Die überfällige Energiewende des Westbalkans „muss schnell gehen“ – EURACTIV.com

Unverantwortliches Management und der politische Imperativ, die Endkundenpreise niedrig zu halten, haben dazu geführt, dass Energieversorger auf dem Westbalkan weder den Willen noch die Mittel haben, in neue Stromerzeugung zu investieren und weg von der Kohle zu diversifizieren, sagt Dirk Buschle.

Dirk Buschle ist stellvertretender Leiter des Energy Community Sekretariats in Wien. Er beantwortete schriftlich Fragen von EURACTIV.

Bundeskanzler Olaf Scholz war am 3. November Gastgeber eines Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs des Westbalkans in Berlin, auf dem eine Erklärung zur Energiesicherheit und zum grünen Übergang im Westbalkan verabschiedet wurde. Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus diesem Treffen?

Der Gipfel konzentrierte sich auf eine dreifache Herausforderung für den Westbalkan, die auf vielen Ebenen miteinander verbunden sind. Sie alle erfordern dringende Antworten. Das sind die Energie-, die Klima- und die Investitionskrise. Dieselben dreifachen Krisen betreffen offensichtlich auch das übrige Europa, auch wenn die Exposition des Westbalkans höher ist.

Die von außen in die Region importierte Energiekrise manifestiert sich als Erschwinglichkeitskrise für die sich entwickelnden Volkswirtschaften in der Region, zumindest für die Länder, die auf Stromkäufe zu hohen europäischen Marktpreisen angewiesen sind.

Die Klimakrise ist globaler Natur, trifft Südosteuropa aber aufgrund seiner geografischen Lage stärker als andere Regionen in Europa. Es verstärkt auch die Energiekrise aufgrund der negativen Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Hydrologie.

Nur die letzte, die Investitionskrise, ist wirklich hausgemacht.

Die meisten Länder des Westbalkans haben die Modernisierung ihres Energiesektors über Jahrzehnte vernachlässigt. Unverantwortliches Management und der politische Imperativ, die Einzelhandelspreise niedrig zu halten, ließen die Versorger ohne den Willen oder die Mittel zurück, in neue Stromerzeugung zu investieren, geschweige denn, sich von Kohle zu diversifizieren. Dies hat zur Folge, dass die meisten bestehenden Kraftwerke nahe oder über ihrer maximalen Lebensdauer sind. Es brachte auch einige Versorgungsunternehmen an den Rand des Zusammenbruchs.

In Berlin gaben die Staats- und Regierungschefs wichtige Antworten auf die dreifache Herausforderung der Region.

Die überfällige Modernisierung der Energiesektoren muss schnell gehen und darf in Zeiten des europäischen Green Deals nur grün sein. Diese massive Energiewende, die den Ersatz von Kohle durch erneuerbare Energien bei gleichzeitiger Wahrung der Versorgungssicherheit beinhalten muss, kann nur gelingen, wenn regionale Kooperation und Koordination das illusionäre Streben nach Autarkie und Fragmentierung der Märkte ersetzt.

Kein Land der Region wird den Übergang alleine bewältigen, und wenn, dann mit unverhältnismäßig hohen finanziellen und sozialen Kosten. Und die zu erwartende finanzielle Unterstützung durch die EU und andere sollte gezielt auf Projekte und Maßnahmen zur Förderung des Übergangs ausgerichtet werden.

Diese Schlussfolgerungen, zusammen mit einer Reihe sehr konkreter Verpflichtungen der Staats- und Regierungschefs des Westbalkans und ihrer europäischen Kollegen, machen die Berliner Erklärung der letzten Woche zu einem wichtigen Meilenstein, auch für die Energiegemeinschaft.

Welche Auswirkungen haben der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise auf den Westbalkan? Beschleunigt oder bremst sie die Energiewende?

Wie überall auf dem Kontinent ist der Krieg in der Ukraine eine Wende für die Region. Die Europäische Union und der Westbalkan haben über die übliche Rhetorik hinaus erkannt, dass sie wirklich aufeinander angewiesen sind und das gleiche Schicksal, Europa, teilen.

Besonders deutlich werden die Interdependenzen in der Energie- und Klimapolitik, basierend auf gemeinsamen Erfahrungen und Herausforderungen, die nicht zwischen denen innerhalb und außerhalb der EU unterscheiden. Auf dem Höhepunkt der Krise beobachten wir auch auf dem Westbalkan die gleichen, fast intuitiven Reaktionsmuster, die auf eine schnelle Wiederherstellung einer stabilen und bezahlbaren Energieversorgung abzielen, die oft auf Kohle basiert.

Doch eine Kohlerenaissance kann nur vorübergehender Natur sein. Mittel- bis langfristig wird es nicht wirtschaftlich sein. Dies war eine Erfahrung, die Deutschland nach der Ölkrise 1973 gemacht hat, und die Einstellung des möglicherweise letzten neuen Kohlekraftwerksprojekts in Europa, Tuzla 7 in Bosnien und Herzegowina, legt dies nahe.

Wie viel Fortschritt haben die Westbalkanländer beim Ausstieg aus der Kohle und beim Übergang zu sauberen Energiequellen wie erneuerbaren Energien gemacht? Was kann noch getan werden, um diesen Übergang zu beschleunigen?

Der Fortschritt war in der Tat nicht genug. Die Herausforderung des Übergangs besteht größtenteils darin, die Einführung erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Es wird erhebliche Anstrengungen in einer Reihe von Bereichen erfordern, auf die sich viele bereits im Rahmen des europäischen Grünen Deals stützen, die jedoch nicht oder nur rudimentär in den Westbalkan aufgenommen wurden.

Der grundlegendste Reformschritt, den die Energiegemeinschaft noch in diesem Jahr vollziehen wird, ist die Schaffung organisierter Großhandelsmärkte für Strom und deren Kopplung auf regionaler Ebene und mit der EU. Dies eröffnet neue Absatzmärkte für die Erzeugung erneuerbarer Energien im Westbalkan, die sonst auf kleine nationale Märkte beschränkt wären. Es ermöglicht den Regierungen auch, ihre Unterstützungsprogramme so zu gestalten, dass die Belastung des Haushalts verringert wird, beispielsweise durch Differenzkontrakte.

Um die Entwicklung erneuerbarer Energien weiter voranzutreiben, sind Rahmenbedingungen erforderlich, darunter ein funktionierendes System für den Handel mit Herkunftsnachweisen in ganz Europa oder funktionierende Ausgleichs- und Intraday-Märkte. Das Bündel von Politiken und Maßnahmen hängt von Zielen und einer soliden Planung ab, insbesondere durch die gemäß der Governance-Verordnung zu verabschiedenden nationalen Energie- und Klimapläne.

Und schließlich muss die Bepreisung der Externalitäten von Umweltverschmutzung und CO2-Emissionen – mit anderen Worten, ein regional koordinierter CO2-Preismechanismus, der schließlich in das ETS der Europäischen Union integriert werden soll – entworfen, vorbereitet und schrittweise gemäß dem Dekarbonisierungsfahrplan der Energiegemeinschaft von umgesetzt werden 2021.

Die EU diskutiert derzeit einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus, der CO2-intensiven Strom, der in die Europäische Union importiert wird, mit einer Abgabe belasten würde. Wie wird sich dies auf den Westbalkan auswirken und was könnte die EU tun, um den Schlag abzumildern?

Die CBAM der Europäischen Union wird offensichtlich diejenigen Volkswirtschaften betreffen, die Strom exportieren, ohne die CO2-Emissionen aus seiner Produktion einzupreisen. Auf dem Westbalkan ist der prominenteste Fall Bosnien und Herzegowina.

Die CBAM sollte als Weckruf für die betroffenen Volkswirtschaften verstanden werden, mit der Einführung von CO2-Preisen zu beginnen und die Einnahmen aus diesen Systemen für die Förderung ihres Übergangs zu Hause zu verwenden, anstatt sie nach Brüssel zu transferieren.

Der CBAM-Vorschlag besteht in seiner jetzigen Fassung zu Recht auf einem ehrgeizigen CO2-Preisniveau als Voraussetzung für eine Ausnahmeregelung, erkennt aber auch an, dass die Stromsysteme des Westbalkans im Gegensatz zu denen anderer Nicht-EU-Staaten bald mit dem Rest Europas gekoppelt sein werden Länder.

Um die einzigartigen Beziehungen zwischen den Vertragsparteien und der Europäischen Union in dieser Hinsicht zu managen, wird eine besondere Aufmerksamkeit seitens der Energiegemeinschaft erforderlich sein, sobald die CBAM-Verordnung angenommen ist.

Ein im vergangenen Jahr veröffentlichter Bericht ergab, dass die Schwefeldioxidemissionen von Kohlekraftwerken im gesamten Westbalkan im Jahr 2020 die gesetzlichen Grenzwerte überschritten haben. Was kann getan werden, um diese Emissionen zu reduzieren und die Luftqualität in der Region zu verbessern?

Umweltverschmutzung ist eines der größten Probleme auf dem Westbalkan. Das Sekretariat geht Verstößen gegen die Umweltnormen systematisch nach und leitet Vertragsverletzungsverfahren ein.

Das Durchsetzungssystem der Energiegemeinschaft basiert jedoch eher auf deklaratorischen und politischen Rechtsbehelfen als auf einfachen Abhilfemaßnahmen wie Strafen und Entschädigungen.

Bis sich die Situation verbessert hat, obliegt es anderen Akteuren – Gebern, der Europäischen Union, aber auch nationalen Gerichten – nachzugehen und die entsprechenden Konsequenzen aus der Feststellung eines Verstoßes gegen die Regeln der Energiegemeinschaft zu ziehen.

Der Westbalkan hatte Probleme mit Wasserkraft, die die Umwelt schädigt. Wie können diese Energiequellen umweltschonend ausgerollt werden?

Dekarbonisierung bedeutet, dass Wasserkraft im Energiemix eines Landes nicht per se abgelehnt werden kann. Dennoch sind viele Flusssysteme des Westbalkans von außerordentlichem ökologischem Wert, der erhalten werden sollte.

Gerade kleine Wasserkraftwerke erbringen in der Regel wenig Energie im Vergleich zum Verlust an Biodiversität, den sie oft verursachen. Das Repowering bestehender Großwasserkraft weist dagegen ein deutlich positiveres Kosten-Nutzen-Verhältnis auf. Der Ausbau von Kleinwasserkraftanlagen sollte auch nicht durch Förderregelungen wie Einspeisevergütungen gefördert werden.

Das Verfahrensinstrument, das Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis halten kann, ist jedenfalls das Verfahren der Umweltverträglichkeitsprüfung. Dieses Verfahren kann Transparenz, Legitimität und echte Umweltdemokratie fördern – wird dieser Erwartung im Westbalkan aber leider nicht immer gerecht. Davon zeugen die vielen Beschwerden, die beim Sekretariat der Energiegemeinschaft eingegangen sind.

Welche Änderungen müssen an der Energieinfrastruktur wie Strom- oder Gasnetzen vorgenommen werden, um die Energiewende auf dem Westbalkan zu ermöglichen? Wie viel würde das kosten?

Der rasche Ausbau von mehr Erneuerbaren erfordert definitiv Investitionen in das Stromsystem. Allerdings nicht so sehr bei Interkonnektoren zwischen Ländern, wo zwar physische Kapazitäten vorhanden sind, diese aber erheblich zu wenig genutzt werden.

Es sind Investitionen in die Übertragungs- und Verteilungsnetze auf nationaler und lokaler Ebene erforderlich. Letzteres ist besonders wichtig, um das noch immer große Potenzial für die Steigerung des Eigenverbrauchs und der Rückspeisung von Solaranlagen auf dem Dach auszuschöpfen.

Die Weiterentwicklung des Gasnetzes ist eine andere Sache, da Investitionen das Risiko verlorener Vermögenswerte in einem dekarbonisierten System berücksichtigen müssen. Auch hier stellt das europäische Recht Instrumente bereit, die dabei helfen können, im Einzelfall die richtige Entscheidung zu treffen, in diesem Fall die sogenannte TEN-E-Verordnung.

[Edited by Zoran Radosavljevic]


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