die älter wäre als das Sein, die Entscheidung und die Handlungen”? In den Schlusspassagen buchstabiert Levinas aus, was es bedeuten würde, wenn man diese Frage bejahte: eine Ethik als Erste Philosophie, in der “die Menschheit in mir – die Menschheit als Ich – trotz ihrer ontologischen Kontingenz (…) die Vorrangigkeit und die Einzigartigkeit des nicht Auswechselbaren” erhält.

Das Ethische liegt bei Levinas nicht in konkreten Handlungsanweisungen. Ihnen misstraut er, weil sie den Bezug auf den Anderen immer nur vom Eigenen her verstehen. Die darin liegende totalisierende Tendenz will zuerst festlegen, was ist, bevor sie zulässt, dass gefragt wird, was getan werden soll. Der Andere wird immer nur vom Eigenen her verstanden – und so verfehlt oder nur als Instanz des Eigenen getroffen. Levinas schlägt nun nicht vor, so etwas wie “den Anderen selbst” zu denken, denn auch das wäre einfach nur die Negation der Ursprungsfigur des Eigenen. Stattdessen legt er über dieses Denken vom Eigenen her ein “Als ob”, eine Annahme, die sich in der Erfahrung als radikaler erweist als jedes kontrollierte Wissen vom Eigenen. Dieses “Als ob” ist der Andere: Als ob ich immer schon, wenn ich zu sprechen anhebe, vom Anderen her spreche, auf den Anderen antworte, als ob ich immer schon zu ihm spreche. Nicht Ich, sondern Mich – der Akkusativ, aber als “erster Fall”, diese Erfahrung des Antwortens, das ein Ver-antworten ist, verbindet mich noch vor jeder Vorstellung, vor jedem Konzept vom und vor jedem Anspruch an den Anderen mit ihm.

Wenn Levinas in seiner Leuvener Vorlesung die Linie Aristoteles-Descartes-Hegel-Husserl als kritischen Abstoßungspunkt wählt, dann erscheint er selbst als der letzte Vertreter einer Linie, die von Anaximander und Empedokles über Pascal, Hume, Spinoza und Nietzsche bis Bergson reicht, in der das philosophische Absolute nicht gedacht wird als höchster Punkt oder tiefster Grund, sondern als Vollzug, Geschehen, Prozess, nicht einfach nur als abstraktes Werden oder formale Möglichkeit, sondern als konkreter Bezug, Betroffensein-von und Eingebundensein-in, als transzendentale Erfahrung eines Entzugs, der zugleich Entfaltung und unabgeschlossene Vielfalt bedeutet. Es ist an der Zeit, die Philosophie Levinas’ neu zu entdecken und mit ihr die Philosophie, auf die sie antwortet und zu der sie gehört. Mit der Übersetzung der Vorlesung Ethik als Erste Philosophie von Gerhard Weinberger, die durch ein Glossar der wichtigsten Begriffe, einen einordnenden Essay des Übersetzers und eine kleine Handbibliothek ergänzt wird, hat man die Gelegenheit dazu.

Emmanuel Levinas: Ethik als Erste Philosophie. Aus dem Französischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Weinberger. Sonderzahl Verlag, Wien 2022. 96 Seiten, 16 Euro.

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