Bau-Expertin Lamia Messari-Becker fordert ein Bauministerium – Kultur


Nach der Flutkatastrophe in Westdeutschland wurde Lamia Messari-Becker zu einem bekannten Gesicht der Medienlandschaft. In Sondersendungen und Talkshows war ihre Expertise zum Bauen der Zukunft, das sich dem Klimawandel anpassen muss, fast täglich gefragt. Die Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen, geboren 1973 in Larache, Marokko, plädiert allerdings schon lange nicht nur für ein nachhaltigeres und grüneres Bauen, sondern vor allem auch für eine grundsätzlich andere Baupolitik.

SZ: Sie fordern ein neues Bauministerium im Bund. Warum?

Lamia Messari-Becker: Die geplante und gebaute Umwelt ist der Lebensraum von 83 Millionen Menschen in diesem Land. Nichts vereint uns mehr als die Gemeinsamkeit von Wohn-, Arbeits- und Lebensräumen im Zentrum unseres Alltags. Dennoch werden Bauen, Wohnen, Stadt- und Raumentwicklung noch immer nicht als ganzheitliche politische Gestaltungs- und Handlungsfelder gesehen. Obwohl die Herausforderungen immer größer werden: Energieeffizienz, Klimaanpassung, Klimaschutz, Bezahlbarkeit, Altersgerechtigkeit, Digitalisierung, Mobilität, Wandel der Arbeitswelt, Kluft zwischen Stadt und Land – um mal die größten Themen zu nennen. Diese Aufgabe nicht zentral zu planen und zu steuern, diese Themen nicht ganzheitlich, sondern als Teilaspekte zu sehen, das ist fatal. Schon jetzt sehen wir: Das Versäumnis rächt sich auf vielen Ebenen.

Ist das jüngste Hochwasser in Westdeutschland, durch das die Bedingungen und Folgen des Bauens wieder öffentlichkeitswirksam diskutiert werden, ein Beispiel für das Versäumnis?

Die Hochwasserkatastrophe macht uns auf tragische Weise klar: Klimaanpassung, resiliente Infrastrukturen, Flächen- und Wassermanagement, vorbereitete Kommunen und Bewohner – all das kann Leben und Existenzen retten. Wir verfehlen aber fast alle baubezogenen politischen Ziele. Teils, weil sie fern jeglicher Lebensrealität der Menschen und Praxistauglichkeit definiert werden, oder weil sie schlicht nicht durch die richtigen Begleitmaßnahmen flankiert oder auch nicht vernetzt genug gedacht werden. Unser Bau- und Förderrecht behindert teils durch sachfremde Regelungen das Erreichen vieler Nachhaltigkeitsziele. Selbst Umweltschutzvorgaben sorgen am Ende für weniger Umweltschutz und stehen ungewollt einem gesellschaftlichen Mehrwert entgegen. Einige Fehlentwicklungen haben mit unkoordinierten Zuständigkeiten zu tun. Ein prominentes Beispiel ist der Flächenverbrauch. Flächennutzungen liegen in der kommunalen Verantwortung, während die Ziele der Flächenverbrauchsreduktion Bundessache sind. Ich bin eine Verfechterin der kommunalen Selbstverwaltung, aber sie muss mit anderen Zuständigkeiten koordiniert werden, siehe Katastrophenschutz. Es liegen gigantische Aufgaben vor uns und es ist höchste Zeit, Nachhaltigkeitspotenziale der gebauten Umwelt zu erkennen, zu heben und sie mit der Lebensrealität der Menschen zusammenzubringen.

Die Flutkatastrophe hat gewaltige Schäden hinterlassen, wie der Blick aus den Weinbergen hinunter auf das Ahrtal bei Dernau-Rech in Rheinland-Pfalz zeigt.

(Foto: imago images)

Wofür genau wäre ein Bundesbauministerium zuständig?

Es geht um originäre Aufgaben des Bundes. Dazu zählen: Wohnen, Stadtentwicklung, ökologisches Bauen, die Entwicklung des ländlichen Raums und Infrastruktur. Ein solches Ministerium muss die Ressourcen und Kapazitäten haben, um diesen Aufgaben gerecht zu werden, es muss bei vielen Querschnittsaufgaben und Nachhaltigkeitsfragen Gehör finden sowie wichtige Erneuerungsprozesse begleiten, und zwar sozialgerecht und nah an den Menschen.

Wie war das eigentlich früher geregelt?

Ein eigenständiges Bauministerium hatten wir in Deutschland von 1949 bis 1998. Lange standen zu Recht Wiederaufbau und sozialer Wohnungsbau im Mittelpunkt. Ab 1998 wurde das Bauen unterschiedlichen Ressorts zugewiesen, bis 2013 war es beim Verkehr angesiedelt, bis 2018 bei Umwelt- und Naturschutz …

… und aktuell ist es im Innenministerium organisiert, das man schnell noch als “Heimat”-Ministerium umetikettiert hat …

Jedenfalls führt das Bauen seit mehr als 22 Jahren ein Nomadenleben – die Folgen davon erleben wir jeden Tag in unseren Städten und Dörfern, wenig wurde vernetzt und gemeinsam gedacht, viel Stückwerk reiht sich aneinander. Das wird den Herausforderungen kaum gerecht. Es müssen eher Kompetenzen gebündelt und aufgebaut werden. Lebensraumplanung ist zu wichtig, um das als Marginalie alle vier Jahre herumzureichen. Das darf nicht wieder passieren.

Um welche Handlungsfelder geht es konkret? Und was sind dort die Fehlentwicklungen?

Beispiel Umwelt: Bauen steht für einen Drittel des CO₂-Ausstoßes und Energieverbrauchs, außerdem für mehr als die Hälfte des Ressourcenverbrauchs und Abfalls. Wir fördern einerseits die Energieeffizienz im Gebäudebetrieb, ignorieren aber andererseits die sogenannte graue Energie der eingebauten Materialien im Lebenszyklus. So verschieben wir nur den Ressourcenverbrauch und die Umweltschäden: vom Betrieb in die Herstellung der Gebäude. Wir müssen das Ganze sehen. Mehr ressourcenbewusstes, kreislauffähiges Bauen wäre nötig. Viele Ziele und Regeln sind nicht zu Ende gedacht.

Zum Beispiel?

Wir fördern selbstverständlich Gebäudedämmung für Heizwärmeeinsparung im Winter, die auch gegen Hitzeeintrag im Sommer wirkt, aber kein Grün an der Fassade für besseres Stadtklima und Kühlenergieeinsparung im Sommer. Wir fantasieren über Sanierungsraten von vier Prozent, freilich mit der Dämmung, wissen aber genau, dass die Kosten für große Teile der Bevölkerung nicht tragbar und kaum Baukapazitäten vorhanden sind.

Gäbe es andere Wege?

Ich trete seit Jahren für Quartiersansätze ein und brachte dies zuletzt auch beim Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen ein – übrigens gegen große Widerstände. Worum geht es? Anstatt sich auf Einzelgebäude zu konzentrieren, bieten Quartiere ein größeres Handlungsfeld an, auf dem man gemeinsame Projekte insgesamt ökologischer, ökonomischer und auch sozialer realisieren kann. So lassen sich auf der Quartiersebene serielle Sanierungen durchführen, erneuerbare Energien gewinnen, Mobilitätsangebote gebündelt nutzen und vieles mehr. Und Quartiere haben eine soziale Kraft. All das muss mit einem Instrumentenmix begleitet werden: gesetzlich, finanziell und organisatorisch. Quartiere können Keimzellen positiven Wandels hin zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Verträglichkeit sein. Das sollten wir nutzen. Wir sind zu sehr auf Einzelgebäude fokussiert und sehen vor lauter Gebäude nicht mehr das große Ganze: Quartiere als Lebensraum und Ressource.

Was hat Energieeffizienz mit sozialem Frieden zu tun?

Ökologisches Wohnen in Städten ist jetzt schon kaum bezahlbar. Wie oft erlebe ich Menschen, die sanieren wollen, aber nicht das Geld aufbringen können, weil der Gesetzgeber eher “Alles oder nichts”-Maßnahmen kennt und schon gar nicht ein anderes Tempo, nämlich das der betroffenen Menschen. Bei rund der Hälfte der Wohnungen haben die Mieter, die ja nicht Eigentümer sind, Sanierungen gar nicht in der Hand. Wir haben ganze Quartiere, wo sozialbenachteiligte Menschen mit hohen Energiekosten leben. Ohne entsprechende Maßnahmen laufen wir weiter in eine Energiearmut. Das ökologische Bauen und Wohnen wird so zum Eliteprojekt – nichts wäre fataler. Ein Blick auf die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich zeigt doch, was passiert, wenn wir das Energie- und Klimathema an den Menschen vorbei planen. Wandel gelingt nur gemeinsam.

Das gilt zunehmend auch auf dem Land, wo das Einfamilienhaus eher anzutreffen ist als der flächensparende Geschosswohnungsbau.

Wir müssen den Flächenverbrauch von derzeit rund 56 Hektar pro Tag auf fast die Hälfte reduzieren und sind hoffnungslos davon entfernt, auch nur in die Nähe dieser Zielmarke zu kommen. Viele neigen in dieser Situation dazu, Menschen mit Einfamilienhäusern ein schlechtes Gewissen zu machen, anstatt ein kluges Flächenmanagement im Baurecht oder flächeneffiziente Grundrisse zu etablieren, um nur zwei Instrumente nennen. Die Bebauungspläne, die sich oft anschicken, sogar die Dachziegelfarbe und Dachneigungen vorzuschreiben, erlauben oft auf innerstädtischen großen Grundstücken nur zwei Wohnungen, während Kommunen finanziell kaum in der Lage sind, brachliegende Flächen zu sanieren. Wer beim Flächenverbrauch die Schuld bei den Menschen auf dem Land sucht, ignoriert die wahren Gründe. Wir tun uns schwer, Städte angemessen und klimaverträglich zu verdichten oder wachsen zu lassen. Oft werden hochenergieeffiziente Gebäude auf der grünen Wiese gebaut. Aber ohne nahe Versorgung und ÖPNV setzen sich viele Menschen in Autos und fahren zum Arbeiten und Einkaufen in die Stadt. Somit verschieben wir erneut Ressourcenverbrauch und Umweltschäden: Dieses Mal vom Gebäude auf die Straße. Die Ansammlung nachhaltig geplanter und gebauter Gebäude macht noch kein nachhaltiges Quartier aus. Und so fördert der Gesetzgeber aktiv eine folgenreiche Zersiedelung. Und genau deshalb muss all das zentraler und vernetzter geplant werden, wir brauchen einen konkreten und ganzheitlichen “Masterplan Lebensraum 2050” – ohne den bleibt der nötige Wandel nur eine Ansammlung loser Ideen.

Was ja auch mit der Mobilität zusammenhängt.

Richtig. Die Mobilitätswende wird nur produktseitig interpretiert, aber nicht räumlich. Zum Beispiel mit dem diskutierten Verbot von Verbrennungsmotoren. Dabei ist die E-Infrastruktur noch völlig unzureichend ausgebaut. Für die Menschen muss es darum gehen, von A nach B zu kommen, schnell, bezahlbar, ökologisch und sicher. Dazu sind keine Verbote oder Verzicht, sondern ein Ermöglichen nötig. Mehr ÖPNV und die Stadt der kurzen Wege, also nutzungsgemischte kompakte Städte: Das wäre in diesem Sinn ein Angebot. Auf dem Land sind viele Menschen und kleine Betriebe auf ihr Auto angewiesen, ein digital vernetztes Mobilitätsangebot könnte helfen, setzt aber voraus, dass wir flächendeckend digitalisiert sind – das sind wir aber nicht – und dass alle digitalaffin sind – das sind nicht alle. Es gibt nicht “die” eine einfache Lösung, die für alle Menschen gut funktioniert. Aber alle Menschen haben ein Recht auf Mobilität.

Wenn Sie von einem Umdenken sprechen, betrifft das auch das Baurecht und die Baubürokratie?

Ja. Das Baurecht erschwert es zum Beispiel, einen Gewerbebau umzunutzen. Der Abriss dagegen, ökologisch oft fragwürdig, wird einem vergleichsweise leicht gemacht. Und absurd ist ja auch, dass noch immer Ausnahmegenehmigungen für das Bauen in Überschwemmungsgebieten erteilt werden. Gleichzeitig führen Auflagen dazu, dass ein Ersatzneubau weniger Nutzfläche generiert, wenn etwa das Baurecht wichtige Brandschutzauflagen zur Anzahl der Aufzüge und Treppenhäuser definiert, aber dann nicht in der Lage ist, ein halbes Geschoss mehr zuzulassen. Wir versiegeln also neu, haben aber nicht einmal die gleiche Nutzfläche, sondern weniger. Ein weiteres Beispiel: Wir sind nicht in der Lage, Bauakten zu digitalisieren. Stattdessen fahren mehrere Transporter zum Bauamt, um Planungsunterlagen abzugeben, die mit großem Aufwand gelagert werden.

In Deutschland sind die Planungsprozesse kompliziert, ob es um Windkraftanlagen, Solardächer oder Infrastruktur geht. Manchmal gleichen die Planungen Schildbürgerstreichen. Hat Deutschland als Land der Ingenieure das Bauen verlernt?

Da kommen mehrere hausgemachte Probleme zusammen. Einerseits haben Bauprojekte schon immer eine sozialpolitische Komponente. Das nimmt seit Jahren dramatisch zu, auch weil das Wohnen als die soziale Frage unserer Zeit nicht ernst genug genommen wurde. Jede große Bauinvestition im öffentlichen Sektor gerät sofort zum Politikum. Objektiv betrachtet sind andererseits unsere Regularien kompliziert, veraltet und zu zahlreich. Hier müssen wir ran. Holland macht es vor. Hier definiert man Ziele anstatt Regulierungen und überlässt es den Menschen zu entscheiden, wie sie bestimmte Qualitäten, ob Schallschutz oder Energieeffizienz, erreichen. Die Folgen: Innovation und Vielfalt der Baukultur. Auch deshalb stiegen die Wohnbaupreise in Holland seit 2007 um nur sieben Prozent, in Deutschland um fast 36 Prozent. Wir sollten die Baugesetze daher so reformieren, dass wir Qualitäten mit weniger Aufwand erreichen. Ein Beispiel ist Frankreich: Hier werden die Gewinner von Wettbewerben anschließend gemeinsam, also als Team, mit der Bauaufgabe beauftragt. In Deutschland bekommen nur Architekten den Auftrag, die Ingenieure sind erst einmal draußen und können sich um den Auftrag bewerben. Das ist absurd und behindert aktiv die integrale Zusammenarbeit, das gemeinsame Lernen und das Eintreten für ein Bauprojekt.

Angenommen, die nächste Regierung beschließt ein Bauministerium. Was hätte die neue Bauministerin vor allen anderen Dingen zu tun?

Wir brauchen dringend die Anpassung unserer Infrastruktur an den Klimawandel, Hand in Hand mit dem Klimaschutz. Und wir brauchen einen konkreten und ganzheitlichen “Masterplan Lebensraum 2050”, der Klima, Energie, Bezahlbarkeit, Mobilität, Digitalisierung, eine alternde Gesellschaft sowie den Wandel der Arbeitswelt berücksichtigt. Und zwar in den Städten und auf dem Land! Wir sollten unseren Kindern Dörfer und Städte hinterlassen, in denen es keine Zweiklassengesellschaft in Sachen Wohnraum gibt, in denen sie gerne leben und arbeiten, in denen sie sicher wohnen und in denen der ökologische Fußabdruck des Bauens und des Wohnens nicht auf Kosten der Umwelt geht. Konkret dafür anpacken müssen wir das Flächenmanagement, den Wohnungsbau, das Baurecht, die KfW-Förderung, die Städtebauförderung, die kommunalen Finanzen und die Digitalisierung. Um mal die Aufzählung zu beginnen. Es ist viel zu tun – und die Zeit drängt.

.



Source link