Richard Sandlers packende Fotos eines vergangenen New York

Richard Sandlers Fotografien von New York, aufgenommen von Ende der 1970er bis Anfang der 90er Jahre, wirken zunächst schnörkellos: mit täuschender Beiläufigkeit komponierte Porträts des urbanen Alltags, als würde Sandler, und nicht nur seine Motive, einfach vorbeigehen und passieren den Blick eines Betrachters auf sich ziehen. Aber auf der öffentlichen Bühne einer Straße, der U-Bahn oder eines baumgeschorenen Parks kann eine alltägliche Interaktion seltsame Züge annehmen. Und die Austauschdokumente von Sandler – ungefiltert und spontan intim – sehen heute ein bisschen wie Artefakte aus. Vor drei Jahren hat die Pandemie einst belebte Straßen geleert; in der Folge entstand für viele von uns ein neues unangenehmes Verhältnis zur öffentlichen Nähe. Dieses Archiv, das eine vergangene Ära einfängt, fühlt sich sowohl nostalgisch als auch beunruhigend an.

Auf diesen Fotos, die bis zum 26. März im Bronx Documentary Center zu sehen sind, ist Körperkontakt allgegenwärtig. Freunde und Fremde lehnen sich aneinander und auch an Telefonzellen, Ziegelwände und gehärtetes Glas. Sogar leblose Körper nehmen eine ungefilterte Umarmung an, wie bei zwei Schaufensterpuppen, die in einem Schaufenster ausgestellt sind, Plastikbeine ineinander verschlungen und Plastikgesichter fast berührend. Tatsächlich verwandelt Sandlers Kamera selbst die leisesten Szenen in eine exhibitionistische Darstellung. Er zoomt auf einen Mann, dessen Gesicht an einen U-Bahnmast gedrückt wird, und umrahmt die gestohlene Meditation des Pendlers als dreisten Kuss. Über die Schulter dieses Mannes blickt ein anderer Pendler direkt in die Linse: Privatsphäre ist ein seltenes Gut in New York, und der Fotograf wird fast immer auch beobachtet. Für jeden vertieften Passanten, den Sandler überrascht, schnappt ein anderes Subjekt sofort zurück.

Auf einem Foto stehen drei schwarze Frauen zusammen auf einem Bürgersteig; Ihnen gegenüber steht eine weiße Frau, deren Profil fast die Hälfte des Bildes einnimmt. Die Begegnung wirkt flüchtig, nicht zuletzt, weil im Hintergrund ein weiterer Passant aufblitzt. Aber ein Gesicht sticht hervor, scharf und ruhig: das der Frau, die ohne ein Lächeln in die Kamera blickt. Ihr unverfrorener Blick stellt unseren eigenen in Frage: Was genau sehen wir uns an?

Die Arbeit wird von diesen stummen Gesprächen angetrieben, die von mehrdeutig bis aufgeladen reichen. Aber einige Fotos zeigen eine einseitige Beobachtung, wie zum Beispiel eines, das einen aufrecht sitzenden Mann im Zug, der eine Zeitung liest, einem Mitreisenden gegenüberstellt, der mit dem Gesicht nach unten auf einer Sitzreihe liegt und die Füße neben den distanzierten Leser schmiegt. Wir können das Gesicht des liegenden Reisenden nicht sehen. Was hätten sie wohl gesagt, wenn ihr Blick Sandler begegnet wäre?

Andere Bilder im Set wirken weniger wie fixierte Blicke, sondern eher wie Seitenblicke, die vor sanfter, anspruchsloser Neugier auf Passanten strotzen. In einer Aufnahme eines Waggons sehen wir eine Gruppe von Menschen, die sich mit geliebten Menschen und Fremden die Schultern reiben, alle zusammengebracht durch die spontane Intimität, die mit dem Umzug durch New York einhergeht. Jeder schaut in eine etwas andere Richtung; Zumindest für die nächsten paar Augenblicke gehen sie in denselben.

E-Zug, 1983
eine Frau in einem mit Graffiti besprühten U-Bahn-Wagen.  Sie starrt in die Kamera, wobei ihr Gesicht durch den U-Bahnmast getrennt ist.
CC-Zug, 1985
Versetztes Diptychon, links: Männer gehen mit Aktentaschen hinunter.  Rechts: Frauen von hinten in Trainings- und Businesskleidung mit kurzen Koffern
Links: 57. Straße, 1985. Rechts: 34. Straße, 1980.
Männer gehen in einer Arbeitspause an Frauen vorbei
Madison Avenue, 1982
leute sitzen in der mittagspause auf treppen
Wall Street, 1988
Offest Diptychon: Rechts: Eine Frau schaut in einem Regentuch in die Kamera.  Links: Männer gehen mit Schaufensterpuppen in einer Umarmung an einem Schaufenster vorbei.
Rechts: 53. Straße, 1989. Links: 34. Straße, 1989.
Schwarze Frauen mit Kinderwagen von weißen Kindern an einer Ecke.
SoHo, 1982
Offset-Diptychon.  Links: Drei Frauen in Pelzen mit dem Rücken zur Kamera schauen auf ein Schaufenster.  Rechts: Durch ein Fenster gesehen, sitzt eine junge Frau, die sich schminkt, neben einer älteren Frau, die in die Kamera starrt.
Links: Fünfte Avenue, 1982. Rechts: 53. Straße, 1984.
Ein Mann und eine Frau streiten sich auf der Straße
Fünfte Avenue, 1983
Offset-Diptychon: Rechts: Männer in Anzügen essen Softeis aus einem Lastwagen.  Links: Ein Mann in einem Park geht an einem Sonnenanbeter vorbei, der mit dem Gesicht nach unten liegt und seinen Anzug bis unter den Hintern gezogen hat
Rechts: Fünfte Avenue, 1987. Links: Zentralpark, 1986.
Leute, die an öffentlichen Telefonen sprechen
34. Straße, 1992
Ein Mann, der im Profil zu sehen ist, lehnt sein Gesicht gegen einen U-Bahnmast, während ein Mann im Hintergrund ihn ansieht.
F-Zug, 1983
Passagiere in einem U-Bahn-Wagen durch das Fenster gesehen.  Ein Paar mit dem Arm des Mannes um die Frau schaut sich an.
F-Zug, 1978

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