“Bild”-Zeitung: Die ersten fünf Monate mit Chefredakteur Johannes Boie – Medien

Er will alles abreißen. Die Ecke, wo früher Schnaps und das Feldbett seines Vorgängers standen und sich jetzt ein Schreibtisch möglichst unauffällig an die Wand drückt, Holzplatte, bisschen Papierkram, nichts persönliches. Den ganzen riesigen Raum, in dem Umzugskartons und Farbeimer den Wandel in Deutschlands mächtigster Boulevard-Zeitung illustrieren wie schlechte Requisiten. Schatten liegen unter Johannes Boies Augen. Mit 38 steht er hier im 16. Stock als neuer Chefredakteur der Bild-Zeitung. Als derjenige, der eine von Sexskandalen erschütterte Redaktion irgendwie zusammenraufen muss.

Das neue Büro liegt auf der Mitte des Korridors, hat eine Glastür und ist halb so groß. Will man das Prinzip verstehen, mit dem Johannes Boie die Aufräum-Arbeiten bei der Bild anpackt, dann vielleicht mit diesem Raumwechsel. Bescheidenheit, Transparenz, Erreichbarkeit. Boie will “eine veränderte Kultur auch vorleben”. Und hofft auf Nachahmer.

Er bietet sofort das Du an, sagt “sorry” für die 40 Minuten Verspätung. Einer seiner Reporter hatte in der Ukraine Probleme. Trotz Kriegs nimmt er sich an diesem Mittwochabend Zeit für einen Spaziergang durchs Berliner Zeitungsviertel, um über seinen neuen Job und die Zukunft der Bild zu sprechen.

Knapp fünf Monate ist es her, da trat Johannes Boie an einem Oktobermorgen aus dem Aufzug im 16. Stock rein ins Chaos. In eine Redaktion, die wohl gerade den größten Skandal ihrer Geschichte erlebt hat. Ausgerechnet das international verehrte Qualitätsblatt The New York Times schrieb über den Machtmissbrauch in der Bild-Redaktion, über die Affären des damaligen Chefredakteurs Julian Reichelt, enthüllte Details, wie jenes, dass der Ex-Chefredakteur Scheidungspapiere gefälscht habe, um eine Mitarbeiterin von seiner Verfügbarkeit zu überzeugen. Im Oktober, als jene Geschehnisse um Sex und Machtmissbrauch an die Öffentlichkeit drangen, wurde es unter der bis dahin schützenden Hand Mathias Döpfners ziemlich heiß, bis der Konzernchef Julian Reichelt rauswarf. “Bild war Julian Reichelt”, behauptete der wenig später im Interview mit der Zeit über sich selbst. Spinnt man diese omnipotente Logik weiter, kann man fragen, was die Bild jetzt ist, wo Reichelt nicht mehr da ist. Oder anders: Ist Bild jetzt Johannes Boie?

Er kennt die Wucht der Schlagzeile, weiß aber, wann man den Regler besser runter dreht

Johannes Boie zieht keine Jacke über, obwohl es ein Februarabend ist. Als würde er den Temperaturwechsel vom Springer-Gebäude nach draußen gar nicht bemerken. Er steckt die Hände in die Taschen eines dunkelblauen Jacketts, lässt den Vortritt und folgt durch die Drehtür. Um den gestärkten Kragen hängt eine tadellos gebundene Krawatte. Und kurz muss man an Reichelts aufgeknöpfte Hemden denken.

Der neue Chef der lautesten Zeitung Deutschlands, die an diesem Tag von den Kiosk-Auslagen “WIR GEGEN PUTIN!” skandiert, spricht äußerst vorsichtig. Da redet einer, der die Wucht der Schlagzeile sehr wohl kennt, aber weiß, wann man den Lautstärkeregler besser in die andere Richtung dreht.

“Ich kam ja in einer für die Bild sehr bewegten Zeit”, sagt Boie beim Abbiegen auf die Rudi-Dutschke-Straße. “Das hat man natürlich gespürt, dass das kein koordinierter Wechsel war”, und im Kopf multipliziert man diese zahmen Töne. Ob er gezögert habe, den Posten als neuer Chefredakteur anzunehmen? “Nein.” Warum nicht? “Warum sollte man zögern?”

Boie antwortet schnell, manchmal mit klugen Zeitverschaffer-Sätzen, bis er kalkuliert hat, wie weit er an die meist ja recht komplizierte Wahrheit rückt. Ein letzter Lichtstreifen zieht sich über den Horizont, zwischen den Häusern im Zeitungsviertel liegt die Nacht, die Schriftzüge an den Restaurants leuchten. Boie begann als Volontär bei der Süddeutschen Zeitung, war Redakteur im Feuilleton, schrieb für die Seite Drei, ging 2017 zu Axel-Springer und arbeitete bis zuletzt als Chefredakteur der Welt am Sonntag. Kaum war bekannt, dass Boie zur Bild wechselt, klaubten Journalisten die spärlichen Informationen über seine Biografie zusammen, der Spiegel schlussfolgerte aus angeblichen Zitaten angeblicher Ex-Kollegen sowie halbrecherchierten Details und dem Genre-Wechsel vom geachteten Essayisten und Reporter zum schlüpfrigen Boulevard, er sei ein “Mann ohne Eigenschaften”. Aber trotz ordentlichem Anzug – Boie ist keine gute Musil-Analogie. Es geht ihm um was.

Einer seiner Manifest-Sätze: “Ohne Boulevard wird Journalismus zum Elite-Projekt”

Das Beben im Hause Springer nahm man nicht überall ohne Schadenfreude wahr. Als beständiger Anführer der Rügenliste des Presserats polarisiert die Bild und wäre das Blatt an dem jüngsten Skandal um Reichelt zu Grunde gegangen, hätte sich wahrscheinlich manch Lebenstraum erfüllt. Das alles weiß Boie, deswegen sagt er, bevor es um die aktuellen Probleme dieser Redaktion geht: “Reden wir jetzt mal übers Grundsätzliche.”

Natürlich sei die Bild umstritten. “Die Mehrheit möchte uns lesen. Sie möchte ein, zwei Seiten Politik haben und dann auch Entertainment und Show, und das ist völlig in Ordnung. Wenn wir nicht allen Menschen die Chance geben, sich in professionell gemachten Medien zu informieren, dann droht die Gefahr, dass sie abdriften”, verteidigt er. Dann folgt einer seiner Manifest-Sätze: “Ohne Boulevard wird Journalismus zum Elitenprojekt und dann wird als nächstes Demokratie zum Elitenprojekt. Solche Gedanken habe ich immer verachtet.”

Boie geht zügig, er flaniert nicht, die Wolkenkratzer am Potsdamer Platz ragen vorne auf, aber er schaut nicht hin. Sein Blick gilt dem Weg. Ehemalige Kollegen bezeichnen ihn als kühlen Strategen, intelligent, hilfsbereit, einer, der wisse, wie man nach vorn kommt. Boie, das sagen ehemalige Kollegen, sei schwer in Ordnung. Auch das ist ein krasser Unterschied zum Sound der O-Töne aus Reichelts Umfeld.

Man muss nicht die New York Times aufschlagen, um Gerüchte über Reichelts autoritären Führungs-Stil zu finden. Das Problem hängt nicht an einem einzigen Mann, sondern an einer Struktur, in der eine laute Gruppe das Sagen hatte. “Einzelne signifikante Kulturprobleme”, nennt das Boie. Er erwähnt häufig das Wort “Kultur” an diesem Abend. Nach seinem Antritt initiierte er eine Führungskräfteschulung, er konferierte mit den Regionalteams, er führte Mitarbeitergespräche, die alle mit dem Thema “Kultur” begannen. Und man stellt sich den höflichen Ex-WamS-Chef vor, wie er vor den auf Autorität getrimmten, Leitwolf-gewohnten Redakteuren sitzt. Er, Botschafter der neuen Arbeitskultur.

Wie setzt er sich da durch? Seine Augen richtet er vor seine Füße, in seinem Kopf geht er die Antworten durch, für zwei Sekunden hört man nur die schnellen Schritte und die Autos des Feierabendverkehrs, dann dosiert er: “Vielleicht ist das auch eine Generationenfrage. Wer unter 40 schreit noch im Newsroom rum?”

Julian Reichelt?

“Tatsächlich weiß ich das nicht. Und über die Zeit vor mir bei Bild spreche ich grundsätzlich nicht.”

Mit Reichelt geschah, was der wollte. Boie fragt auch mal andere nach ihrer Meinung

Boie schwor nach seinem Amtsantritt, “wieder mehr Schlagzeilen produzieren als Schlagzeile zu sein”. Vielleicht passt keiner besser auf den Posten des Aufräumers als der 38-Jährige, dessen Hemd wie Weste weiß strahlt. Nur, was macht er jetzt aus der Bild?

Sie ist kein neues Blatt unter Boie geworden, das zeigen die vergangenen Monate. Aber er will vergessene Grundsätze ins Redaktionsgedächtnis holen: Erst die Recherche, dann die These. Das sagt er heute und das stand in einer Mail, die er vor Weihnachten an die Belegschaft schickte. Weniger Schlagzeilen, die der Laune eines einzelnen Mannes entspringen. “Wenn Julian das so will, machen wir das”, soll die Motivation unter Reichelt gelautet haben. Boie frage jetzt auch mal in der Konferenz, was die andern von einer Idee halten. Ob es andere Ansichten gäbe. Schon das scheint eine einschneidende Veränderung zu sein.

Weniger Meinung als Fakten will Boie auf den ersten drei Seiten. Im Januar fragte Bild ganz ohne Fackel und Mistgabel zum Klimaplan: “Habeck, der Klima-Spieler: Königsweg oder verzockt er unsere Zukunft?” Schüchtern will Boie auf keinen Fall wirken, gerade, wo man fürchtete einer wie er, habe nicht die nötige Aggressivität für einen Bild-Chef. “ES REICHT! Gebt uns unser normales Leben zurück!” stand Anfang Februar auf dem Titel, den Boie später vorlegt. Ein Beweis, dass die Bild auch ohne Reichelt auf die Pauke haut. Boie sagt, sie hätten erst alle relevanten Zahlen gecheckt, die Hospitalisierung, Inzidenz, mit Wissenschaftlern gesprochen. Und dann in knallgelben Buchstaben gefordert.

Während Boie an diesem Abend die Leipziger Straße entlang läuft, geht “die Eins” in Druckfassung. “Kiew vor der schlimmsten Schlacht! – Massen-MÖRDER Putin” wird am nächsten Tag zu lesen sein. Fast alle Titelseiten checkt Boie persönlich. Politisch ist die Bild-Zeitung gerade auf der Höhe. Schon vor Kriegsausbruch skizzierte die Zeitung Putins Einmarschpläne in die Ukraine. Ein Triumph für Boie. Und nicht unwichtig, wo die Zahl der Abonnements und Einzelverkäufe im letzten Quartal des Vorjahrs zum ersten Mal seit 1953 unter die Millionenmarke fiel.

Trotzdem flog ihm sein Blatt gleich mal richtig um die Ohren. 94 Beschwerden landeten beim Presserat für eine einzige Titelseite, die unter seiner Leitung entstand. Unter der Überschrift “Die Lockdown-Macher” druckte die Bild im Dezember 2021 die Fotos dreier Wissenschaftler, die man für die harten Corona-Maßnahmen verantwortlich machte. Die Empörung war riesig. Boie veranstaltete eine Diskussion gemeinsam mit Wissenschaftlern, beschwor, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen Presse und Wissenschaft sei. Auch diese Art der Diplomatie ist neu: glätten statt aufpeitschen.

Boie wünsche sich, dass man wieder mehr lache, wenn man seine Zeitung aufschlägt, sagt er jetzt. Vor einem Fußgängertunnel bleibt er stehen, lässt den Vortritt und sagt: “Bild gehört ins Freibad mit einer Packung Pommes mit Ketchup daneben. Nicht nur, aber auch. Ich hoffe aber, dass auch beim Bundeskanzler auf dem Schreibtisch die Bild liegt.”

Das klingt nach Wir-Gefühl, nach Volkszeitung, nach guten, alten Diekmann-Zeiten. In dieses Gute-Laune-Programm passen Beiträge wie “Britney Spears nackt auf Love Island” oder die Präsentation des erotischen Karpfenkalender 2022. “Kitt”, sagt Boie. Die Bild als “Kitt”. Und dann sagt er etwas, worauf er an diesem Abend immer wieder zurückkommt: “Ich denke, wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten.” Immerhin sei die Bild die mächtigste Institution in der Medienbranche und dass es eine Menge zu kitten gäbe, steht außer Frage. Ob das mit Karpfen oder einer von ihm gestarteten Artikel-Serie wie “Deutschland zusammenhalten” gelingt, ist eine andere.

Ist Axel-Springer also jetzt die letzte Bastion gegen die linke Medienblase?

Themenwechsel, an der Gedenk-Säule für Peter Fechter. Was macht ihn wütend? Boie schweigt, analysiert. Gefährliche Frage für einen Boulevard-Journalisten. Noch gefährlicher als Nachfolger eines für seine Schreianfälle berühmten Julian Reichelts. “Mich persönlich?” Ja. “Also, gut, so ‘Das regt mich jetzt auf’, ‘so kann das nicht weitergehen’, das bin schon auch ich. Aber”, sagt er. “Das ist eine professionelle Wut.”

Professionell wütet er dann über die abgeschalteten Atomkraftwerke, die naiven Journalisten, die Putin unterschätzten, bis wir am Axel-Springer-Gebäude angelangt sind. Zwei Kollegen rufen in der Eingangshalle “Tschö, Tschö” entgegen. “Tschüss, Tschüss”, grüßt Boie zurück, dann steigt er in den Aufzug und schimpft, dass deutsche Flugzeuge nicht fliegen können, über Manuela Schwesig, die Umweltstiftung, die Bundeswehr.

Im Büro deutet er auf einen bestimmten Stuhl am langen Konferenztisch, bittet sich zu setzen. Er lässt sich selbst fallen, blickt auf den Bildschirm gegenüber, auf dem Kriegsreporter Paul Ronzheimer mit Helm in einem U-Bahn-Schacht in Kiew zu sehen ist. Auf YouTube brach Bild damit letzte Woche alle bisherigen Rekorde.

Und natürlich auch der Journalismus treibt ihn zur professionellen Wut, der “echt eine seltsame Wendung genommen habe.” Mit Merkel sei man viel zu freundlich gewesen. Axel-Springer also die letzte Bastion gegen die linke Medienblase?

“Ich frag mich, wo stehen diese Kommentare sonst noch?”, fragt Boie, aber bremst da, wo Reichelt weitergerast wäre. Döpfners Vorwurf aus der privaten SMS, der Journalisten als “Propaganda-Assistenten” bezeichnete, hängt beschwerlich im Raum, Boie kühlt runter: “Ein paar findet man, mal hier und da. Aber kannst Du mir ein paar konservative Journalisten beim Öffentlich-Rechtlichen nennen?”

Es ist inzwischen halb acht, die Sekretärin klopft an die Tür, der nächste Termin. Der verstorbene Verlagsgründer Axel Springer gestand vor gut 55 Jahren, er leide wie ein Hund an der Bild-Zeitung. Letzte Frage also. Leidet Johannes Boie schon? “Gut, Privileg des Herausgebers”, antwortet er, ein Arm über der Lehne. Boie grinst, dann sagt er lauter als sonst, mit boulevardesker Begeisterung: “Ich feier die Bild.”

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