Deutschlands Wirtschaft schwächelt. Was nun passieren muss

Unser altes Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr. Wir brauchen Mut und gute Ideen, um den Wohlstand des Landes zu retten. Wie kann das gelingen?

Vielleicht sollte man an der Grenze zur Schweiz Warnschilder anbringen. Kurz vor Basel stünde am Straßenrand: Achtung, jetzt kommt ein Land, das sich die meisten Deutschen leider nicht mehr leisten können. Norwegen ist für sie auch eine No-go-Area, Island sowieso. Sogar Oberitalien sollten preissensible Urlauber umfahren. Die Iren erwirtschaften inzwischen pro Kopf ziemlich genau doppelt so viel wie die Deutschen. Selbst wenn man allerlei Bilanztricks der dort sitzenden Konzerne abzieht, bleibt es dabei: Wir werden ärmer, sowohl absolut als auch im Vergleich zu anderen. Die Bundesrepublik ist die einzige große westliche Industrienation, der der Internationale Währungsfonds für dieses Jahr kein noch so klitzekleines Wachstum voraussagt. Dafür ein Minus von 0,3 Prozent.

Das klingt nicht nach Absturz. Aber es zeigt, dass wirtschaftliche Stärke zerbrechlich ist. Argentinien zum Beispiel war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eines der reichsten Länder der Erde. Nichts – oder fast nichts – ist dem Land vom Wohlstand geblieben. Kann uns das auch passieren? Es muss nicht so kommen, aber einen Neuanfang braucht nicht nur der deutsche Fußball.

Auf geht’s Deutschland!

Das hat nichts damit zu tun, dass die Menschen in Deutschland weniger fleißig oder talentiert wären als früher. Hansi Flick ist ja auch kein schlechterer Trainer als Jupp Derwall. Aber die Bedingungen haben sich geändert. Das alte Modell Deutschland hatte drei Grundlagen, allesamt wie geschaffen, um der Nation die Kassen zu füllen: Sicherheit war billig zu haben, weil die US-Amerikaner es mit ihrer furchterregenden Armee ermöglichten, für die Bundeswehr nur das Allernötigste aufzuwenden. Vor allem aus Asien kam alles billig und verlässlich per Container ins Land, um Fabriken mit Vorprodukten zu versorgen. Aus denen ging dann Edelware “made in Germany” wieder hinaus in die globalisierte Welt – etwa nach China, wo Volkswagen noch im vergangenen Jahr 40 Prozent seiner Autos verkaufte. Schließlich und drittens lieferte Russland preiswerte Energie, die unsere Wirtschaft in Schwung und die Wohnungen auf Temperatur hielt.

So hätte es weitergehen können. Doch nichts davon ist mehr, wie es war. Das zwingt uns, Neues zu wagen und vieles besser zu machen. Nun ist etwa die Forderung nach weniger Bürokratie weder frisch noch überraschend. Aber dringender als in guten Zeiten ist sie heute schon. Es schadet auch nicht, wenn die Bahn regelmäßig fährt und Brücken so beschaffen sind, dass man mit einem Windradflügel auf dem Schwerlaster drüberfahren kann – wenn der Transport denn irgendwann genehmigt wird. Der Kanzler redet von “Deutschland-Pakt” und “Deutschland-Tempo”. Jetzt muss aus den Worten nur noch eine Wende werden.

Illustration zum Thema "Wie geht's Deutschland?"

Die Baubranche leidet unter hohen Zinsen und Kosten – sie muss anders bauen, damit alle ein bezahlbares Dach über dem Kopf haben

© Ewelina Rzeczy/stern

Die kann tatsächlich funktionieren, wie ein stark strapaziertes Beispiel zeigt: Vor über 20 Jahren druckte das britische Magazin “Economist”, das klug und böse ist, ein Bild des urdeutschen grünen Ampelmännchens. Es schob einen Infusionsständer neben sich her. Deutschland war der “kranke Mann Europas”. Der Patient ist dann schnell genesen, was vor allem an der Therapie lag – an Reformen, die undenkbar schienen, aber letztlich geholfen haben. In einer aktuellen Titelgeschichte gehen die Briten nun milder mit uns um. Sie raten nicht zu Infusionen, sondern eher zu einer Art Kur, um wieder in Form zu kommen.

“Trainingsrückstand” ist die Diagnose, auf die sich das Konsil der Experten in den vergangenen Monaten verständigt hat. Aber wie kann das Land fit werden für die härteren Wettbewerbsbedingungen in der neuen Welt? Der stern hat dazu kluge Köpfe befragt – siehe die Texte auf diesen Seiten. Etwa den BASF-Vorstandsvorsitzenden Martin Brudermüller, der fordert, dass Firmen davon profitieren, wenn sie den Kohlenstoffdioxid-Ausstoß reduzieren. Oder die Soziologin Jutta Allmendinger, die vorrechnet, wie die 32-Stunden-Woche funktionieren kann.

Kriege und Naturkatastrophen belasten die Weltwirtschaft

Man muss nicht alle Ideen großartig finden, aber sie zeigen, was möglich wäre, wenn das Land seinen Mut zusammennimmt. Erstaunlich einig scheinen sich alle Befragten in einem Punkt: Es muss etwas passieren, wenn wir dem Schicksal der einst reichen Argentinier entkommen wollen. Allein das ist schon eine bemerkenswerte Erkenntnis.

Ihren Ursprung kann man in jeder Nachrichtensendung sehen. Da gibt es Berichte über Drohnenangriffe auf Kiew, über Manöver im Indopazifik, unfassbare Regenfälle in Griechenland oder über Mittelständler mit lebensgefährlichen Stromrechnungen – aber die allein erzeugen noch keinen klaren Eindruck davon, was sich für Wirtschaft und Staat in Deutschland geändert hat: so ziemlich alles.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine lässt die Militärausgaben drastisch ansteigen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro bei Weitem nicht reichen wird. Im Moment sind zudem die USA der mit Abstand größte Lieferant der ukrainischen Streitkräfte; doch niemand weiß, ob das nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr so bleiben wird. Die Europäer könnten gezwungen werden, sich sehr bald selbst um die Sicherheit auf ihrem Kontinent zu kümmern. Das würde dann ziemlich teuer.

Unabhängigkeit von China

Gleichzeitig steuert China wie Russland in eine Auseinandersetzung mit dem Westen. Chinesische Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe demonstrieren Stärke und Entschlossenheit in der Straße von Taiwan – das die Volksrepublik als abtrünnige Provinz betrachtet. Spätere Invasion nicht ausgeschlossen. Nach den Erfahrungen mit Russland muss daher schon jetzt die Abhängigkeit von China verringert werden. Das ist gerade wichtiger, als es die Kosten der von dort importierten Produkte sind. Für jede Lieferung soll es Alternativen geben, selbst Vorratshaltung – vor Kurzem noch ein geächtetes Wort – scheint ausgesprochen sinnvoll. Das alles kostet Wohlstand. “Ein Fokus auf befreundete Staaten ist hierbei jedoch nicht zielführend”, warnen die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Veronika Grimm und Christina von Rüden. Man müsse ja nur in die USA schauen, um zu sehen, dass sich auch westliche Demokratien erratisch verhalten können.

Wenn es wirklich drauf ankommt, scheint das eigene Land am sichersten. Auch deshalb gibt die Bundesrepublik viele Milliarden für die Ansiedlung von Chipfabriken in Magdeburg und Dresden aus. Der Mangel an Halbleitern, die vor allem in China und Taiwan gefertigt werden, hatte in vergangenen Krisen ganze Produktionen lahmgelegt.

Deutschland will sich unabhängiger von China machen, zum Beispiel durch eine Chipproduktion im eigenen Land

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Ob das Kalkül aufgeht? Die meisten Ökonomen sind eher skeptisch. Aber nach ihren Regeln funktioniert die Welt ohnehin nicht mehr. Die USA setzen auf Protektionismus und Subventionen, damit die Jobs im Land bleiben oder dorthinkommen. China, das ökonomisch unter Druck steht, versucht alles, um seine Industrie zu stärken. Und auch die Europäische Union hat Regeln gelockert, um eine Wirtschaftsförderung zu ermöglichen, die eigentlich gegen alle Regeln ist – zum Beispiel für die erwähnten Chipfabriken, aber auch für die Fertigung von Batteriezellen oder die Wasserstofftechnologie. In Amerika wie in Europa gibt es riesige Milliardenprogramme mit Namen, die nach Klimaschutz, Pandemiebewältigung und Inflationsabwehr klingen, die aber in Wirklichkeit auch dazu da sind, Firmen und Fabriken anzulocken.

“Deindustrialisierung” lautet das Schreckenswort der Mahner

Endgültig vergangen scheint die Zeit vor der großen Finanzkrise, in der man im Grunde darauf vertrauen konnte, dass in einer globalisierten Wirtschaft jeder seinen Profit sucht und Politik und Ideologie erst weiter unten auf der Agenda stehen. Es geht immer noch um Geld, klar. Aber mehr als zuvor geht es inzwischen auch um Macht, um Politik, um Einfluss und manchmal vielleicht sogar um künftige Kriege.

Die Folgen spürt die ganze Wirtschaft – insbesondere aber spüren sie die Unternehmen, die viel Energie benötigen und dafür einen Preis zahlen, der hochpolitisch geworden ist. Vor allem Gas wird gebraucht für die Zeit, bis genug Windräder, Solaranlagen und Wärmepumpen vorhanden sind. Dazu riesige Mengen Strom, der zurzeit zu großen Teilen noch aus fossilen Energieträgern stammt. Die Liste der Branchen, die nur mit besonders viel Energie gedeihen, reicht von der Metallerzeugung über die Futtermittelherstellung und die Verarbeitung von Steinen und Erden bis zu Grundstoffen. Etwa jeder vierte Industriejob gehört dazu.

Wir quälen uns mit steigenden Preisen, müssten aber eigentlich dringend in die Forschung investieren 

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“Deindustrialisierung” lautet das Schreckenswort der Mahner. Meistens folgt im nächsten Halbsatz der Hinweis, wer alles über eine Verlagerung der Produktion ins Ausland nachdenke oder ohnehin dem Untergang entgegensehe. Ganz neu ist das alles nicht. Mit dem gleichen Argument sind die Regierenden schon immer unter Druck gesetzt worden.

Gelingt die Verkehrswende?

Der zuständige Wirtschaftsminister Robert Habeck reagierte beim neuen Talk-Format STERNSTUNDE in der vergangenen Woche mit einer Art Doppelstrategie: Ja, es muss viel passieren, versicherte er – und machte zugleich klar, dass Deutschland trotz alledem und immer noch ein starkes Land sei und alle Chancen habe.

Gerade in Habecks Ressort liegen die größten Aufgaben: Ganz zentral ist die Abkehr von fossilen Brennstoffen, die nicht nur das Klima ruinieren, sondern wegen der hohen Preise auch die Bilanzen der Unternehmen. Zumindest ist das so, wenn der Staat nicht hilft – etwa mit einem subventionierten Preis für Industriestrom, worüber in der Koalition heftig diskutiert wird. Wer soll profitieren? Wie lange? Soll die Chemiefabrik, die im internationalen Wettbewerb steht, bekommen, was der Bäckerei verweigert wird? Erkennbar wird der Weg in eine Welt ohne Kohlendioxid nicht nur beschwerlich sein, sondern auch verschlungen und teuer.

Die Zukunft des Verkehrs ist elektrisch. Noch sind wir darauf nicht gut vorbereitet

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Ökonominnen wie Claudia Kemfert fordern zum Beispiel, dass deutsche Autos möglichst bald mit Stahl gebaut werden, der mit grünem Wasserstoff erzeugt wurde. Also mit Wasserstoff, der mithilfe erneuerbarer Energien aus Wasser gewonnen wird. Die Autos selbst werden dann überwiegend keine Verbrenner mehr sein, sondern batterieelektrische Fahrzeuge – was die Produktionsstrukturen völlig verändert und Zulieferer vor gewaltige Probleme stellt, die bislang Teile für Benzin- und Dieselmotoren hergestellt haben. Da steckt in jedem Halbsatz eine gigantische Herausforderung.

Strategien gegen den Fachkräftemangel

Am Ende bleibt als wichtigste Ressource der Mensch. In einer alternden Gesellschaft wie jener der Bundesrepublik fehlt es irgendwann überall an Händen, die anpacken. Und an Wissen, Können, Leidenschaft. In der Pflege ist das heute schon offenkundig; in vielen anderen Branchen auch. Gebraucht werden vor allem Qualifizierte. Wer auf die Beschäftigungsentwicklung in der Autoindustrie und bei deren Zulieferern schaut, der sieht, dass sich die Gesamtzahl der Arbeitnehmer in den vergangenen zehn Jahren nicht dramatisch verändert hat. Aber weniger Männer und Frauen sind direkt mit der Herstellung der Güter befasst. Und viel mehr mit Informationstechnologie oder naturwissenschaftlichen Dienstleistungen sowie dem Management. Die Standorte im Heimatland werden, wie es der Münchner Volkswirtschaftsprofessor Oliver Falck beschreibt, “mehr und mehr zu Zentren der Unternehmensführung und der Forschung und Entwicklung”.

Wenn aber immer mehr erforscht und entwickelt und geleitet werden muss, brauchen die Unternehmen dafür auch Frauen und Männer, die das können. Die jungen Leute, die hier aufwachsen, werden bei Weitem nicht so gut ausgebildet, wie es sein sollte. Und selbst dann würden sie es allein nicht schaffen – es sind schlicht zu wenige. Ausländische Spitzenkräfte anzulocken bleibt allerdings schwierig. Sie kämen in ein Land mit einer vertrackten Sprache, undurchschaubarer Bürokratie und einer rassistischen Partei wie der AfD, die in den Umfragen 20 Prozent erreicht. In einer Umfrage im Auftrag der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft fürchteten mehr Firmen den Fachkräftemangel als steigende Preise. Die fehlenden Leute werden zu einem echten Standortnachteil.

Selbst wenn der Strom subventioniert und die Fachkräfte irgendwie herbeigezaubert würden, würde es kaum gelingen, alle Unternehmen im Land zu halten. Es ist zwar hart für die Betroffenen, aber insgesamt noch kein Alarmzeichen, wenn Altes durch Neues ersetzt wird. Nur eine Massenflucht sollte es nicht werden. Die Textilindustrie ist aus der Bundesrepublik weitgehend verschwunden, einstige Giganten wie der Steinkohlebergbau gehören ebenso der Vergangenheit an. Der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung in Deutschland liegt dennoch recht stabil bei gut 20 Prozent und damit weit über dem in anderen europäischen Staaten. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hat vor einem Jahr fast 600 Unternehmen befragt, wo sie investieren wollen. Knapp die Hälfte plante ausschließlich in Deutschland.

Zumindest die Hoffnung scheint also lebendig, dass die deutsche Wirtschaft wieder fit wird. In München, bei der Mobilitätsmesse IAA, waren vergangene Woche auch die Gegner in der neuen Weltliga zu sehen. Chinesische Hersteller zeigten innovative und preiswerte Fahrzeuge. Dass die tollsten Autobauer eben doch die Deutschen sind, schien da eine Legende aus der Zeit, als die Autos mit Benzin fuhren. Auf den Gängen kursierten Nachrichten wie die, dass unter den zehn meistverkauften Elektromodellen in China keines aus Deutschland sei.

Der Kanzler kam vorbei. Und sprach Volkswagen und Mercedes, BMW und Audi – allesamt Stützen unseres Wohlstands – Mut zu. Sein Blickfeld war durch eine schwarze Augenklappe allerdings etwas eingeschränkt.

Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft haben dem stern erzählt, wie es gelingen kann, Deutschlands Wohlstand zu retten

Erschienen in stern 38/2023

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