Deutsche Bahn: Boom trotz Baustellen, Verspätungen und Streiks – Wirtschaft

Auf den Schienen wird es voller, immer mehr Menschen in Deutschland fahren mit der Bahn. Gleichzeitig kommen die Fahrgäste unpünktlicher an, mehr als jeder vierte Zug im Fernverkehr hatte in der ersten Jahreshälfte eine Verspätung. Mit nachhaltigen Erleichterungen ist erst in einigen Jahren zu rechnen, wenn viel befahrene Korridore saniert worden sind. Bis dahin wird es zu Störungen kommen.

Wer die Bahn nutzt, kennt die Verspätungen, Ausfälle, Streiks- auch der Bahnvorstand versteckt die Probleme nicht. “Wir wissen, dass wir unseren Kundinnen und Kunden im Moment viel zumuten”, erklärt Richard Lutz, der Vorstandschef der Bahn, als er die Halbjahresbilanz vorstellt. Und die hat es in sich. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres verzeichnet die Bahn unterm Strich einen Verlust von mehr als 70 Millionen Euro. Zum Vergleich: Noch vor einem Jahr registrierte die Bahn im selben Zeitraum einen Gewinn von über 400 Millionen Euro – allerdings vor allem dank ihrer Logistiktochter.

Bei der Bahn spricht man von einem Boom

An dem aktuellen Trend dürfte sich auch in den kommenden Monaten wenig ändern, für das ganze Jahr rechnet die Bahn mit einem negativen Betriebsergebnis. “Das schwierige Umfeld mit der hohen Inflation und extrem gestiegenen Baukosten wird sich auf unser Ergebnis für das Jahr ebenso auswirken wie unsere milliardenschweren Vorleistungen bei der Infrastruktur”, sagt Lutz. Er erwartet sogar einen operativen Verlust von knapp unter einer Milliarde.

Demgegenüber steht die wachsende Nachfrage bei Regional- und Fernzügen, die auch durch das Deutschlandticket beflügelt wurde. Bei der Bahn spricht man von einem Boom. Allein im Fernverkehr verzeichnet der Konzern im ersten Halbjahr rund 68 Millionen Fahrgäste. Verglichen mit dem Vorjahreszeitraum ist das eine Steigerung von rund 15 Prozent. Aber: Von diesen Zügen kamen im ersten Halbjahr nur 68,7 Prozent pünktlich an, im Vorjahr waren es im selben Zeitraum noch 69,6 Prozent. Lutz sagt: “Der Schlüssel zu nachhaltigen Verbesserungen für unsere Kundinnen und Kunden liegt in der Infrastruktur.”

Das rund 33 000 Kilometer lange Streckennetz der Bahn befindet sich in einem verheerenden Zustand. Mehr als 30 000 Weichen sind in einem mittelmäßigen oder noch schlechteren Zustand, das gilt auch für mehr als die Hälfte aller Stellwerke – die Hauptursache für Verspätungen. Das geht aus einem Bericht hervor, den die Bahn im März ihren Aufsichtsratsmitgliedern vorgelegt hat. Es sei “nur noch für einen begrenzten Zeitraum möglich”, die Bahnanlagen in einem “ausreichenden Zustand” zu erhalten, warnte der Konzern damals.

Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn.

(Foto: JOHN MACDOUGALL/AFP)

An dieser Situation hat sich jetzt, vier Monate später, nichts verändert. Lutz zufolge hängen mehr als drei Viertel aller Verspätungen mit der Infrastruktur der Bahn zusammen. Also etwa mit Schienen, die alt und störanfällig sind, aber auch mit den Baustellen, die das Netz zwar erneuern sollen – die heute aber vor allem für langsame Züge und Umleitungen sorgen. Laut der Bahn fahren heute schon zwei Drittel aller Fernverkehrszüge auf Strecken, die von Baustellen betroffen sind, manche der Züge sogar mehrmals.

Hinzu kommen in den nächsten Jahren sanierungsbedingte Sperrungen auf viel befahrenen Strecken, die besonders viele Reisende betreffen. Schon jetzt ist die Situation aufgrund eines Schwellenprogramms verschärft, mit dem die Bahn auf das Zugunglück vor einem Jahr bei Garmisch-Partenkirchen reagiert. Fast eine halbe Million Schwellen im deutschen Schienennetz müssen dafür saniert oder ersetzt werden – üblich sind rund 80 000 Stellen im Jahr. Allein dadurch entstehen 400 weitere Baustellen.

Bahn, Bundesregierung und Gewerkschaften sehen einen Milliardenbedarf

Bundesregierung, Bahn und Gewerkschaften schätzen übereinstimmend, dass bis zu 90 Milliarden Euro für die Sanierung und Modernisierung des Schienennetzes bis 2027 notwendig sein werden. Knapp die Hälfte des Betrags ist bereits sicher. Ob, wie und wann der Restbedarf von 45 Milliarden Euro finanziert werden soll, ist aber weiterhin unklar. Zwar hat die Regierung angekündigt, den Bedarf decken zu wollen, und in Teilen bereits zugesagt, ein hoher Milliardenbetrag ist aber weiterhin offen. Zuletzt hatte der Bundesrechnungshof auf die milliardenhohe Verschuldung der Bahn hingewiesen und davor gewarnt, diese zu einem “Fass ohne Boden” werden zu lassen.

Dass die Bahn laut dem aktuellen Zwischenbericht vor Abzug von Zinsen und Steuern einen Gewinn von 311 Millionen Euro verbucht, hängt vor allem mit ihrer Logistiktochter zusammen. DB Schenker habe im ersten Halbjahr einen deutlichen Gewinn von 626 Millionen Euro erzielt, teilt Lutz mit. Das ist zwar deutlich weniger als die Rekordergebnisse aus dem vergangenen Jahr, damit habe man allerdings gerechnet – schließlich haben sich weltweit die Frachtpreise nach der Pandemie normalisiert. Derzeit prüft die Bahn weiterhin einen Verkauf des Logistikkonzerns. Dazu, wann diese Prüfung abgeschlossen sein wird, gab es keine Angaben.

“Aktuell sind wir nicht in der Lage, unsere Investitionen aus den laufenden Einnahmen in unserem Kerngeschäft zu bezahlen”, sagt Levin Holle, Finanzvorstand der Bahn. Er spricht angesichts der roten Zahlen von erschwerten Rahmenbedingungen. Neben den gesunkenen Frachtraten meint er damit vor allem die gestiegenen Zinsen und die anhaltende Inflation. Auch anstehende Tarifabschlüsse dürften zu höheren Kosten führen. Die zwei Bahnstreiks im ersten Halbjahr haben die Bahn rund 100 Millionen Euro gekostet – und ihre Kundinnen und Kunden viele Nerven.

Erst seit Mittwoch zeichnet sich eine mögliche Einigung im Tarifstreit zwischen der Bahn und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft ab. Nach einem neuntägigen Schlichtungsverfahren hatten unabhängige Vermittler den zwei Konfliktparteien einen Kompromissvorschlag präsentiert. Dieser sieht für die rund 200 000 Beschäftigten eine Lohnerhöhung von mindestens 410 Euro pro Monat vor, im Oktober sollen sie zudem eine einmalige Inflationsprämie von 2850 Euro erhalten. 25 Monate soll der Tarifvertrag laufen – wenn er denn so kommt.

In den Sommerferien soll es keine Streiks geben

Sowohl die Bahn als auch die EVG haben angekündigt, ihren jeweiligen Gremien eine Annahme des Vorschlags zu empfehlen. Bei der Bahn gilt die Zustimmung als Formsache, bei der EVG müssen die Mitglieder bis Ende kommenden Monats über den Schlichterspruch entscheiden. Sollten dann drei Viertel der Abstimmungsberechtigten den Vorschlag verwerfen, kann es von September an wieder zu Arbeitskämpfen kommen.

Im Herbst will auch die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) über höhere Gehälter verhandeln. Sie vertritt zwar weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, tritt aber in der Regel aggressiver auf. In den Sommerferien soll es nicht zu Streiks kommen. Die EVG hat angekündigt, die Arbeit bis zum Ende des Abstimmungszeitraums nicht noch einmal niederzulegen.

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