Die SPD von innen: wie zehn Minuten die Partei verändert haben

Der Kanzler ist angeschlagen, die Ampel fiebert – und plötzlich testet die SPD einen neuen Ukraine-Sound. Kann das gut gehen? In dieser Lage? Innenansichten einer aufgewühlten Partei.

Der Soundcheck war vielversprechend, nun geht es ans Finetuning. Rolf Mützenich legt die Hände ineinander – und grinst. Er hat mit der Frage gerechnet, sie wird gleich zuerst gestellt.  

Ob er seine Überlegungen zu einem “Einfrieren” des Ukraine-Kriegs zurücknehmen wolle, sich falsch verstanden fühle? 

Mützenich könnte jetzt zurückrudern, etwas Brisanz aus seiner Aussage nehmen, über die selbst das Ausland seit Tagen staunt, das politische Berlin sowieso. Aber Mützenich dreht nochmal auf. 

Es sei “ermüdend”, dass die Debatte nur um Waffen kreise. Er wolle sie erweitern und dazu ermutigen, dass wenn sich ein “Fenster der Gelegenheit” öffnen sollte, dann auch durchzusteigen. Dieses Fenster sieht er wegen Putin “zur Zeit noch nicht”, räumt Mützenich ein. Aber einmal geöffnet, könnte es dabei helfen, zu “lokalen Waffenruhen”, zu humanitären Feuerpausen zu kommen. Wieder spricht er vom “Einfrieren” von Konfliktsituationen. Er meidet das Reiz- und Streitwort nicht. Er umarmt es.

“Ich kann es nicht lassen, es tut mir leid”, sagt Mützenich. Wieder: ein Grinsen.

Nach rund 20 Minuten verschwindet Mützenich im Fraktionssaal der SPD, gleich beginnt die Sitzung, über die später noch zu reden sein wird. Es ist Dienstagmittag und Mützenich wirkt zufrieden. Der Fraktionschef hat seine Botschaft platziert: Ihr habt mich schon richtig verstanden – und ich werde es nicht lassen.

Warum auch? Die Sozialdemokraten, seit Monaten im Tief, schwer verunsichert von der Wut auf die Ampel und dem Druck der Populisten, scheinen ein Thema identifiziert zu haben, von dem sie glauben, es könnte ihnen helfen. Ein Thema, das tief in ihrer Partei-DNA angelegt ist. Hinter dem sich alle versammeln können: die SPD, die alte neue Friedenspartei. Solidarisch mit der Ukraine, aber auch über den Tag hinaus denkend. Ende des Krieges, einfrieren der Front. Frieden, vielleicht. 

Das Wort “einfrieren” sorgt für Irritation, teils gar Entsetzen. Ein Geschenk für Putin wäre das, so der Tenor. Viele Sozialdemokraten aber reagieren euphorisch, empfinden den neuen Sound als eine Art Befreiungsschlag. Die Frage ist, ob das nur Inszenierung ist, ob da was zur Strategie erklärt wird, was eigentlich gar nicht hätte passieren dürfen. Und ob die Koalition das noch aushält. Kann das gut gehen?

Der SPD-Fraktionschef ließ sich kurzfristig auf die Rednerliste setzen

Bundestag, eine Woche zuvor. Der Tag, an dem Mützenich die Koalitionspartner schockfrosten sollte. Schon die Versuchsanordnung konnte stutzig machen. Zwar schickten auch Grüne und FDP namhafte Rednerinnen und Redner vor, um – recht zerknirscht – ihre Ablehnung zum wiederholten Antrag der Unionsfraktion festzuhalten, der Ukraine doch noch den weitreichenden “Taurus”-Marschflugkörper zu liefern. Doch einzig die SPD-Fraktion bot ihren Chef auf. Wohlgemerkt: Den Vorsitzenden der größten Regierungsfraktion. Zu einem Oppositionsantrag, den die Ampel schon einmal abgeschmettert hatte. Und ausgestattet mit einer üppigen Redezeit von zehn Minuten.

Eigentlich war gar nicht vorgesehen, dass Mützenich in der Debatte spricht. Nach stern-Informationen ließ sich der Fraktionsvorsitzende kurzfristig auf die Rednerliste setzen. Es war offenbar ein gezielter, bewusst platzierter Auftritt. Um einen bestimmten Punkt zu machen?

“Ist es nicht an der Zeit”, fragte Mützenich am Rednerpult, “dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann? Geht es nicht politisch auch um diese Fragen?”

Jetzt schon. Mützenich hat sie der Koalition aufgezwungen. Zur Begeisterung der Genossen. Oder sind sie nur begeistert, weil sie gar nicht anders können? Weil sie sich in der schwierigen Lage, in der sich die SPD seit Monaten befindet, nicht noch den Eindruck erlauben dürfen, in Sachen Ukraine gespalten zu sein?

Das Plenarprotokoll vermerkt an dieser Stelle “Beifall bei der SPD”, aber auch der Linken und dem BSW sowie bei Abgeordneten der AfD. Darin keine Erwähnung finden das Kopfschütteln von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock auf der Regierungsbank, die verdutzten Gesichter und regungslosen Hände in den Reihen der Koalitionspartner von Grünen und FDP. Die Koalitionspartner trauen ihren Ohren nicht. Nicht nur FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat die Wortwahl “entsetzt” zurückgelassen. “Eingefrorener Mist bleibt auch nach dem Auftauen Mist”, sagt sie.

Doch der Impuls von Mützenich, und nicht zuletzt die Kritik daran, lässt die Genossen zusammenrücken. Sie richten sich in einer roten Wagenburg ein, aus Trotz und Überzeugung. Nur eine Minderheit in der Fraktion fremdelt mit dem Begriff “Einfrieren”, die überwältigende Mehrheit stehe hinter der Analyse, dass der Friedensaspekt in der Diskussion zu kurz komme – erzählen selbst die, die kritisch sind. Fast wirkt es, als hätten zehn Minuten die Partei verwandelt.

Fragt sich nur: Warum kommt die SPD mit ihrem Vorstoß gerade jetzt um die Ecke? Wenn weder Frieden in Sicht ist, noch ein diplomatischer Weg dorthin? 

Dieses Jahr ist ein Superwahljahr, gemessen an den aktuellen Umfragen droht der SPD eine Superschlappe – in mehrfacher Ausführung. Erst bei den Europawahlen im Juni, dann bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Herbst. Die Kanzlerpartei ringt um das Interesse der Wählerinnen und Wähler, indem sie stur die umstrittene Bürgergelderhöhung verteidigt oder auf die Absicherung des Rentenniveaus abhebt. Wichtige Themen, keine Frage. Aber die kontroversen, spannenden Vorschläge kommen von der Konkurrenz.

Neue inhaltliche Impulsen, wie sie zuletzt Co-Parteichef Lars Klingbeil mit einem Zehn-Punkte-Plan zur Stärkung der Wirtschaft setzen wollte? Kriegt niemand mit. Angelegt sind die Reformvorschläge ohnehin für eine Zeit nach der Ampel. Oder ist die FDP plötzlich doch für ein Update der Schuldenbremse zu haben? Selbst in der Arbeitsgruppe Schuldenbremse, in der SPD-Abgeordnete nun konkrete Reformvorschläge ausarbeiten, macht man sich darüber keine Illusion.

Es läuft schlecht für die Sozialdemokratie, die versucht, sich Gehör zu verschaffen. In aktuellen Umfragen rangiert die Kanzlerpartei bei 16 Prozent. Moment: 16 Prozent? Zeigt die Kurve etwa nach oben?

Olaf Scholz verteidigt Rolf Mützenich

Nicht wenige in der SPD verweisen auf das leichte Plus. Sie führen es auch auf Olaf Scholz zurück, den Bundeskanzler, der sich als umsichtiger Mahner gibt und Garant dafür, dass weder Deutschland noch die Nato in den Krieg hineingezogen werden. Seine langwierige Abwägung in der “Taurus”-Frage, von vielen als Unentschlossenheit kritisiert, verkauft er als Stärke. Der Kanzler nennt es Besonnenheit und glaubt eine Mehrheit der Deutschen auf seiner Seite. Nun wird diese Erzählung von Fraktionschef Mützenich und seiner Überlegung flankiert, auch über Wege zu einem Frieden nachzudenken und die Diskussion nicht nur auf Waffenlieferungen zu verengen. 

Aus innenpolitischen Motiven? Der Verdacht, dass es sich um Wahlkampfmanöver handeln könnte, wird von SPD-Politikern empört zurückgewiesen. Im Grunde genommen habe Mützenich nichts Neues gesagt, heißt es dann, die Position der SPD sei nie eine andere gewesen. Dabei ist die Intonierung sehr neu. 

Vorteil: Die Genossen setzen sich damit von der Opposition ab, die entschieden für “Taurus”-Lieferungen sind und Mützenichs Überlegungen bestenfalls als naiv abtun. Nachteil: Sie steht im Kontrast zur Tonlage, den die SPD in den vergangenen zwei Jahren angeschlagen hat. Und die Partei bekommt plötzlich Lob, auf das sie wohl gut verzichten könnte. Altkanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder wähnt den Fraktionschef “auf dem richtigen Weg”. Auch das noch.

Allerdings wird man den Eindruck nicht los, dass die SPD längst auf Wahlkampf geschaltet hat. Wenn sich die Genossen beispielsweise in aller Härte an der FDP-Politikerin Strack-Zimmermann abarbeiten und an ihrer Eignung als Chefin des Verteidigungsausschusses zweifeln, kriegt man einen Eindruck davon, wie es um das Nervengerüst in der Partei steht. Vordergründig tun die Sozialdemoratin das, weil die Liberale zu viele Teilnehmer an einer geheimen Ausschusssitzung zugelassen habe, was Durchstechereien provoziert habe. Aber sicher auch, weil sich Strack-Zimmermann als entschiedene Gegnerin des Kanzlers und Fraktionschefs profiliert – indem sie immer wieder für den “Taurus” eintritt oder der SPD eine “Appeasement-Politik” vorwirft. 

Mittwochmorgen, Pressefrühstück mit Katja Mast. Die SPD-Fraktionsmanagerin lädt in den Sitzungswochen traditionell zum Get-together mit Medienvertretern, um über die aktuellen Plenarthemen zu informieren. Das Gespräch ist öffentlich, findet nicht off the record statt, es darf also daraus zitiert werden. Insofern ist es bemerkenswert, dass Mast auf Nachfrage aus der Fraktionssitzung einen Tag zuvor berichtet, die hinter verschlossenen Türen stattfindet. 

Zumindest berichtet Mast über das, was sie in der Öffentlichkeit wissen will.

Von der “großen Rückendeckung” für Mützenichs “Einladung”, die Debatte zu “weiten” und einen “Dialog” darüber zu führen, wie ein Frieden in der Ukraine perspektivisch organisiert werden könne. Die Unterstützung der Abgeordneten sei in der Sitzung “deutlich” geworden, erzählt Mast. Auch vom Abgeordneten Olaf Scholz, versichert sie. Es sei aber “völlig klar”, dass die Entscheidungshoheit bei der Ukraine liege und die deutsche Unterstützung unverbrüchlich sei. 

Tatsächlich hat Scholz in der Fraktionssitzung die Rede von Mützenich im Bundestag verteidigt, wie Teilnehmer berichten, auch wenn sich der Kanzler den Begriff vom “Einfrieren” nicht zu eigen gemacht haben soll. Die Rückendeckung vom Regierungschef ist nicht überraschend. Er dürfte wissen, dass er es sich mit seinem Schutzpatron – der ihm die Mehrheiten organisiert und die Fraktion fest im Griff hat – nicht verscherzen sollte. Auch eine Debatte um die Formulierung habe es nicht gegeben, heißt es. Nur große Einigkeit. 

Der Unmut über Boris Pistorius wächst

Vielleicht sticht einigen deswegen besonders ins Auge, wer aus der demonstrativen Geschlossenheit ausbricht – und die Debatte in ganz andere Bahnen lenken will.

Boris Pistorius, der Verteidigungsminister, hat sich zwei Mal von der Überlegung distanziert, den Krieg “einzufrieren”. Das würde am Ende nur Putin helfen, sagte der Niedersachse nach einem Treffen mit seinem polnischen Amtskollegen in Warschau. Kurz darauf legte er im Deutschlandfunk noch einmal nach. 

Die Absetzbewegung wurde in der Partei aufmerksam registriert. Manchen Genossen machte sie stutzig. Mützenich sieht den selbstbewussten Verteidigungsminister ohnehin kritisch.

Am Freitag, also einen Tag nach dem Zehn-Minuten-Manöver von Mützenich, traf sich der SPD-Parteivorstand zu einer zweitägigen Vorstandsklausur. Auch Pistorius gehört diesem Gremium an. Der Co-Parteivorsitzende Lars Klingbeil soll den Beitrag des Fraktionsvorsitzenden gelobt haben. Dafür habe es Applaus gegeben – auch vom Verteidigungsminister. Wortmeldungen zu der kontroversen Aussage blieben Teilnehmern zufolge aus. Folglich habe auch Pistorius nicht die Hand gehoben.

Warum? Hat der Verteidigungsminister, in dem auch wegen hoher Beliebtheitswerte ein Rivale des Kanzlers entstanden ist, erstmal abgewartet, in welche Richtung sich die Debatte öffentlicht entwickelt? 

So kommt es einigen Genossen vor. Sie wollen in Pistorius‘ Distanzierung zwar keinen grundsätzlichen Dissens in der Sache erkennen. Das würde die Erzählung konterkarieren, dass die SPD geschlossen stehe. Aber der Unmut über den Beliebtheitsminister wächst – der weder die Kanzler-Gerüchte konsequent austritt, noch dementiert, er sei insgeheim für eine Lieferung von “Taurus”-Marschflugkörpern. 

Pistorius müsse nun mal “zur Rede gestellt” werden, giftete dem Vernehmen nach ein Abgeordneter bei einer Sitzung der Landesgruppe Niedersachsen/Bremen im Bundestag am Montagabend. Zum wiederholten Mal sei der Minister ausgeschert. Auch in dieser Sitzung: große Unterstützung für Mützenich. Wachsender Ärger über Pistorius. 

Wie sehr die SPD die Rolle der Friedenspartei wohl schon verinnerlicht hat, zeigt ein Auftritt von Nils Schmid am Donnerstag im Bundestag. Der außenpolitische Sprecher der Fraktion sprach in einer Aktuellen Stunde zur Lage in Israel und den Palästinensischen Gebieten. Eine mögliche israelische Bodenoffensive in der Stadt Rafah besorgt Beobachter weltweit, könnte diese auch viele zivile Opfer fordern. Auf seinem Besuch in Israel hatte Bundeskanzler Scholz deutlich gemacht, dass er eine Offensive im Süden des Gazastreifens ablehnt. 

Schmid teilt diese Sorge und hebt lobend hervor, dass “Kanzler Schröder… äh, Scholz” vor jener Bodenoffensive warnen würde. 2003 hatte Altkanzler Schörder eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg ausgeschlossen, woraufhin er als “Fridenskanzler” betitelt wurde. So wie Scholz heute, obwohl die Umstände gänzlich andere sind.

Aber die SPD hat ihren neuen Sound offenbar schon so verinnerlicht, dass sie die eigenen Kanzler verwechselt. 

source site-3