“Baldur’s Gate 3” im Praxis-Test: Besser geht es fast nicht

“Baldur’s Gate 3” ist ein monumentales Rollenspiel – laut der Entwickler sind mindestens 100 Stunden nötig, um das Spiel in Gänze zu erfassen. Wie unser Autor nach über 40 Stunden über das Spiel denkt.

Es ist unglaubliche 23 Jahre her. Pünktlich zum neuen Jahrtausend erblickte das heutige Kultspiel “Baldur’s Gate 2” das Licht der Welt. Es hat damasl neue Maßstäbe für gute Rollenspiele gesetzt. Umso schwerer wiegt das Erbe, welches das schwedische Entwicklerstudio Larian antrat, als es damit begann, nach mehr als zwei Jahrzehnten den dritten Teil zu erschaffen. Doch es war Larian zuzutrauen. Mit Top-Spielen wie “Divinity: Original Sin” und dessen Nachfolger hatten die Schweden erst wenige Jahre zuvor bewiesen, dass man Rollenspiele nicht nur verstanden, sondern regelrecht verinnerlich hatte. 

Seit Oktober 2020 ist “Baldur’s Gate 3” bereits “erhältlich”. Doch rund zweieinhalb Jahre mussten Fans der Reihe mit einer Vorab-Version (‘”Early Access”) vorlieb nehmen, die langsam und stetig wuchs, aber den Umfang des Spiels bis zum letzten Tag auf den ersten Akt beschränkte. Erst jetzt, genauer seit dem 3. August, ist das fertige Spiel erhältlich. Für Journalisten, die sich das Spiel vorab für einen Test anschauen wollten, gab es das Muster wenige Tage vorher. Viel zu wenig Zeit, um bereits zum Release verraten zu können, wie gut das Spiel ist.

Das ist in der Branche übrigens selten ein gutes Zeichen. Besonders schlechte Spiele erreichen die Tester oft erst kurz vor Markstart, damit man keine Zeit hat, vor dem Kauf zu warnen. Soviel sei verraten: “Baldur’s Gate 3” sollte man unbedingt in Betracht ziehen, wenn man das Genre mag. Ganz ohne kleinere Schwächen (und persönliche Probleme des Autors mit dem Spiel) kommt es aber nicht aus.

Zu Beginn erstmal Wurmfutter

Ganz am Anfang steht natürlich die Erstellung eines Charakters. Wer mag, kann aus zahlreichen Klassen, Rassen, Frisuren, Fähigkeiten, Unterklassen, Tattoos, Geschlechtsteilen und Hautfarben einen ganz eigenen Charakter schaffen.

Doch es gibt auch noch eine andere Möglichkeit: “Baldur’s Gate 3” bietet sieben “fertige” Spielfiguren, die jeweils eine eigene Hintergrundgeschichte haben, die sich mal mehr und mal weniger stark auf den Spielverlauf auswirkt. Eine solche Figur wurde auch im Test genutzt – die Barbarin Karlach, die zum Volk der Asmodeus-Tieflinge gehört. Ohne zu viel zu verraten: Karlach hat kein Herz mehr, sondern “läuft” mit einer lodernden Maschine im Brustkorb. Teil der Geschichte ist es also, dieses viel zu heiße Ding unter Kontrolle zu bringen.

"Baldur's Gate 3"

Zu Beginn des Spiel kann man entweder einen vorgefertigten Charakter mit eigener, meist tragischer Geschichte wählen, oder man erstellt sich eine eigene Spielfigur aus Tausenden Möglichkeiten.

© Larian

Ist ein Charakter gewählt, geht es auch sofort los mit der Aktion. Die erste halbe Stunde irrt man auf einer Art fleischigem Tintenfisch-Raumschiff umher und muss den ersten sicheren Tod der eigenen Figur abwenden. Erst dann öffnet sich das Spiel an einem idyllischen Strand und lädt zum Erkunden ein. An Bord des Schiffes gibt es auch den ersten Hinweis, wohin die Geschichte später gehen könnte – man geht als nicht ohne relativ klares Ziel von Bord. Dass sich das in den nächsten 30 bis 40 Stunden noch mehrmals ändern wird, ahnt man zu dem Zeitpunkt nicht.

Das liegt auch daran, dass man ab der unsanften Landung am Strand das eigene Schicksal in die Hand nimmt. Wie es sich für ein Rollenspiel gehört, entscheidet man in nahezu jedem Dialog selbst, was als nächstes passiert. Es ist natürlich möglich, gegen alles und jeden in den Kampf zu ziehen, es ist aber auch absolut im Sinne der Entwickler, sich vor 90 Prozent aller Auseinandersetzungen zu drücken und lieber den Dialog zu suchen – und alles dazwischen. 

Früh wird klar, dass man dieses Spiel eigentlich nicht nur einmal spielen kann. Dafür gibt es zu viele Möglichkeiten, zu viele Charaktere und viel zu viele Handlungsstränge. Da sich einige Entscheidungen schon recht früh ganz extrem auf den Rest des Spiels auswirken, ist der Wiederspielwert enorm hoch. Was genau das ist, soll an dieser Stelle nicht verraten werden – Spoiler wären in dieser Geschichte einfach gemein.

Vier Gefährten sollt ihr sein – mehr wären aber besser

Das Spiel muss man nicht alleine überstehen. Die Truppe der Abenteurer besteht aus bis zu vier Charakteren, die man sehr früh auflesen und behalten kann. Da es sich bei nahezu jedem Begleiter um sehr interessante Persönlichkeiten handelt, ist es ausgesprochen schade, dass man zwar alle im Lager parken kann, aber nur mit vier Figuren gleichzeitig um die Häuser ziehen kann. Es sei denn, man installiert eine entsprechende Modifikation.

Jedes Gruppenmitglied bringt eine eigene Geschichte mit, die wiederum mit Aufgaben verknüpft ist. Außerdem kann man stets mit den Begleitern plaudern und, wenn die Sympathie stimmt, auch gerne mehr. Das Gruppenlimit ist deshalb so schade, weil sich die Mitstreiter gerne in Gespräche mit anderen Figuren einschalten, was oft zu mehr Informationen und einer größeren Dynamik der Situation führt. Man möchte eigentlich immer alle dabei haben – und gar nicht erst wählen müssen.

Als Rollenspiel bedient sich “Baldur’s Gate 3” an klassischen Elementen. Spieler:innen schauen meist von oben auf die Gruppe, Gefechte laufen rundenbasiert ab. Das muss man mögen, da jede noch so kleine Begegnung mit Kontrahenten im Kampfmodus endet und man sich die Zeit nehmen muss. Das gilt für epische Schlachten und für aggressive Kanalratten gleichermaßen – es kann also aufhalten.

Baldur's Gate 3

Die Oberfläche von “Baldur’s Gate 3” ist wunderbar aufgeräumt. Kommen zu viele Aktionen und Zaubersprüche in die Aktionsleiste, muss man ab und an etwas aufräumen.

© Larian

Die Kämpfe bestehen aus einem abwechslungsreichen Schlagabtausch, bei dem die verschiedenen Klassen der Charaktere bestens zur Geltung kommen. Die stetig wachsende Zahl an Fähigkeiten und Zaubersprüchen kann erschlagend wirken, lädt aber zu hoher Kreativität und Abwechslung ein. Selbstverständlich findet man irgendwann seine Lieblinge, aber dadurch, dass man für jeden Schritt viel Zeit hat, ist es einfacher, zu variieren.

Eine Hassliebe mit 20 Seiten

Mindestens ebenso gewöhnungsbedürftig ist das ständige Würfeln. “Baldur’s Gate 3” versteht sich als waschechtes Dungeons-&-Dragons-Videospiel, das nicht ohne den zwanzigseitigen Spielwürfel auskommt, den man von den klassischen Pen-&-Paper-Rollenspielen kennt. Das bedeutet, dass man für jedes Schloss und sehr viele wichtige Dialoge wortwörtlich auswürfeln muss, ob das Vorhaben gelingt oder alles in die Hose geht. Dabei gibt es einfache Würfe, bei denen etwa nur eine 4 erreicht werden muss, aber auch nahezu unmögliche Situationen, die nur mit der höchsten Zahl zu lösen sind. Sofern man sich dem Schicksal ergibt und akzeptiert, was der Würfel vorgibt, kann sich der Spielverlauf in nur wenigen Sekunden drehen. Will man das nicht, muss man vor jedem Versuch abspeichern und den Spielstand bei gescheiterten Versuchen wieder und wieder laden, um es erneut zu versuchen. Das kann aber extrem nerven, wenn man für das Öffnen einer Truhe minutenlang nur auf Schnellladen drückt. Abschalten wäre praktischer, wenn man ohnehin darauf pfeift, was der Würfel sagt.

Das alles macht aber noch kein episches Rollenspiel aus – es sind lediglich Grundzutaten. Was “Baldur’s Gate 3” so besonders macht, ist die Liebe zum Detail. Die Entwickler haben sich viel Mühe gegeben, die Welt maximal unterhaltsam zu gestalten und an jeder Ecke eine Überraschung zu platzieren. 

Überall lauern neue Abenteuer, ein einfacher Laufweg von A nach B kann Stunden dauern, weil unterwegs zu viele Nebenschauplätze zu entdecken sind und Spieler:innen sich darin schnell verlieren können. Auch nach mehr als 40 Stunden im Test will das Tagebuch, in dem die Aufgaben notiert sind, einfach nicht leerer werden. Hinter jeder Ecke, in jedem Haus, in jedem Kanalrohr wartet irgendwas, das um die Aufmerksamkeit der Gruppe buhlt.

Dabei kann man zwar stets die jeweiligen Hauptaufgaben im Blick haben, aber spätestens in der großen Stadt kümmert man sich um alles, nur nicht ums Weiterkommen. Das kann durchaus überfordern, weil es einfach nicht weniger wird und man ja nicht immer verneinen will, wenn irgendwer um Hilfe bittet. Und wenn es nur der Hund ist, der darum bittet, dass man seinen Ball durchs Lager pfeffert, damit er ihn holen kann.

Besonders die gleichnamige Stadt in “Baldur’s Gate 3” ist gigantisch und hübsch anzuschauen. Fast jedes Gebäude lässt sich durchsuchen – und eine Kanalisation gibt es auch.

© Larian

Um das Eintauchen in die Welt zu erleichtern, hat Larian alle Dialoge vertont. Zwar gibt es das Spiel nur mit englischer Sprachausgabe und deutschen Untertiteln, aber bei der unendlichen Masse an Gesprächen und Texten kann man es dem vergleichsweise kleinen Studio nicht verübeln. Larian spricht von 174 Stunden reinen Zwischensequenzen. 

Und die lohnen sich: Das Spiel ist, obwohl es einen recht ernsten Hintergrund hat, geladen mit Humor und kleinen Späßen. Mal fiebert man mit dem Schicksal einer liebgewonnenen Figur mit, kurz danach steht man vor einer Scheune, in der es ordentlich rummst und man nach Öffnen der Tore wünscht, man hätte es ignoriert. Die Welt lebt und lädt ein, dort eine Menge Zeit zu verbringen.

Kleinere Bugs schwirren noch im Code

Technisch ist das Spiel relativ ausgereift, doch etwas Feinschliff muss wohl noch sein. Die Kameraführung macht manchmal äußerst seltsame Sachen und zeigt beispielsweise das Innere eines Baums, statt die Figuren im Kampf, und es gibt Gegenden, die im Test leider immer wieder zu Abstürzen führten – ausgelöst durch den Klick auf bestimmte Knöpfe und Hebel. Selten ist mal einer von Tausend Dialogen noch nicht final übersetzt, sogar Platzhalter für Texte sind noch zu finden. Wie gesagt: Bei diesem Umfang ist das kein Wunder. Immerhin gab es keinerlei spielentscheidende Fehler, die unwiederbringlichen Schaden anrichteten. Alles lässt sich mit dem Laden eines älteren Spielstands beheben – und meist ist der nicht älter als zehn Minuten.

Wer mag, kann “Baldur’s Gate 3” auch zusammen mit Freund:innen spielen. Das bringt nochmal ein ganz anderes Gefühl ins Spiel, wenn statt drei computergesteuerter Gefährten, bekannte Menschen die Mitstreiter:innen sind.

Positiv: Larian hat auf neuzeitliche Undinge wie einen Echtgeld-Marktplatz oder andere störende Elemente verzichtet. Das Spiel kommt, wie es früher immer der Fall war, als vollständiges und fertiges Produkt zum Kunden – ohne Haken und Fallstricke.

Fazit: “Baldur’s Gate 3” ist der unerwünschte Benchmark

Zurecht haben sich Entwickler anderer Spiele schnell beklagt, dass man sie fortan wohl an “Baldur’s Gate 3” messen wird – und das eine unfaire Sache sei. Warum? Weil Larian Zeit hatte, das Spiel zu erschaffen. Man merkt dem Produkt an, dass es mit viel Liebe und wenig Exceltabellen-Jongleuren so lange reifen durfte, bis man mit dem Ergebnis zufrieden war. Es hätte wohl sogar noch länger dauern dürfen, denn ein derart episches Spiel im August auf den Markt zu bringen, ist ein Unding. “Baldur’s Gate 3” gehört in viele dunkle Winternächte, die man ohnehin bei einem guten Glas Whisky am Rechner verbringt. 

Spielerisch ist “Baldur’s Gate 3” ein Rollenspiel der absoluten Extraklasse, dass sich nahtlos an die gewaltige Qualität der anderen Larian-Titel anschließt. Es hätte gerne Optionen geben dürfen, um den nervigen D20-Würfel aus dem Spiel zu nehmen und manchmal stören Zufallskämpfe, für die man sich, obwohl man ein anderes Ziel hatte, nunmal die Zeit nehmen muss. 

Das alles ist aber zu verschmerzen, wenn man dafür eine wunderbar erzählte Geschichte, starke Charaktere und eine sehr hohe Wiederspielbarkeit erhält, die “Baldur’s Gate 3” auch in einigen Jahren noch interessant machen. Selbst wenn Larian nur noch Fehlerchen behebt und das Spiel ansonsten unangetastet lässt, ist hier ein neues “Skyrim” geboren. Ein tonangebender Benchmark für ein ganzes Genre, an dem sich künftige Spiele messen lassen müssen – Fairness hin oder her.

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