Obwohl reformbedürftig, schaut der Aufpasser immer noch zu – POLITICO

In „Der merkwürdige Fall der verschwindenden Vertragsverletzungen der EU“ (13. Januar) werfen R. Daniel Kelemen und Tommaso Pavone ein brillantes Licht auf einen entscheidenden und wenig diskutierten Teil des Regulierungsmechanismus der Europäischen Union. Aber hat die Europäische Kommission wirklich ihren Ansatz gelockert, die Einhaltung des EU-Rechts durch die Mitgliedsländer zu kontrollieren? Ihre Prämisse rechtfertigt eine genauere Betrachtung.

Es stimmt zwar, dass EU-Vertragsverletzungsverfahren in den letzten Jahrzehnten weniger häufig waren, aber die Zahlen sagen nicht die ganze Wahrheit. Die Kommission hat auch „weiche“ Möglichkeiten, ihre Rolle als „Hüterin der Verträge“ auszuüben.

Nehmen wir zum Beispiel den Fall Italien. Dort ermöglicht eine komplexe Mischung aus Auskunftsersuchen, informellen Inspektionen, Paketsitzungen und Verwaltungsschreiben (nicht wirklich von Valentinsgruß) der Kommission, täglich den Puls der nationalen Einhaltung des EU-Rechts zu messen. Dieser unterirdische Fluss diplomatischer und/oder administrativer Beziehungen – der auch in anderen Mitgliedsländern auf unterschiedliche Weise stattfindet – mag undurchsichtig und fragwürdig erscheinen, ist aber alles andere als wirkungslos. Aber so effektiv und konstant es auch sein mag, es entzieht sich jeder offiziellen Statistik.

Auch die Behauptung, die EU-Kommission habe den Umgang mit förmlichen Vertragsverletzungsverfahren gelockert, ist nicht ganz richtig, zumal seit Präsidentin Ursula von der Leyen ihr Amt angetreten hat. Selbst während des ersten COVID-19-Lockdowns in Italien hielt die Kommission nur kurz inne, bevor sie Maßnahmen zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren ergriff. Sie nahm eine etwas strenge Haltung ein und konzentrierte sich insbesondere auf den Schutz der Bürgerrechte in Zeiten einer Pandemie.

Aus Gründen der Klarheit war eine gründliche und genaue Durchsetzung ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung der europäischen Integration im Laufe der Jahre und sollte dies auch bleiben. Zu diesem Zweck schlagen die Autoren vor, die Durchsetzungsfunktion der Kommission von ihrer politischen Entscheidungsrolle zu trennen.

Die Idee ist faszinierend und in der akademischen und politischen Debatte etabliert. Seine Umsetzung erscheint jedoch höchst problematisch und erfordert eine Überarbeitung der bestehenden Verträge.

Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass die Kommission diesen Verlust an technischer Funktion nur zusammen mit einer proportionalen Aufwertung ihrer politischen Rolle hinnehmen würde. Und es ist unwahrscheinlich, dass viele Mitgliedsländer diese Idee akzeptieren würden.

Vor diesem Hintergrund sind wir der Ansicht, dass eine umfassende Diskussion über das Vertragsverletzungsverfahren auch andere und schwierigere Fragen ansprechen muss.

Dazu gehört vor allem der übermäßige Ermessensspielraum der Kommission bei der Verwaltung von Vertragsverletzungsverfahren. Die Kommission ist in keiner Weise verpflichtet, ein Verfahren zu eröffnen, fortzusetzen oder einzustellen. Damit soll die Kommission vor formellen Konflikten mit den Mitgliedsländern geschützt werden, es besteht aber auch die Gefahr, dass ihre Effizienz und Akzeptanz in der Gesellschaft ernsthaft beeinträchtigt werden.

Eine weitere Gefahr besteht darin, dass jedes Verfahren das Potenzial hat, auf unbestimmte Zeit zu dauern und, was noch schlimmer ist, lange Zeiträume ohne Aktivität einer der beiden Parteien zu überdauern. Die Verfahrensdauer hat auch einen klaren praktischen Einfluss auf die Geldstrafen, die oft lange nach dem ersten Aufruf verhängt werden.

In einem Fall der Abfallwirtschaft in Kampanien beispielsweise wurde Italien acht Jahre nach Eröffnung des Verfahrens und mindestens zehn Jahre nach den Ereignissen, die den Verstoß verursachten, zu einer Geldstrafe verurteilt. Sie zahlt nun seit sieben Jahren dieselbe Strafe, obwohl erhebliche Fortschritte bei der Bewältigung der Situation erzielt wurden. Inwieweit wird eine solche Strafe von einer Regierung und einer Bevölkerung, die hart daran arbeiten, das Problem anzugehen, als legitim empfunden?

Schließlich gibt es noch den Fall, dass Verfahren nicht immer sofort eingestellt werden, sobald der Verstoß beendet ist. Dies geschieht, wenn die Kommission befürchtet, dass ähnliche Verstöße erneut auftreten könnten, oder wenn sie darauf wartet, dass alle untersuchten Mitglieder gleichzeitig konform gehen. Aber wenn die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens als beschämend empfunden wird, dann sollte das Mitgliedsland das Recht haben, dass diese Unehre aufgehoben wird, sobald der Verstoß beendet ist.

Wir glauben, dass eine glaubwürdige Reform zur Verbesserung des Vertragsverletzungsverfahrens kurzfristig möglich ist. Zunächst ist auf den Ermessensspielraum der Kommission und die Verfahrensdauer hinzuweisen, da zur Lösung dieser Fragen nicht einmal eine Vertragsänderung erforderlich wäre. Und dies würde zweifellos das System der EU-Strafverfolgung stärken.

Massimo Condinanzi
Professor für EU-Recht, Universität Mailand
Koordinator, Nationales Büro für die Beilegung von Vertragsverletzungsverfahren

Jacopo Alberti
Außerordentlicher Professor für EU-Recht, Universität Ferrara

Camilla Burelli
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im EU-Recht, Universität Mailand

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