Corona-Regeln fallen weg, was das für junge Risikopatienten bedeutet

Ein Stück Normalität kehrt für viele durch den Wegfall fast aller Corona-Maßnahmen ein. Doch nicht allen Menschen winkt dadurch mehr Freiheit. Vier junge Menschen mit Vorerkrankungen erzählen im stern, wie sie auf den vermeintlichen “Freedom Day” blicken.

Fast alle bisherigen Corona-Regeln sind Geschichte. Mit dem Ende der Übergangsfrist (zum 2. April 2022) enden in den meisten Bundesländern ein Großteil der Beschränkungen, wie etwa die Maskenpflicht beim Einkaufen. Die neue Freiheit können nicht alle in Deutschland genießen. Für Menschen mit Vorerkrankungen steigt das Risiko. Vier junge Risikopatient:innen berichten, was der Regelwegfall für sie bedeutet.

Michaela Nie*, 42, Hochtaunuskreis in Hessen

Selbstportrait Michaela Nie vor einer Treppe

Michaela Nie lebt mir ihrem Mann und ihren Kindern in einem Reihenhaus.

© privat

Von null auf hundert bin ich im letzten April von einer fast kerngesunden Frau zur Risikopatientin geworden. Wegen Atemnot und hohem Blutdruck habe ich mich bei der Kardiologin untersuchen lassen. Ich musste ins Krankenhaus, nach einigen Untersuchungen hatte ich eine Diagnose: Lungenkrebs im Endstadium. Metastasiert, nicht operabel, nicht heilbar. Das war ein Schock für mich, ich habe nie geraucht und hatte vorher nie gesundheitliche Bedenken.

Das Sicherheitsgefühl, wenn ich unter Menschen bin, hat sich seit der Diagnose um 180 Grad gedreht. Denn: Ob meine vier Impfungen gegen Sars-CoV-2 mir garantieren, nicht im Krankenhaus zu landen, ist ungewiss. Krebspatient:innen sind ja generell empfänglicher und meine Krebstherapie hat eine Auswirkung auf meine Abwehrkräfte. Wie mein Immunsystem reagiert, möchte ich ungern ausprobieren. Ob sich mein Krebsmedikament mit einer Antikörper-Infusion verträgt, die ich im Falle einer Corona-Infektion zur Behandlung bekommen kann, wäre auch noch eine Frage.

Es wird immer gesagt, dass Risikopatient:innen auf sich selbst aufpassen sollen. Dabei wird aber vergessen, dass viele das nicht können. Mein Mann ist Lehrer, mein zehnjähriger Sohn und meine siebenjährige Tochter haben jeden Tag Hunderte Kontakte in der Schule. Meine Kinder waren in der Pandemie lange genug eingeschränkt, deswegen gehen sie wieder draußen zum Fußball oder treffen Freunde, deren Familien alle um unsere Situation wissen. Mein Mann und meine Kinder sind zwar gegen Corona geimpft, aber das schützt mich natürlich nur bedingt. Masken und Tests empfinde ich als Hilfe und sie schützen vor einer Ansteckung.

Beim Blick auf die wegfallenden Regeln habe ich gemischte Gefühle. Als gesunder geimpfter Mensch wäre ich heilfroh, an das Leben von vor der Pandemie anknüpfen zu können, da man die Wahrscheinlichkeit, schwer an Covid zu erkranken, stark reduziert hat. Ich verstehe also alle, die sich freuen. Aber als Risikopatientin mit Lungenkrebs habe ich große Sorgen zu erkranken, wenn schon bald kaum einer mehr Rücksicht nimmt und bei diesen hohen Inzidenzen aller Schutz fällt. Ich schwanke also ständig zwischen dem Gefühl der Sorge und dem unbändigen Willen, meine unter Umständen wenigen letzten Monate bis Jahre nicht mit eben dieser Sorge zu verschwenden. Ich will auch nicht, dass unsere Kinder in ständiger Angst um mich leben.

Wir sind in diesem Jahr auf zwei Hochzeiten eingeladen. Sind die Gäste, wenn alle Regeln fallen, trotzdem bereit, sich vorher zu testen? Werde ich unter Umständen blöd angeschaut, wenn ich eine Maske trage? Meine Kinder, mein Mann und ich werden weiter freiwillig Maske tragen. Wenn ich mich selten mit engen Freunden oder Familie treffe, werden sich weiter alle testen und vorsichtig sein. Ich möchte auch wieder normal leben, würde mich aber wesentlich sicherer fühlen, wenn in öffentlichen Räumen, die ich nicht meiden kann, weiterhin 3G oder zumindest eine Maskenpflicht gelten würde.

*Der Nachname wurde von der Redaktion geändert.

Michelle Schindlmeier, 25, Landkreis Straubing-Bogen in Bayern

Michelle Schindlmeier

Michelle Schindlmeier teilt ihren Alltag auf Instagram und lebt zusammen mit ihrem Mann.

© privat

Durch eine schwere Lungenkrankheit bin ich 24/7 auf zusätzlichen Sauerstoff angewiesen. Mittlerweile ist meine Lungenfunktion nur noch bei um die 20 Prozent. Außerdem bin ich unfreiwillig ungeimpft, weil ich allergisch auf die Corona-Impfstoffe reagiere und die Gefahr eines allergischen Schocks zu groß wäre. Wie gefährlich eine Corona-Infektion genau für mich ist, lässt sich nicht abschätzen, deswegen ist eine Infektion keine Option für mich.

Mein Mann und ich haben in den letzten zwei Jahren unsere Kontakte stark eingeschränkt. Wer uns besucht, hat immer einen Test gemacht und zu meinem Schutz trägt mein Besuch eine Maske. Doch die meisten Treffen haben wir sowieso ins Freie verlegt. Wir sind kreativ geworden: Meine Mutter hat zum Beispiel im November Geburtstag. Um zusammen feiern zu können, haben wir draußen mit Abstand am Lagerfeuer gesessen und gegrillt.

Wenn Verwandte oder Freunde zuvor unter vielen Menschen waren, treffe ich sie erst mal nicht. Meistens warte ich fünf Tage ab, das habe ich so mit meinem Arzt besprochen. Das ist für beide Seiten ok, ich will ja auch nicht, dass mein Umfeld wegen mir auf alles verzichtet. Auf meine Atemtherapie, quasi Physiotherapie nur für die Lunge, bin ich angewiesen, auch wenn es ein Risiko bedeutet. Für die meisten Situationen haben mein Mann und ich gute Lösungen gefunden, sodass ich mich psychisch trotz der Pandemie recht gut fühle. Wegen meiner Lungenkrankheit bin ich auch in einer Psychotherapie und kann mit meiner Therapeutin über meine Sorgen sprechen und ihr mein Herz ausschütten.

Wenn jetzt die ganzen Regeln wegfallen, wird es super schwierig für mich, ich muss mich noch mal mehr einschränken. Ich kann nur hoffen, dass das Wetter besser wird und ich Treffen nach draußen verlegen kann. In meinen Augen macht es einfach keinen Sinn, dass jetzt, wo die Zahlen in Bayern so hoch sind, die Maskenpflicht fallen soll. Ich werde mich weiter schützen und Maske tragen, doch viele werden die Maske nicht mehr anziehen, wenn sie nicht müssen. Für mich wird es dann gefährlicher.

Ich finde es gut, dass es weiter geht und ein Stück Normalität zurückkehrt. Aber keiner fragt nach der Risikogruppe. Ich fühle mich ungehört, wenn die Lösung sein soll, dass ich und Menschen aus der Risikogruppe sich weiter einschränken sollen. Ich weiß nicht, ob das die richtige Lösung ist, wenn ein ganzer Teil der Gesellschaft vergessen wird. Restlos einschränken oder isolieren kann ich mich nicht, mein Mann zum Beispiel muss manchmal ins Büro.

Altan Eskin, 43, Frankfurt am Main in Hessen

Altan Eskin sitzt an einem Tisch vor einem Bücherregal

Altan Eskin arbeitet als Fotograf und Designer und lebt in Frankfurt am Main. Auf Instagram erzählt er in einem Online-Tagebuch, wie er mit der Diagnose Blutkrebs lebt.

© privat

Im Januar vor der Pandemie erhielt ich die Diagnose Multiples Myelom. Blutkrebs. Rückblickend war es so, dass ich am Anfang der Therapie quasi mit nichts dastand: Das Immunsystem war kaum vorhanden, ich war komplett geschwächt und hätte höchstwahrscheinlich gar keine Chance bei einer Corona-Infektion gehabt. Die strengen Corona-Regeln zu Beginn der Pandemie waren für mich einerseits eine Erleichterung. Alle trugen Masken, mussten Abstand halten und so war es für mich sicherer. Andererseits gab es plötzlich neben der Krebsdiagnose auch noch Corona und keiner wusste genau, wie gefährlich es ist. Außerdem hatte ich während der Zeit zwei Stammzelltransplantationen. Wegen Corona war ich diese drei Wochen jeweils in kompletter Isolation – allein in meinem Zimmer im Krankenhaus. Das war ganz ohne Besuch tatsächlich schwierig.

Heute ist die Situation für mich eine andere. Ich muss zwar weiter Medikamente nehmen, die mein Immunsystem unterdrücken. Heißt: Auch eine Erkältung kann für mich ein Problem sein und bei Fieber muss ich zur Sicherheit im Krankenhaus behandelt werden. Doch ich habe durch die Corona-Impfung eine gute Zahl an Antikörpern gebildet. Mich beruhigt auch, dass Menschen mit der gleichen Krebserkrankung milde Corona-Verläufe hatten. Dadurch hört für mich langsam dieser Selbstzwang der Isolation auf. Neulich hatten meine Frau und ich zum ersten Mal wieder Freunde zum Abendessen da. Wir machen vorher alle Schnelltests – und verlassen uns ein stückweit darauf.

Ich blicke auf den Wegfall der Regeln ein bisschen entspannter, gleichzeitig wird es an meinem Verhalten aber nichts ändern. Ich werde weiterhin eine Maske tragen. Meine Frau und ich haben in den letzten zwei Jahren viel Zeit in der Natur verbracht, das werden wir weiter machen. Außerdem haben wir einen Urlaub mit dem Wohnmobil geplant, so können wir Kontakte umgehen, die wir im Hotel hätten. Wenn die Inzidenzen im Sommer niedrig genug sind, kann ich mir vorstellen, dass ich mit meiner Frau auch mal ein Restaurant besuche – allerdings nur den Außenbereich. Bei so hohen Inzidenzen wie jetzt steht für mich vollkommen außer Frage, sich ins überfüllte Restaurant zu setzen. Ich glaube, dass es im Moment nicht angemessen ist, sich mit mehr als einer Handvoll Leute in Innenräumen zu treffen.

Luisa L’Audace , 25, Niedersachsen

Luisa L’ Audace hält einen Gehstock in der Hand

© privat

Ich muss sagen, dass ich mich als Teil der jungen Risikogruppe von Beginn der Pandemie an vergessen gefühlt habe. In Berichten über verstorbene Menschen wurde oft betont, dass sie ja sowieso alt oder krank waren. Als wäre dies eine Rechtfertigung dafür, dass sie gestorben sind. Als wäre ihr Leben weniger schützenswert.

Ich habe eine angeborene Erkrankung, die meine Nerven, Muskeln und Organe betrifft und bin deshalb einem höheren Risiko ausgesetzt, wenn ich Covid-19 bekomme. Vor einer Infektion habe ich große Angst. Ich bin sehr froh, dass ich mich zumindest impfen lassen konnte – nicht jede:r hat dieses Privileg. Schon vor der Pandemie war ich als behinderte Frau in meiner Teilhabe eingeschränkt, doch durch die Ansteckungsgefahr sind selbst die kleinen Dinge, an denen ich teilhaben konnte, größtenteils weggebrochen. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich in den letzten zwei Jahren den Großteil meiner Familie gesehen oder auswärts gegessen habe. An größere Aktivitäten wie Urlaub war gar nicht zu denken. Die Risikogruppe hatte nie eine Pause von der Krise.



Reporter testet FFP2-Masken vom Discounter (Symbolbild)

Dass viele Regeln und vor allem die Maskenpflicht bei so hohen Inzidenzen wegfallen sollen, fühlt sich bedrohlich an. Ich habe Angst, dass kleine Dinge, die ich mir inzwischen wieder erlaubt habe, erneut wegfallen, wenn niemand mehr eine Maske trägt. Menschen, die von der Risikogruppe verlangen, sich doch einfach komplett zu isolieren, sind ableistisch. Ableismus ist die strukturelle Diskriminierung von behinderten und chronisch kranken Menschen. Diese Forderung enthält einen Denkfehler, denn ich muss nicht einmal vor die Tür gehen, um mich anzustecken. Ich lebe nicht allein und bin, wie viele behinderte Menschen, auf Pflege, Therapien, Termine bei Ärzt:innen und Krankenhausaufenthalte angewiesen. 

Diese Lockerungen fühlen sich für mich an, wie die Entscheidung, dass wir jetzt eine Durchseuchung durchlaufen müssen. Als wäre über unsere Köpfe hinweg entschieden worden, dass sich nun alle Menschen mindestens einmal mit dem Virus infizieren müssen. Nur wird dabei billigend in Kauf genommen, dass es viele Menschen gibt, die eine Infektion mit dem Coronavirus nicht überleben würden.

Ich habe das Gefühl, dass mir die Entscheidung, ob und wie ich mich schützen will, einfach abgesprochen wird, weil es irgendwann nicht mehr möglich ist, weitere Schutzmaßnahmen auf sich zu nehmen, während unser Umfeld immer größeren Lockerungen ausgesetzt ist. Je mehr Freiheiten sich andere Menschen rausnehmen, desto mehr Einschränkungen muss die Risikogruppe in Kauf nehmen.

Corona scheint zum Alltag geworden zu sein, als wäre es keine große Sache mehr. Ich frage mich, wann unsere Gesellschaft die Entscheidung getroffen hat, dass es wieder ok ist, riesige Partys zu feiern und sich jeden Tag mit vielen Menschen zu treffen. Wir wurden jedenfalls nicht gefragt. Ich wünsche mir, dass sich meine Mitmenschen ihrer Privilegien bewusst werden und wieder mehr über den Fremdschutz nachgedacht wird.


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