Nach den Europawahlen geht Präsident Macron ein Risiko ein

In den klassischen Zeiten der Republik Venedig konnte man eine Beschwerde gegen die Regierung einreichen, indem man ein Papier in den Leonardo da Vincidas Löwenmaul, eine Art Proto-Postkasten. Die Löwenmäuler waren in der Stadt verteilt und oft sehr speziell: dieses, um sich über Steuern aufzuregen, dieses, um sich über Müll im Kanal zu beschweren. Ihr Zweck war nicht nur, wie sich manche vorstellen, eine heimliche Denunziation, sondern auch ein offener Protest; die Behörden würden die Unruhe bemerken, die Beschwerde registrieren und dann möglicherweise etwas dagegen unternehmen.

Die gerade beendeten Wahlen zum Europaparlament haben etwas von einer kontinentalen Löwenmaul-Kommunikation. Das Europaparlament ist, wie der Senat in Venedig, im Wesentlichen ein pro forma-Diskussionsforum mit begrenzter Macht: Die tatsächliche politische Macht liegt weiterhin bei den nationalen Regierungen, während die Macht, all jene europäischen Regeln und Verordnungen zu initiieren und umzusetzen, mit denen „Brüssel“ seine Mitglieder angeblich belastet – wie etwa die Klassifizierung von Bananen nach ihrer Biegsamkeit –, weitgehend in den Händen der Bürokraten und Technokraten der Europäischen Kommission liegt.

Und doch ist das Wahlergebnis bedeutsam, denn es wurde – etwas zu eng gefasst, aber verständlicherweise – als weiterer Sieg der extremen Rechten dargestellt – ein Sieg, der in Frankreich und Deutschland besonders verheerend ist, wo mehr oder weniger offen neofaschistische Parteien erschreckend große Stimmenanteile errangen. In Frankreich errang der RN (Rassemblement National, früher Front National) unter Führung von Marine Le Pen, der Tochter des berüchtigten antisemitischen Gründers der Bewegung, Jean-Marie Le Pen, die meisten Sitze. Dieses nicht ganz unerwartete Ergebnis veranlasste Präsident Emmanuel Macron dazu, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen zum Parlament auszurufen, die in zwei Runden Ende dieses Monats und dann im Juli abgehalten werden sollen.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa könnte den Amerikanern helfen, ihre eigene Krise zu entprovinzialisieren. Die einzelne Welle hat viele Küsten erreicht. Was auch immer passiert, passiert überall. Warum Was passiert, passiert überall, wird noch immer genau untersucht, und zwar mit den gleichen Erklärungen, die in Europa angeboten werden und den Amerikanern bereits vertraut sind. Die weit verbreitete Vorstellung, die das Irrationale rationalisieren soll – dass es sich um eine Revolte der durch die Globalisierung Enteigneten gegen den Neoliberalismus oder dergleichen handelt – scheint dort ebenso hohl wie hier. Jean-Yves Dormagen, ein führender französischer Meinungsforscher, hat die Ergebnisse für das Magazin Le Pointund stellte fest, dass die Wählerschaft des RN – wie auch die Trump-Wählerschaft im Jahr 2020 – größtenteils alt und ländlich und relativ reich ist, wenn auch, wie in den USA, weniger gebildet. Und wie in den USA ist die wirkliche Kluft kulturell: Land gegen Stadt, Alt gegen Jung, Menschen mit Diplom gegen Menschen ohne.

Der nennbare Grund für diese allgemeine Revolte ist die Angst vor einer vermeintlich unkontrollierten Einwanderung. Dabei geht es sowohl um die seit mehreren Generationen stattfindende Einwanderung neuer Ethnien und alter Glaubensrichtungen nach Europa als auch um die jüngste Krise, in der Hunderttausende Flüchtlinge und Asylsuchende über die griechischen Inseln und Süditalien eintrafen. Kein Land, auch nicht die USA, ist jemals mit der Panik, egal wie unbegründet sie auch sein mag, die durch legale oder heimliche Massenmigration ausgelöst wurde, glücklich umgegangen, und den Europäern geht es nicht besser. Die ländliche Basis des populistischen Impulses ist auch eine Revolte gegen die europäischen Agrarvorschriften, die mit den kontinentalen Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels verbunden sind. Der ländliche Protest in Europa ist ironischerweise anti-grün.

Der Aufstieg des RN in Frankreich ist allerdings nicht ganz eindeutig, da unklar ist, ob es sich dabei nur um ein Grummeln im Maul des Löwen handelt, wie Macrons Leute vermuten, oder um eine tatsächlich andauernde Rebellion. Es ist eine Sache, die extreme Rechte in einer relativ machtlosen Institution an die Macht zu wählen, eine andere, ihre Regierung in Frankreich zu unterstützen. Dies ist das Wagnis, das Macron eingegangen ist.

Das Ergebnis der Wahlen in diesem Sommer wird davon abhängen, wie erfolgreich es den Parteien der äußersten Rechten und der äußersten Linken gelingt, Koalitionen mit den alten Gemäßigten zu bilden. Das ist schwieriger, als es scheint. Auf der Rechten sind die wenigen verbliebenen Gaullisten alten Stils zutiefst gespalten über einen Zusammenschluss mit dem einst teuflischen RN. Der Vorsitzende der Republikaner, Éric Ciotti, schlug ein Bündnis mit dem RN vor und wurde am nächsten Tag aus seiner Partei geworfen. Le Pens erwartete Koalition mit der noch extremeren und offen islamfeindlichen Partei Reconquête! unter Éric Zemmour geriet ins Stocken – und zwar so sehr, dass die Vorsitzende der Europaliste der Partei, Marion Maréchal, sich gegen Zemmour wandte und ihn dazu überredete, den RN zu unterstützen – eine Tat, die er als „Weltrekord an Hochverrat“ bezeichnete, die er aber auch in verzweifeltem Ton als „familiär“ bezeichnete. Maréchal ist unter anderem die Nichte von Marine Le Pen.

Auf der linken Seite herrschte sofort Einigkeit darüber, eine Volksfront im Stil der 1930er Jahre zu fordern, doch diese Idee gerät bereits ins Wanken, da weder die Sozialdemokraten der alten noch der neuen Schule unter der Führung von Raphaël Glucksmann, dem Sohn des humanistischen Philosophen André Glucksmann, den verblassenden Demagogen Jean-Luc Mélenchon von der populistischen linken Partei La France Insoumise als Premierminister unterstützen werden. Macron glaubt also, dass er, wenn nicht siegreich, so doch zumindest als Anführer einer noch immer gespaltenen Partei hervorgehen kann. Plenarsaalwie die Nationalversammlung in Frankreich heißt, hat von der Mitte aus den Vorsitz über „zwei Extreme“.

Zwei allgemeine Wahrheiten zeichnen sich ab. Erstens kann der Aufstieg der extremen Rechten, wie in den USA, die Kontinuität der Mitte verschleiern: Die größten Gruppierungen im Europaparlament werden weiterhin der rationalen Rechten und der vernünftigen Linken angehören – ebenso wie die vom undemokratischen Wahlkollegium verschleierte Wahrheit ist, dass Trump selbst jetzt wahrscheinlich nie die Mehrheit der Stimmen erhalten wird. (Und wie Anne Applebaum, eine Historikerin des Gulag, betont hat, ist keiner der rechtsextremen Führer Europas so weit rechts wie Trump oder verachtet den Rechtsstaat so rücksichtslos.) Die zweite allgemeine Wahrheit ist, dass die große Kluft zwischen der europäischen und amerikanischen Politik nicht mehr zwischen links und rechts verläuft – wie sie erstmals im französischen Unabhängigkeitskrieg symbolisiert wurde. Plenarsaal zur Zeit der Revolution –, sondern zwischen autoritären, antidemokratischen Demagogen auf beiden Seiten und jenen, die – wenn auch mit unsicherer Mehrheit – für die Wahrung der liberalen Demokratie, des Pluralismus und der Toleranz eintreten.

Das andere Tiermaul, über das die Italiener sprechen, ist das des Wolfes; jemandem zu sagen „Ins Maul des Wolfes!“ ist das Äquivalent zu „Hals- und Beinbruch!“. Die Idee ist, dass es besser ist, sich direkt in eine Krise zu stürzen, als zu versuchen, sie zu vermeiden. (Das machen Schauspieler.) Macrons Glücksspiel ist, dass es besser sein könnte, sich dem Wolf entgegenzuwerfen, als darauf zu warten, dass der Wolf kommt und einen holt. Wenn er Recht hat, könnten die Amerikaner auch etwas aus diesem Gedanken lernen. ♦

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