Das Lieferkettengesetz der EU ist auf den letzten Metern vor der Verabschiedung – darum geht es jetzt

Brüssel ringt um ein EU-weites Lieferkettengesetz: Die Verhandlungen kommen in die heiße Phase, der Ausgang ist offen. Armin Paasch ist Menschenrechtsexperte bei Misereor. Er ordnet ein, was auf Unternehmen zukommt – und was sich Verbraucher davon erhoffen können.

Von Jan Rübel

Seit langem laufen nun schon die Verhandlungen zu einem Lieferkettengesetz auf EU-Ebene – wann kommt das denn nun?

Im Februar 2022 hatte die EU-Kommission ihren Vorschlag zu solch einem Gesetz vorgelegt. Dazu haben sich die Staats- und Regierungschefs im November 2022 im Rat positioniert. Im Juni 2023 ist dann auch das Europäische Parlament gefolgt – und seitdem laufen die Verhandlungen zwischen den drei Institutionen, also der sogenannte Trilog. Ich denke, dass jetzt schon bei vielen Themen Einigkeit herrscht. Heftig gerungen wird aber zum Beispiel über die Frage, ob der Finanzsektor und Waffenexporte erfasst sein sollen. Strittig ist auch, ob sich Unternehmen um die Verwendung von Exportgütern wie zum Beispiel giftigen Pestiziden kümmern müssen. 

Dürfen in der EU verbotene Mittel etwa woanders verkauft werden?

Ja, das ist leider so. Pestizide, die innerhalb der EU nicht zugelassen sind, dürfen trotzdem exportiert werden. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir will das in Deutschland ändern. Auch auf EU-Ebene wird darüber, unabhängig vom EU-Lieferkettengesetz, diskutiert. Aber weder in Deutschland noch in der EU gibt es dazu bisher einen Durchbruch.

Armin Paasch ist Menschenrechtsexperte bei Misereor und vertritt VENRO, einen Verbund von deutschen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, beim Bundesarbeitsministerium

© Privat

Wo hakt es noch?

Es ist auch unklar, wie weit die Verpflichtungen zum Klimaschutz reichen sollen. Wir hoffen auf eine Annäherung und eine Einigung vor Jahresende, spätestens aber bis Mitte Februar. Ansonsten droht das Thema nämlich in die Mühlen des Wahlkampfes zum Europäischen Parlament zu geraten. Und damit würden die Erfolgsaussichten deutlich sinken.

Es könnte also auch passieren, dass dieses Gesetz ganz in die Sackgasse gerät?

Das ist nicht auszuschließen. Bisher sind wir aber optimistisch.

Seit Anfang dieses Jahres gilt in Deutschland ein Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Inwiefern unterscheidet es sich von dem, das derzeit in Brüssel verhandelt wird?

Das deutsche Gesetz betrifft Firmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern – ab 2024 dann Firmen mit mehr als 1000 Mitarbeitern. Auf EU-Ebene wird hingegen auf Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten und einem Nettoumsatz von mindestens 150 Millionen Euro weltweit gezielt. Neben anderen Unterschieden fehlt im deutschen Gesetz eine Regelung zur zivilrechtlichen Haftung, auch Umweltbelange sind nur sehr lückenhaft abgedeckt, der Klimaschutz gar nicht.

Was ist denn die Position der Bundesregierung bei diesen EU-Verhandlungen?

Gut ist zunächst, dass die Bundesregierung das Vorhaben der Kommission insgesamt unterstützt. Positiv ist auch, dass sie einen sogenannten risikobasierten Ansatz befürwortet, wonach die menschenrechtlichen und die umweltbezogenen Sorgfaltspflichten vollumfänglich für die gesamte Wertschöpfungskette gelten sollen – also nicht nur für das erste Glied der Kette. Wir begrüßen ferner, dass die Bundesregierung eine sogenannte zivilrechtliche Haftungsregel befürwortet: Sie soll greifen, wenn Unternehmen durch Verstöße gegen diese Sorgfaltspflichten Schäden verursacht haben.

Hätten Sie da ein Beispiel?

Ein bekanntes Beispiel ist der verheerende Brand in der pakistanischen Textilfabrik Ali Enterprises im Jahr 2012. 259 Menschen kamen dabei ums Leben, nicht zuletzt weil Feuerlöscher fehlten und Notausgänge versperrt waren. Der deutsche Textildiscounter KiK war damals mit 70 Prozent der Abnahmen Hauptkunde, hatte sich um die Brandschutzbestimmungen aber unzureichend gekümmert. Eine Zivilklage von Hinterbliebenen vor dem Landgericht Dortmund wurde aber im Januar 2019 abgewiesen – weil pakistanisches Recht zur Anwendung kam, in dem sehr kurze Verjährungsfristen gelten. Nach dem EU-Lieferkettengesetz würde in einem solchen Fall die zivilrechtliche Haftungsregel greifen. Die Erfolgsaussichten einer Klage wären deutlich größer.

Die Bundesregierung sieht sich ja als Vorreiterin für Klimaschutz – trotz der Probleme rund um die Schuldenbremse. Spielt das Klima auch eine Rolle beim EU-Lieferkettengesetz?

Man muss leider sagen, dass die Bundesregierung in ihren EU-Plänen die Unternehmen nur zur Aufstellung von Klimaplänen verpflichten will, nicht aber zu deren Umsetzung. Die EU-Kommission schlägt immerhin vor, die Klima- und Nachhaltigkeitsperformance von Unternehmen zu einem obligatorischen Kriterium für die Vergütung von Unternehmensvorständen zu machen. Selbst dieses Anreizsystem lehnt die Bundesregierung ab.

Und warum macht sie das?

Ursprünglich hatten das Arbeits-, Wirtschafts- und Umweltministerium solche Verpflichtungen befürwortet. Aber das Bundesjustizministerium hat sich quergestellt.

Was ist denn die Position der Union? Es gibt ja zahlreiche CDU- und CSU Abgeordnete im Europäischen Parlament, die jetzt im Trilog mitverhandeln.

Beide Parteien mauern im Europäischen Parlament gemeinsam mit der AfD. Und man muss auch sagen: Gemeinsam mit der FDP. Wenn es nach CDU und CSU ginge, würde nicht nur das EU-Lieferkettengesetz verhindert, sondern auch das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz rückabgewickelt oder zumindest ausgesetzt. 

Dabei wurde das deutsche Gesetz 2021 vom CSU-Bundesminister Gerhard Müller durchgesetzt.

Ja, aber inzwischen schreibt die Union ihre Positionen zum Teil wortwörtlich vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ab – und der lehnt eine rechtliche Verantwortung von Unternehmen für ihre Lieferketten ab. Das haben wir durch einen Vergleich zwischen Lobbybriefen von BDI und Arbeitgeberverbänden einerseits mit den Eingaben der CDU im Europäischen Parlament andererseits nachgewiesen.

Drohen denn durch das neue Gesetz Bürokratie und auch Deindustrialisierung, wie manche Wirtschaftsvertreter behaupten?

Das behaupten einige Wirtschaftsverbände. Sie malen Bürokratiemonster an die Wand und stilisieren das Gesetz zum Totengräber der deutschen Industrie. Eine empirische Grundlage konnten sie dafür aber bisher nicht vorweisen. Mitunter tricksen sie auch mit Zahlen: So behauptet die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) auf Basis einer eigenen Umfrage, dass 35 Prozent aller deutschen Unternehmen wegen des schon bestehenden deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes den Verlust von Zulieferern befürchten würden. Ein Blick in die Datenbasis zeigt aber, dass es nicht 35 Prozent sind, sondern 15 Prozent, die diese Befürchtung geäußert haben. Der DIHK behauptet auch, dass 28 Prozent der deutschen Unternehmen wegen des Gesetzes den Verlust von Kunden befürchten würden. Tatsächlich sind es nach den Umfrageergebnissen des DIHK selber nur zwölf Prozent. 

Aber erst einmal wird es einen bürokratischen Mehraufwand für betroffene Unternehmen geben.

Also, ein gewisser Mehraufwand ist damit auf jeden Fall verbunden. Das kann man aber nicht einfach nur als Bürokratie etikettieren. Wenn zum Beispiel Risikoanalysen durchgeführt werden müssen, ist das eine Grundlage dafür, um Schäden vorzubeugen.

Um welche Risiken und Schäden könnte es sich handeln?

Es geht um das Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden. Dazu gehören Zwangsarbeit, Kinderarbeit, die Verfolgung von Gewerkschaften, mangelnder Brandschutz, Landvertreibungen oder die Zerstörung von Lebensgrundlagen wie Böden, Wäldern und des Zugangs zu sauberem Trinkwasser. Wenn Unternehmen also verpflichtet werden, über die Ergebnisse zu berichten, ist das auch eine Voraussetzung dafür, dass Schäden vermieden werden können. Es ist nicht unnötige Bürokratie, sondern das ist Transparenz, die eine Voraussetzung für den Schutz von Menschenrechten ist.

Und würde das Gesetz auch bedeuten, dass kleinere, also zuliefernde Betriebe auch in gewisse Dokumentationspflichten geraten?

Weder die Kommission noch der Rat oder das Parlament wollen kleine und mittlere Unternehmen in die Pflicht nehmen, die also weniger als 250 Mitarbeitende haben. Und gerade das Europäische Parlament fordert Vorgaben zur fairen Einkaufspolitik, so dass Supermärkte für Bananen aus Ecuador zum Beispiel einen Preis zahlen müssen, der die Zahlung existenzsichernder Löhne an Plantagenarbeiterinnen ermöglicht. Das Parlament fordert auch klare Regeln zur fairen Vertragsgestaltung, sodass große Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten – etwa die Durchführung von Risikoanalysen – nicht einfach an kleinere Zulieferer delegieren können. 

Es gibt allerdings Befürchtungen von kleineren Zulieferbetrieben, dass sie diese von den Großen durchgereicht bekommen. Was macht man mit dieser Situation?

Im deutschen Gesetz ist das nicht erlaubt. Das BAFA, also das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, hat eine eigene Handreichung dazu herausgegeben. Das ist Aufgabe der verpflichteten Unternehmen, die wirklich unter den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fallen, solche Risikoanalysen vorzunehmen. 

Lieferkettengesetz – das Projekt

Der stern und das freie Autoren- und Fotografenkollektiv Zeitenspiegel Reportagen widmen sich in loser Folge einem der wichtigsten neuen deutschen Wirtschaftsgesetze – dem im Januar 2023 in Kraft getretenen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Was bedeuten die neuen Regeln für deutsche Unternehmen? Was für Menschen im Globalen Süden? Was für Kunden und Konsumenten? Dieses Projekt wird vom European Journalism Centre finanziert und von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt – die Artikel entstehen ohne redaktionellen Einfluss der Stiftung.

Aber sind die großen Unternehmen nicht am längeren Hebel, indem sie sagen: Lieber Zulieferer, wenn du diese Sorgfaltspflichten nicht für mich übernimmst, dann suche ich mir jemand anderes, der dazu bereit ist.

Das BAFA hat klargestellt, dass bestimmte Anforderungen, die ein großes Unternehmen an kleine Unternehmen stellt, nach dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz nicht zulässig sind. Dies kann zu einer Prüfung durch das BAFA führen.

Gab es das schon mal?

Bisher ist das deutsche Gesetz ja noch kein Jahr in Kraft. Welche konkreten Beschwerden beim BAFA eingegangen sind und welche Prüfungen bisher mit welchem Ergebnis stattgefunden haben, ist öffentlich nicht bekannt. Hier wünschen wir uns durchaus mehr Transparenz.

Nun hat man den Eindruck, dass das deutsche Lieferkettengesetz stark den Fokus auf Schäden für den Menschen legt. Nimmt das avisierte EU-Lieferkettengesetz auch andere Schäden ins Augenmerk?

Ja, das EU-Vorhaben würde nicht nur Umweltauflagen zur Verwendung von Quecksilber und anderen gefährlichen Chemikalien sowie zur Abfallentsorgung betreffen, wie das im deutschen Gesetz der Fall ist. Die Kommission will darüber hinaus Regelungen zum Schutz der biologischen Vielfalt, zum Schutz der Ozonschicht und zum Klimaschutz. Und Deutschland hat auch vorgeschlagen, den Meeresschutz zusätzlich aufzunehmen. Notwendig wäre eine Umweltgeneralklausel, die alle Umweltgüter schützen würde.

Welche EU-Staaten stellen sich denn gerade gegen ein Lieferkettengesetz?

Vorbehalte haben insbesondere Länder, in denen es bei den Parlamentswahlen der letzten zwei Jahre einen Rechtsruck gegeben hat: Finnland und Schweden gehören dazu, auch Italien. Es kommt ja auch hinzu, dass der Ukrainekrieg zu wirtschaftlichen Verwerfungen geführt hat. Wir sehen, dass Rechtspopulisten und leider auch Konservative versuchen, diese Krise zu nutzen, um jegliches Gesetzesvorhaben zum Schutz von Umwelt und Menschenrechten zu torpedieren. Die Krise wird als Vorwand genutzt, weil dieselben Akteure auch zuvor schon gegen ein EU-Lieferkettengesetz waren.

Man hat den Eindruck, dass die Luft für ein schlagkräftiges Gesetz immer dünner wird.

Ich bin immer noch optimistisch und glaube, dass bis spätestens Mitte Februar eine Einigung dasteht, dass die bisherigen Differenzen ausgeräumt werden können.

Was sind denn die bisherigen Erfahrungen mit dem deutschen Lieferkettengesetz? Was ist seit Inkrafttreten passiert?

Beim BAFA ist eine Abteilung eingerichtet worden, in der inzwischen 101 Mitarbeitende beschäftigt sind. Es wurde ein Fragebogen für Unternehmen entwickelt, der die Anforderungen vom Lieferkettengesetz abfragt. Und nach unseren Informationen sind schon 25 Beschwerden von Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Organisationen eingegangen, die jetzt vom BAFA geprüft werden. Für eine Zwischenbilanz ist es zu früh. Aber unser Eindruck ist, dass das Lieferkettengesetz trotz seiner Schwächen Wirkung zeigt: Dass Unternehmen Beschwerden von Betroffenen oder auch Medienberichte sehr viel ernster nehmen, seitdem es Bußgelder droht, wenn das nicht berücksichtigt wird. Unternehmen analysieren ihre Risiken intensiver. Sie gehen auf Gewerkschaften zu und ergreifen Maßnahmen, um Missstände zu beenden oder ihnen vorzubeugen. 

Und gibt es auch Berichte von Firmen, die sagen: Wir schaffen das nicht mehr, wir müssen jetzt Abstriche machen?

Wir hören vielmehr von vielen Unternehmen, wie zum Beispiel Tchibo, Henkel, auch von Lidl, Aldi und Kik – zum Teil also Unternehmen, die jetzt nicht bekannt dafür sind, dass sie sich schon ewig lange um Menschenrechte und die Umwelt in besonderem Maße kümmern –, dass die Anforderungen des Lieferkettengesetzes durchaus umsetzbar sind. Und wir sehen auch deutliche Fortschritte bei vielen von diesen Unternehmen. Das heißt: Es ist machbar. Man muss es nur wollen.

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