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Zurzeit leiden in Deutschland 1,7 Millionen Menschen an einer Demenz. Etwa zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. Pro Jahr ist mit rund 300.000 Neuerkrankungen zu rechnen – Tendenz steigend. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft geht auf Basis der demografischen Entwicklung von drei Millionen Demenzkranken im Jahr 2050 aus, wenn es keinen Durchbruch in Prävention und Therapie gibt. Während weniger als zwei Prozent der unter 65-Jährigen an Demenz leiden, steigen die Zahlen ab 65 Jahren sprunghaft an. Bei den 85- bis 89-Jährigen sind etwa 25 Prozent erkrankt.1

Demenz ist ein Überbegriff für verschiedene neurologische Krankheitsbilder unterschiedlicher Ursachen. Die häufigste Erkrankungsform Morbus Alzheimer, die rund zwei Drittel der Demenzen ausmacht, zeigt spezifische Merkmale wie den stetigen Verlust von Nervenzellen. Die genaue Ätiologie muss weiter erforscht werden, vorrangig scheinen aber Tau-Proteine und Beta-Amyloide verantwortlich zu sein, die sich im Gehirn als Plaques ansammeln können. Weitere Formen der Demenz sind die Lewy-Körperchen-Krankheit und Morbus Pick (frontotemporale Demenz), bei denen sich ebenfalls Proteine ablagern. Zu nennen ist auch das Parkinson-Syndrom. Einen hohen Risikofaktor, eine Demenz zu entwickeln, stellen vaskuläre Erkrankungen dar – oftmals als Folge von Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Dyslipidämien und Rauchen. Gefäßverengungen können zu Durchblutungsstörungen, kleinen Infarkten bis hin zur Zerstörung von Nervenzellen führen (vaskuläre Demenz). Oft treten im Alter auch Mischformen auf.1, 2 „Demenzerkrankungen sind definiert durch den Abbau und Verlust kognitiver Funktionen und Alltagskompetenzen. Bei den zumeist progressiven Verläufen kommt es unter anderem zu Beeinträchtigungen der zeitlich-örtlichen Orientierung, der Kommunikationsfähigkeit, der autobiografischen Identität und von Persönlichkeitsmerkmalen“ (S3-Leitlinie Demenzen).2

Therapie und Prävention

Eine kurative Therapie gibt es bislang nicht. Pharmakologische und psychosoziale Maßnahmen können lediglich Symptome lindern. Im frühen Stadium kann unter anderem gezieltes Gehirnjogging helfen. Als Antidementiva sind Acetylcholinesterase-Hemmer (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin) und der nichtkompetitive NMDA-Antagonist Memantin zugelassen, die allerdings nur die Kernsymptome kognitive Störungen und Einschränkung der Alltagsfähigkeit mindern können. Krankheitsmodifizierende Medikamente befinden sich in der Entwicklung. Ginkgo-Biloba-Präparate können ergänzend erwogen werden. Zusätzlich werden psychische und Verhaltenssymptome wie Depressionen, Wahnvorstellungen, Angstzustände und Aggressivität mit Antidepressiva oder Antipsychotika behandelt.2 Da genetische Faktoren nur selten eine Ursache der Erkrankungen sind, circa ein Prozent bei Morbus Alzheimer und zehn Prozent bei frontotemporaler Demenz, stellen vor allem Lebensgewohnheiten sowie das Alter Risikofaktoren dar.3 Daher steht die Prävention im Fokus: In der Leitlinie Risk reduction of cognitive decline and dementia empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausreichend Bewegung, eine ausgewogene Ernährung, ein gesundes Körpergewicht, einen moderaten Alkoholkonsum und den Verzicht auf Tabakwaren sowie geistige Betätigungen und die Pflege sozialer Kontakte.4

Demenzen verändern die Funktion in bestimmten Gehirnarealen sowie Neurotransmittersystemen. Patienten reagieren daher mit verändertem psychischem Erleben oder Verhalten. Ungünstige Situationen oder Schmerzen können Auslöser für Reaktionen wie Angst, Aggressivität, Traurigkeit oder Ärger sein.2, 5 Zu Beginn sind sie mit Angst vor dem Verlust der Alltagskompetenzen und der Selbstbestimmung verbunden, woraus oft Apathie resultiert. Im mittleren Stadium führt dieses Ohnmachtsgefühl häufig zu aggressivem oder misstrauischem Verhalten.6 Da demente Menschen sich nicht äußern (können) oder vergessen, dass etwas schmerzhaft war, werden Schmerzen häufig nicht von der Umgebung bemerkt, darunter auch Zahnschmerzen. So kann jedoch beispielsweise das Verweigern von Nahrung auf Funktionseinschränkungen hindeuten. Schmerzen werden durch Grimassen, Stöhnen, Schreien oder auch veränderte Gewohnheiten geäußert. Spätestens wenn Schwellungen oder Infektionen bemerkt werden, ist die Konsultation des Zahnarztes unerlässlich.5, 7

Anamnese und Aufklärung

Anamnese und klinische Diagnostik sind bei demenziell veränderten Patienten nicht selten eine Herausforderung. Ein Röntgenbefund kann – wenn umsetzbar – Klarheit über die Schmerzursache bringen.5 Auch Polymedikation kann zum einen Schmerzen weiter kaschieren und zum anderen zu unerwünschten Arzneimittelwechselwirkungen führen.2, 6, 7 Der behandelnde Arzt sollte Medikamente erfassen und rechtliche Aspekte vor der Behandlung klären. Denn auch demente Patienten müssen ihre Einwilligung in jede Behandlungsmaßnahme geben und über Risiken und Alternativen aufgeklärt werden. Wichtig dabei:

  • Aufklärung verständlich und angepasst an den Zustand des Patienten
  •  Einwilligungsfähigkeit dokumentieren
  • Liegt keine Patientenverfügung o. Ä. vor, muss ein gesetzlicher Stellvertreter zustimmen
  • Notfallsituationen: unaufschiebbare ärztliche Maßnahmen sind einzuleiten, auch wenn Wille nicht bekannt

Bezüglich der konkreten medizinischen Maßnahme gilt eine Person als einwilligungsfähig, wenn folgende Kriterien erfüllt werden: Informationsverständnis, Einsicht, Urteilsvermögen, Kommunizieren einer Entscheidung. Details finden sich in der S2k-Leitlinie: „Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen.“8

Orale Auswirkungen von Demenz

Viele insbesondere pflegebedürftige Demenzpatienten sind nicht mehr in der Lage, ihre Mundhygiene selbstständig aufrechtzuerhalten.6, 7, 9 Da bei ihnen Geruchs- und Geschmacksinn nachlassen, greifen sie besonders häufig zu stark gesüßten oder gesalzenen Nahrungsmitteln. So treten gehäuft auf: Karies, insbesondere am Kronenrand und an der Wurzel, orofasziale Schmerzen, parodontale Probleme, Xerostomie, Infektionen (Candidiasis) sowie Entzündungen (u. a. Stomatitis und Cheilitis).7, 10 Studien konnten zeigen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Demenz und der Anzahl verbleibender Zähne besteht. Zahnverlust und folgend komplette Zahnlosigkeit ist bei diesen Patienten häufiger anzutreffen.11, 12 Das wirkt sich wiederum negativ auf Kaufunktion und Nahrungsaufnahme aus. Kauen trägt zur Durchblutung bei und scheint den Hippocampus zu stimulieren, weshalb eine verminderte Kaufunktion auf umgekehrtem Wege die Demenz beeinflussen könnte.6, 7Des Weiteren scheint es eine bidirektionale Beziehung zwischen Alzheimer und Parodontitis zu geben.13 Auf der einen Seite leiden Demenzpatienten häufiger an Parodontitis durch die meist schlechte Mundhygiene, auf der anderen Seite kann die systemische Inflammation der Parodontitis die Progression der Demenz womöglich beschleunigen. Bei Alzheimer verursachen die Beta-Amyloid-Plaques eine Neuroinflammation, die zum Absterben der Nervenzellen führt. Wie bei anderen systemischen Erkrankungen, die mit Parodontitis assoziiert sind, finden sich im Plasma der Patienten erhöhte Level an Entzündungsmediatoren wie Interleukin-1 und -6 sowie dem Tumornekrosefaktor-α.14, 15 Bei Patienten mit Parodontitis war der kognitive Abbau in einer Beobachtung über sechs Monate um das 6-Fache beschleunigt.16 Neben der Theorie, dass die Parodontitis die zerebrale Inflammation befeuert, ist es möglich, dass orale Bakterien über den Blutkreislauf die Blut-Hirn-Schranke passieren. So wurden in Gehirnen von Alzheimerpatienten Porphyromonas gingivalis sowie dessen Proteasen nachgewiesen. Diese Gingipaine scheinen einen negativen Einfluss auf Tau-Proteine und Ubiquitin zu haben. Sie zeigten in vitro und in vivo eine neurotoxische Wirkung. Gingipain-Inhibitoren könnten ein Ansatz sein, die Neurodegeneration im Hippocampus aufzuhalten.17 Bei Alzheimerpatienten wurden außerdem geringere submandibuläre Speichelflussraten erfasst. Die Xerostomie, auch medikamenteninduziert oder als Folge anderer Erkrankungen, trägt zum Teufelskreis bei, denn sie forciert Karies und Entzündungen und verschlechtert den Sitz von Prothesen.7

Behandlung von Demenzpatienten

Im frühen Stadium einer Demenz kann eine reguläre Behandlung in der Praxis in aller Regel problemlos stattfinden. Nach der Diagnose sollten erforderliche Zahnsanierungen durchgeführt werden, da umfangreichere Behandlungen bei fortschreitender Krankheit gegebenenfalls nur unter Vollnarkose erfolgen können. Solange der Patient einwilligungsfähig und kooperativ ist, sind Eingriffe unter Lokalanästhesie möglich. Denn die Ablehnung des Patienten oder die Unkooperativität durch kognitive Beeinträchtigung stellt eine absolute Kontraindikation für die zahnärztliche Lokalanästhesie dar.18 Articain ist bei älteren Patienten zu bevorzugen, die Gesamtdosis aber dem Belastungszustand anzupassen.19 Beim Adrenalinzusatz ist eine Reduktion ebenfalls sinnvoll, insbesondere wenn mehrere Erkrankungen vorliegen oder mehr als zwei Medikamente verabreicht werden (zum Beispiel Ultracain® D-S 1 : 200.000).20, 21 Kardiale Risikopatienten bieten hier mit 40 μg pro Behandlung eine Orientierung, also etwa 6,7 ml Lösung für Adrenalin 1 : 200.000.22 Liegen Kontraindikationen gegen Adrenalin vor, kann auf adrenalinfreies Articain (Ultracain® D ohne Adrenalin) zurückgegriffen werden.23 Patienten und später auch Bezugspersonen oder Pflegepersonal sollten zudem genaue Mundhygieneinstruktionen erhalten und üben sowie angemessene Hilfsmittel wie elektrische oder Dreikopfzahnbürsten nutzen. Regelmäßige Prophylaxesitzungen, Fluoridierung und Prothesenkontrollen bilden die Basis für den Erhalt der Mundgesundheit, der Kaufunktion und der Lebensqualität. Auch Infektionen wie Pneumonien kann so vorgebeugt werden.6, 7 Zum Ende des mittleren Stadiums verlieren Demenzkranke ihre Sprache, die Patienten sind jetzt häufiger ängstlich oder unkooperativ – eine bisweilen kräftezehrende Angelegenheit für alle Beteiligten. Von nun an sollten zahnärztliche Behandlungen so kurz wie möglich gehalten werden und lediglich grundlegende Mundhygienemaßnahmen, Schmerztherapie und gegebenenfalls Reparaturen des Zahnersatzes und damit der Erhalt der Kaufunktion im Vordergrund stehen. Oftmals leiden Betroffene an Schluckstörungen, hier muss insbesondere die Aspiration von Fremdkörpern vermieden werden, z. B. durch Rückenlage des Patienten. Atraumatische Techniken und Sedierung können sinnvoll sein.6, 7 Bei ausgeprägter Polymedikation ist jedoch Vorsicht geboten. So können Sedativa wie Diphenhydramin und Doxylamin mit Neuroleptika interagieren.24 Sind Eingriffe nicht mehr sicher unter Lokalanästhesie möglich, sollten die Patienten in die Klinik überwiesen werden. Die Indikation zur Intubationsnarkose sollte immer streng gestellt werden, da sie bei Demenzpatienten ein Delir zur Folge haben kann.2, 6

Kommunikation bei der Behandlung

Bei Demenzpatienten hilft es, mehr Zeit für die Behandlung einzuplanen. Es ist besonders wichtig, ruhig zu kommunizieren und Emotionen anhand der Körpersprache frühzeitig zu erkennen, zum Beispiel beschleunigte Atmung, sich weitende Augen bei Angst. Die „Tell – Show – Do-Technik“ kann das Vorgehen erklären: Anweisungen sollten möglichst langsam, einfach und Schritt für Schritt gegeben werden, z. B. beim Mundausspülen – zunächst den Becher nehmen lassen, einen Schluck in den Mund nehmen, dann spülen und immer loben. Auch Bewegungen können dies veranschaulichen. Reizüberflutung ist für Demenzpatienten nur schwer zu verkraften, deshalb sollten Nebengeräusche und Ablenkungen vermieden werden, z. B. zu viele Personen im Raum. In den meisten Fällen hilft es aber schon, auf Augenhöhe zu kommunizieren, Wertschätzung zu zeigen, ein Lächeln entgegenzubringen, ein positives Gespräch zu beginnen, einfache Fragen zu stellen – wenn auch einseitig – oder eine kleine Berührung. So lassen sich Eskalationen in der Regel vermeiden. Regt der Patient sich auf, kann das freundlich kommentiert werden. Eine Ablenkung, z. B. der nächste Schritt vom Wartezimmer in das Behandlungszimmer, oder eine Beschäftigung sind dann ebenfalls sinnvoll.7, 25

Fazit

In den kommenden Jahren werden immer mehr Demenzpatienten eine zahnärztliche Versorgung benötigen. Die Prophylaxe und Behandlung tragen maßgeblich zur Gesundheit und Lebensqualität der Betroffenen bei – nicht nur zum Erhalt der Kaufunktion, sondern auch zur Allgemeingesundheit. Denn orale Symptome wie Parodontitis können den kognitiven Abbau wohl zusätzlich beschleunigen. Andersherum haben Demenzerkrankte aufgrund der mangelnden Mundhygiene häufiger orale Probleme. Bei der Anamnese sollten neben dem kognitiven Zustand auch weitere Erkrankungen sowie Medikamente berücksichtigt werden. Auf das veränderte Verhalten der Betroffenen sollten Zahnärzte mit Feingefühl eingehen und sich mehr Zeit für die Behandlung nehmen.

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Autorin: Isabel Becker

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