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Am Montag, 6.18 Uhr, war Wally so weit. Sie hat sich ganz vorne an die Auswilderungsnische am Knittelhorn gestellt, die mächtigen Schwingen ausgebreitet und sich in die Luft erhoben. Dann ist sie in einer weiten Rechtskurve beinahe waagrecht um die hundert Meter weit über den Steilhang hinweg gezogen. Die Landung des Bartgeierweibchens hat keiner mitbekommen. Sie dürfte aber nicht allzu ruppig gewesen sein. Denn gleich darauf ist sie auf einem Felsvorsprung gesichtet worden. Michael Knollseisen, 50, hat Wallys Jungfernflug beobachtet. Der Biologe und Bergbauer aus Kärnten hat alpenweit die größte Bartgeier-Erfahrung. Er war bereits an 21 Auswilderungen beteiligt und hat noch keinen Jungvogel verloren.
SZ: War es denn klar, dass Wally an diesem Montag zum Jungfernflug abhebt?
Michael Knollseisen: Es war zumindest erwartbar. Seit Bavaria am Donnerstag losgeflogen ist, hat Wally immer wieder Anstalten gemacht, dass sie springen möchte. Am Montag war sie 120 Tage alt, also genau in dem Alter, in dem junge Bartgeier erstmals fliegen. Sie war sichtlich nervös, hat erst etwas gefressen und ist immer wieder in der Nische auf und nieder gelaufen. Dann war sie an ziemlich genau der selben Stelle, an der Bavaria zu ihrem Jungfernflug abgehoben hat. Wally hat die Schwingen aufgemacht, ist vielleicht eineinhalb Meter hoch gesprungen und war auch schon in der Luft. Nach der Landung ist sie noch zweimal geflogen.
Sie hat sich also richtig gut angestellt.
Das waren schon gekonnte Flüge, Wally hat gleich einen relativ sicheren Eindruck gemacht. Viele junge Bartgeier sind anfangs wackelig unterwegs. Aber Wally hatte auch optimale Bedingungen, keinen Seitenwind und eine leichte Thermik. Und dann sind die Jungfernflüge in der Regel ja immer recht kurz, die gehen praktisch nie weiter als hundert Meter.
Sie haben jetzt den 21. Jungfernflug eines Bartgeiers erlebt. Was ist denn das Faszinierende daran?
Ich muss da immer an meine drei Kinder denken. Als die klein waren und ihre ersten Schritte gemacht haben, hat es immer noch ziemlich lange gedauert, bis sie einigermaßen sicher gehen konnten, ohne sich irgendwo festzuhalten. Jetzt ist Fliegen aber noch mal was ganz anderes, was sehr viel Komplizierteres als Gehen. Aber so ein junger Bartgeier hat das Fliegen in kürzester Zeit im Griff. Ich habe schon welche erlebt, die waren eine Woche nach ihrem Jungfernflug so sicher in der Luft, dass sie Steinadler vertrieben haben. Bartgeier sind unglaublich geniale Flieger.
In der Auswilderungsnische waren Wally und Bavaria ja ganz eng beieinander. Geht jetzt eine jede ihren eigenen Weg?
Bavaria wollte nach ihrem Jungfernflug immer wieder zu Wally in die Felsnische. Und Wally hat seit Donnerstag immer wieder nach Bavaria gerufen. Auch nach Wallys erstem Flug haben die beiden sofort Nähe zueinander gesucht. Vorhin ist Wally zu Bavaria hingeflogen und jetzt sitzen sie beieinander.
Wie lange bleibt das noch so?
Sicher noch einige Zeit. Die beiden verstehen sich ja nicht nur ausgezeichnet. Sondern haben zu zweit einige Vorteile. Wenn die eine Futter findet, kann die andere einfach dazu kommen und muss nicht selber danach suchen. Zu zweit können sich die Bartgeierweibchen auch leichter gegen einen Steinadler zur Wehr setzen.
Was wird denn in den nächsten Tagen besonders wichtig?
Dass die beiden Bartgeier möglichst wenig Kontakt zu Menschen haben und auch den Bezug zu uns Betreuern immer mehr verlieren. Wir haben immer versucht, uns möglichst unauffällig zu verhalten, damit der Kontakt nicht zu eng wird. Aber natürlich haben Wally und Bavaria mitbekommen, wenn einer von uns zur Felsnische hinaufgestiegen ist und ihnen Futter gebracht hat. Jetzt müssen wir alles tun, dass ihre Distanz zu den Menschen schnell möglichst groß wird. Vor allem wenn sie am Boden sind und beim Fressen muss man Abstand halten und jede Störung vermeiden.
Bisher haben sich Wally und Bavaria sehr gut gemacht. Was ist Ihre Prognose für die Zukunft?
Die beiden sind solide spanische Bartgeierweibchen. Ich kenne die Zuchtstation in Andalusien gut, aus der sie stammen. Mit den Bartgeiern von dort unten habe ich immer sehr gute Erfahrungen gemacht, sie haben sich immer prächtig entwickelt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das auch bei Wally und Bavaria so sein wird. Die beiden werden in den kommenden Wochen schon etwas Unruhe in die Berchtesgadener Bergwelt bringen.
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