“Die große Elchwanderung”: Quotenhit aus Schweden kommt ins deutsche TV

In Schweden ist “Die große Elchwanderung” eine beliebte Sendung. Nun stapfen die Tierriesen auch durchs deutsche Fernsehen. Wie werden die Zuschauer auf das Fest der Langsamkeit reagieren?

Vor der Stille kommt der Lärm. Wir sind in einem Minivan drei Stunden lang durch den Vorfrühling gefahren, was hier, ziemlich genau in der geografischen Mitte Schwedens, bedeutet: Die gräulichen Schneeberge am Straßenrand sind nur noch mannshoch, und die täglich mutiger werdende Sonne verwandelt die Überbleibsel des Winters zunehmend in eine Seenlandschaft.

Am Rande eines zugefrorenen Flusses und eines luftigen Waldes aus Kiefern, zwischen Fichten, ein paar einsamen Weiden und sehr vielen Birken wird die Route bald zu unwegsam. Gummistiefel müssen her, und wir steigen um auf ein Kettenfahrzeug, einer Mischung aus Quad und Motorschlitten, das durch die Wildnis knattert.

Am Ort des Geschehens werkelt bereits ein Team des schwedischen Fernsehens an ein paar Kameras und Mikrofonen herum. Danach wird erst einmal ein Kugelgrill zusammengeschraubt, um Rind und Hühnchen fürs Mittagessen zu braten. Elchfleisch gibt es nicht. Zu teuer.

Ein LKW mit Filmequipment im Wald - die Filmcrew bereitet sich vor, die Kamerafallen aufzustellen.

Stefan Edlund, Mit-Produzent der Elch-Sendung, fährt stern-Redakteur Matthias Schmidt, den Produzenten des schwedischen Fernsehsenders SVT Johan Erhag und den Techniker Bengt Strömbro zum Ort der Kamerafallen

© Marc Femenia / stern

Wir sind angekommen am Set von “Den stora älgvandringen”, der großen Elchwanderung. Einem Fernsehereignis, das über weite Strecken ereignislos daherkommt und längst nicht nur schwedische Zuschauer entschleunigt. Mehr als zwei Wochen lang überträgt der öffentlich-rechtliche Sender SVT seit 2019 einen Livestream von einer abgelegene Flussinsel, rund um die Uhr. Hier ziehen, sobald Ende April das Tauwetter einsetzt, die weltgrößten Hirsche von ihren Winterquartieren entlang der Küste ins bergigere Landesinnere. Besonders spektakulär: Sie gehen dafür auch schwimmen. Anbaden sozusagen.

Die Route durchs Wasser steckt seit mindestens 6000 Jahren in ihren Genen, vermuten Forscher. Die Einheimischen zeigen derweil gern auf die überall verstreuten Kuhlen im Waldboden, in denen schon in der Steinzeit Elche gefangen wurden.

Einschalten zum Abschalten mit “Slow TV”

Nachdem die Senderechte des ungewöhnlichen Events bereits nach Finnland verkauft wurden, ist nun zum ersten Mal auch deutsches Fernsehen mit unterwegs. RTL und RTL+ übertragen und berichten anlässlich des Earth Days, eines globalen Aktionstags zu Umwelt- und Klimaschutz, ab dem 22. April. Sie hoffen auf gute Quoten. Auch wenn niemand ein Spektakel garantieren kann. Bei der Premiere des Formats vor fünf Jahren seien 30 Stunden lang nur Eisschollen durchs Bild getrieben, erinnern sich die Erfinder und Macher Johan Erhag und Stefan Edlund. Beschwerden der Chefetage wurden damals mit Humor gekontert: “Moment, ich ruf die Elche kurz an, vielleicht stecken sie noch in einer Konferenz”, hatte sich Edlund entschuldigt.

“Ehrlich gesagt, waren wir überrascht, dass die Deutschen nicht schon viel früher eingestiegen sind”, sagt Johan Erhag. Warum? Nun, sie kauften sich hier schon länger gern Sommerhäuser und klauten mit Vorliebe die rotgelben Warnschilder mit dem Elch-Schatten, so Erhag.

“Einschalten zum Abschalten” ist nun einer der Slogans, mit denen RTL die tierische Migration bewirbt. In einer der ersten Konferenzen gestaltete ein enthusiastischer Grafiker kurzerhand das Logo um: Aus RTL wurde RTElch. Damit am Ende nicht zu viel Ruhe einkehrt, wurde ein Begleitprogramm entworfen, das die Paarhufer wie in einer Talentshow groß rausbringen soll.

Geplant sind lustige Videos von Elchen, die Skifahrer jagen, im Krankenhaus aufkreuzen, im Kino Popcorn klauen oder an der Wohnungstür klingeln. Zuschauer und prominente Paten sollen außerdem ihren persönlichen Liebling küren. Ein Medienpsychologe und ein Neurologe untersuchen, was die Übertragung mit den Gehirnströmen der Zuschauer macht. In Schweden läuft die Sendung oft nebenbei, während des Kochens oder wenn Freunde zu Besuch sind, in Schulen, Kitas und beim Zahnarzt. Im schwedischen Original gibt es zudem einen Livechat, bei dem sich die Fans austauschen.

Das Phänomen nennt sich “Slow TV” und zieht seit Jahrzehnten langsam, aber stetig durch die Fernsehlandschaft. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit begann eigentlich als kulinarisches Projekt. Nach dem Protest eines italienischen Aktivisten gegen die Eröffnung einer McDonald’s-Filiale in der Nähe der Spanischen Treppe in Rom entwickelte sich ab Mitte der 80er-Jahre die internationale “Slow Food”-Bewegung. Daraus entstand eine ganze Subkultur, der es nicht darum ging, alles nur noch im Schneckentempo zu absolvieren, sondern Minuten und Stunden besser schätzen zu lernen. Wir sollen die Dinge so gut wie möglich und nicht so geschwind wie möglich erledigen, lautete fortan die Devise – in jedem Lebensbereich: vom Beruf über den Konsum und das Reisen bin zum Essen und der Kindererziehung. Heute nennt man das Achtsamkeit.

Eine Sendung wie ein lebendiges Ölgemälde

Als Pionier der kinematografischen Dehnung und Streckung wiederum gilt Andy Warhol. Er filmte in den 1960er-Jahren erst seinen Freund stundenlang beim Schlafen, danach fing er mit der Kamera ein, wie die Lichter im Empire State Building im Laufe eines Tages an- und ausgeknipst wurden.

Mitte der 80er-Jahre gab es einen New Yorker Kabelkanal, der nichts übertrug außer einem Kaminfeuer. Als im deutschen Fernsehen, angetrieben durch die Privatsender, die Sendezeit auf 24 Stunden ausgeweitet wurde, entstanden auch bei uns Sendeinseln der Kontemplation: das Treiben in einem Aquarium, die “Space Night” des Bayerischen Rundfunks sowie “Die schönsten Bahn-strecken Deutschlands”. Nicht zu vergessen ein Höhepunkt beim Sender Kabel eins: “Die lange Nacht des Schwertransports”.

Die Norweger trauten sich noch mehr und gingen live in die Primetime. Menschen, die zur besten Sendezeit in aller Ruhe einen Pullover stricken. Menschen, die Holz für ein großes Freudenfeuer stapeln und entzünden. Besonders erfolgreich war die längste Übertragung: die Dokumentation einer Schiffsreise mit elf Kameras über fast 135 Stunden. Mehr als drei Millionen schalteten ein, am Schluss schaute sogar Königin Sonja vorbei.

Die Elch-Population nimmt ab

In einer Zeit von Alltagshektik, Pushnachrichten und dem Dauerrauschen der sozialen Medien kommen Ruhe und Gelassenheit gut an. “Unsere Sendung ist wie ein lebendiges Ölgemälde”, sagt Erhag. “Wie ein Fenster nach draußen. Wir bringen den Leuten die Natur in ihr Wohnzimmer.” Keine Hintergrundmusik, keine Kommentatoren, nur Originalton.

Natürlich zeigen die Schweden dabei eine heile Welt. Die Population des Nationaltiers nimmt in Wirklichkeit beständig ab, die Einheimischen gehen einfach zu gern jagen. Neben dem Gebiet, in dem gefilmt wird, verläuft zudem eine vom Schwerverkehr viel befahrene Straße, die die Elche mit Vorliebe als Wanderstrecke nutzen. Regelmäßig kommt es zu Wildunfällen. “Das geschieht außerhalb unserer Kameraperspektiven”, sagt Erhag. “Sonst wäre es eine etwas andere Art von Fernsehen.”

Erhag, 43, ein kleiner Mann mit flinken Augen, der viel lacht und knallgelbe Gummistiefel trägt, kommt ursprünglich aus Stockholm und vom Sportjournalismus. Er hat auf der ganzen Welt Fußball, Eishockey und Segeln begleitet, auch Weltmeisterschaften.

“Man weiß nie, wo die Elche gerade sind”

Edlund, 44, ist gelernter Fotograf, hat schon für eine Medizinsendung gearbeitet und kürzere Naturdokumentationen gedreht in Afrika und im tropischen Regenwald. Während der Elchwanderung will er möglichst wenig schlafen – weil er als technischer Direktor für die Infrastruktur verantwortlich ist. Und weil er als Artdirector das Erfolgsrezept seines Formats kennt: “Ich will wie unser Zuschauer direkt dabei sein, wenn etwas geschieht”, sagt er. “Sie wissen: Wenn ich jetzt auf die Toilette gehe, verpasse ich möglicherweise etwas.” In der Zwischenzeit könne man sich ja gut dem Tirilieren der Vögel hingeben, dem Gesang des Waldes, dem Knirschen von Eis und Schnee.

Stefan Edlund, Produzent des schwedischen Fernsehsenders SVT in Umeå, steht im verschneiten Wald und telefoniert.

© Marc Femenia / stern

Wer nur die Highlights der täglichen Zusammenfassung anschaut, habe das Prinzip nicht verstanden, ergänzt Erhag. “Das ist doch genau der Reiz”, sagt er. “Man weiß nie, wo die Elche gerade sind. Oder ob sie überhaupt auftauchen.” Der Plan, eine Infrarotkamera einzusetzen, wurde deshalb schnell wieder verworfen. Genauso wie die Idee, einigen Tieren Spitznamen zu geben. “Das fühlte sich zu sehr nach Disney an, also verteilen wir jetzt nur noch vierstellige Nummern”, sagt Erhag.

Erhags und Edlunds erstes gemeinsames Vorhaben war die Observation einer Insel fürs norwegische Fernsehen, auf der sich Tausende von Vögeln treffen zum Paaren, Eierlegen und Brüten. Die Aufnahmen waren spektakulär, aber nicht ohne Probleme. “Der Geräuschpegel war komplett irre”, erinnern sich beide. Gegen die Massen an Vogelkot brauchte man einen Regenschirm. Gesendet wurde nur tagsüber.

“Die große Elchwanderung”: Als würden sie die Olympischen Spiele übertragen

Für die Elchwanderung wurde technisch enorm aufgerüstet. Die Schweden nehmen die Aufgabe so ernst, als würden sie Olympische Spiele übertragen. Eine Drohne und insgesamt 35 Kameras kommen zum Einsatz, darunter fünf mit Nachtsicht. Geschützt und verborgen unter einem schwarzen Plastikeimer und einem Tarnnetz, beides erhältlich im örtlichen Baumarkt.

Strom und Internetverbindung holt man sich aus einem momentan unbewohnten Ferienhaus vom gegenüberliegenden Flussufer. Die Signale laufen schließlich im Lokalstudio von SVT zusammen, gelegen im Gewerbegebiet der rund 200 Kilometer entfernten Großstadt Umeå.

Vorbereitung 1: Techniker Markus Skogström versteckt eine der insgesamt 35 Kameras in einem Baum

© Marc Femenia / stern

Vorbereitung 2: Der freiwillige Helfer Arne Nilsson assistiert beim Verlegen eines Glasfaserkabels

© Marc Femenia / stern

Im “Kontrollrum”, wo Erhag darauf wartet, dass sich auf den Bildern mehr bewegt als nur die Wellen und die Nadeln im Wind, arbeiten die Schweden in Schichten, nur zwischen 23 und fünf Uhr läuft der Stream automatisiert weiter. Insgesamt besteht das Team aus 20 Personen, allesamt Männer.

Gerade in den Nachtstunden drängen sich auch andere Tiere ins spärliche Licht und in den Vordergrund. Es gab bereits Auftritte von Bären und einem Vielfraß, dazu Mäuse, Ratten oder Biber, die leider gern mal an einem der insgesamt 17 Kilometer langen Kabelstränge knabbern.

Blickfang: Im “Kontrollrum” in Umeå überwachen Projektleiter Johan Erhag (hinten) und Techniker Simon Sahlin die Übertragung

© Marc Femenia / stern

Hufspuren und Elchkötel

Während des stern-Aufenthalts hat sich kein einziger lebender Elch blicken lassen. Nur ein ausgestopftes Exemplar war zu sehen: Gleich im ersten Stock des Heimatmuseums von Umeå blickt er einem freundlich ins Gesicht. Man kann ihn kraulen und an seinem typischen Kehllappen ziehen, wohl eine Art organische Klimaanlage, die im Sommer den Blutkreislauf des Elchs kühlt.

Immerhin: Wir haben die Spuren der Elche entdeckt, so groß und tief, als wäre ein kräftiger Mann durch den Schnee gestapft. Wir haben am Ufer ihre Ausscheidungen gesehen: dunkelbraune Kötel, deren Form an Eierbriketts denken lassen.

Und Rentiere waren unterwegs, Herden von Rentieren. Touristen verwechseln den deutlich kleineren Hirsch, eine Art Elch light, gern mit seinem Verwandten. Ein weiterer Unterschied: Rentiere mögen Gesellschaft. Sie lagern neben und auf der Hauptstraße. In dieser Jahreszeit fänden sie nicht genug Futter, erklärt Erhag, also leckten sie das Streusalz vom Asphalt. Lärm stört sie dabei nicht.

Transparenzhinweis: Der stern ist Teil von RTL Deutschland.

Erschienen in stern 17/2024

source site-8