Autorin Elina Penner: “Diese Obsession der Deutschen mit ‘gebürtig'”

“Nachtbeeren” erzählt die Geschichte einer russlanddeutschen Mennonitin. Autorin Elina Penner verarbeitet darin auch Autobiographisches. “Ich hatte einfach keine Lust mehr, das alles zu erklären”, sagt sie im Interview mit dem stern

Elina Penner erzählt in ihrem Debütroman von Zugehörigkeit, Trauer und Verlust und von einer jungen Frau, die versucht, sich und ihren Platz zu finden. Sie erzählt die Geschichte ihrer Protagonisten Nelli Neufeld mit viel Witz und dunklem Humor. “Nachtbeeren” heißt das Buch, das am 14. März erscheint. Es spielt in einer Familie von russlanddeutschen Mennoniten und enthält auch persönliche Erfahrungen. Elina Penner kam 1987 als mennonitische Deutsche in der ehemaligen Sowjetunion in der Nähe von Orenburg zur Welt. Plautdietsch ist ihre Muttersprache. 1991 siedelte ihre Familie nach Deutschland um. 

Deutschsprachige Mennoniten hatten sich seit dem späten 18. Jahrhundert in Russland angesiedelt auf Einladung von Zarin Katharina II., die freie Glaubensausübung und eine Freistellung vom Wehrdienst versprach. Doch es folgten noch sehr düstere Kapitel für die Mennoniten: Zwangsarbeit in der frühen Sowjetunion, Deportationen und Hinrichtungen unter Stalin. Traumata spielen auch in Elina Penners Roman eine Rolle. 

Im stern-Interview spricht die Autorin darüber, wie viel Autobiographisches in ihrem Debüt steckt, über die Obsession der Deutschen mit dem Wort “gebürtig” und diese gewisse Zuversicht, die sie in sich trägt. 

Frau Penner, die Protagonistin Ihres Romans Nelli Neufeld fragt sich an einer Stelle: “Ich war schon immer Mennonitin, aber was bedeutete das schon? Plautdietsch sprechen und Tweeback essen.” Was bedeutet es für Sie, Mennonitin zu sein?
Elina Penner: Als Kind hat es auf jeden Fall bedeutet, dass bei dem Zeugnisvermerk Religionszugehörigkeit etwas anderes als ‘evangelisch’ oder ‘katholisch’ stand – nämlich ev06. Das ist die früheste Erinnerung. Es hat bedeutet, dass ich meine Großmütter mit Kopftuch kenne. Dass Frauen und Männer getrennt sitzen in der Kirche, dass die Röcke der Frauen das Knie bedecken. Und dass sie Ohrlöcher nicht so gut finden. Es bedeutet auch, dass ich nicht getauft wurde und ich eine Taufe mit einer bewussten Entscheidung assoziiere. Inzwischen, mit 35 Jahren, nachdem ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe, bedeutet es für mich als Mutter vor allem, dass meine Kinder nicht getauft werden. Das war mir wichtig. Das ist ja eine der Säulen dieses Glaubens, dass man frühestens mit 15 Jahren getauft werden kann. Und Mennonitin zu sein geht Hand in Hand mit der Sprache. Nicht jeder, der Plautdietsch kann, ist ein gläubiger Mennonit. Aber fast jeder gläubige Mennonit kann Plautdietsch. Für mich persönlich ist Mennonitin zu sein eher eine gewisse kulturelle Zugehörigkeit. Es gibt die Diskussion, ob Mennoniten eine eigene Volksgruppe sind. 

“Nachtbeeren” spielt in einer mennonitischen Gemeinde in Deutschland. Wie viel Recherchearbeit steckt in dem Buch und wie sehr konnten Sie beim Schreiben aus persönlichen Erfahrungen schöpfen?
Ich glaube, auch der letzte Mennonit meiner Generation ist im Internet angekommen. Man kann Predigten aus Kanada, aus Belize oder aus Detmold hören oder gucken. Ich habe mich zwei Tage lang in der Bibliothek des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte eingeschlossen und habe klassisch recherchiert. Der Großteil der Recherche wurde aber rausgestrichen. Ich habe eher nach Inspiration für Geschichten gesucht. Als Kind war ich eine Zeit lang in der Sonntagsschule. Ich erinnere mich schon an diese Abläufe und ich habe auch meine Oma in die Kirche begleitet. Ein gewisser Erfahrungsschatz ist also da. Streng religiöse Menschen gibt es in meinem Umfeld aber wenige. Auch die Unterdrückung der Frau, die teils kritisiert wird, habe ich so noch nicht erlebt. Wenn Familien sechs Kinder haben, wird es natürlich schwierig für beide Eltern zu arbeiten, aber grundsätzlich haben auch die Frauen alle einen Beruf. Ich würde sogar sagen: ganz im Gegenteil. Viele russlanddeutsche Mennoniten meiner Generation hatten das Ziel, dass ihre Kinder möglichst erfolgreich werden. Egal ob Mädchen oder Junge. Christliche Privatschule, 1,0er-Abi, vier Instrumente, im Chor singen.

Haben Sie das Buch geschrieben, um einen Einblick zu geben in das Leben von russlanddeutschen Mennoniten in Deutschland?
100 Prozent. Ich hatte mit der Agentur über mehrere Ideen gesprochen und dann war schnell klar, dass ich über die Community schreiben würde. Und ich wurde darin bereits bestätigt. Kolleg:innen, die das Buch gelesen haben, sagten, sie hatten ja keine Ahnung. Dabei sind zehn Prozent der Russlanddeutschen hier Mennoniten. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich hatte einfach keine Lust mehr, das alles zu erklären. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Es ist eine Liebeserklärung an meine eigenen Leute.

Was war damals ausschlaggebend, dass ihre Eltern 1991 nach Deutschland kamen?
Meine Familie begann die Umsiedlung aktiv Ende der 1980er vorzubereiten, durch Glasnost beziehungsweise Perestroika wurde das möglich, war also generell unabhängig vom Zusammenbruch der Sowjetunion. Beispielsweise waren meine Eltern 1990 zu Besuch in der BRD, “um zu gucken” und Verwandte zu besuchen, die hier schon lebten. Es gab zudem eine kleine Welle in den 50ern und eine Ende der 70er. Doch Ende 1980 gab es keinen Grund mehr zu bleiben. Alle gingen. Ganze Dörfer siedelten nach Deutschland um und bis 1993 waren eigentlich alle weg. Ab 1992 wurden die Gesetze für Spätaussiedler nochmals vereinfacht. Meine Eltern sagten immer: “Wir werden nicht bleiben, wenn es losgeht, gehen wir auch los.” Und es gab ja wirklich kaum Unterschiede: Die russlanddeutschen Mennoniten sprachen zwar zu Hause Plautdietsch, in der Kirche wurde aber auch auf Hochdeutsch gepredigt und in der Schule wurde Hochdeutsch als Muttersprache ab der 2. Klasse unterrichtet. Wir kannten also die Sprache. Wir hatten deutsche Namen wie Penner, Braun und Epp. Viele waren wie ich blond und blauäugig. Das fiel erstmal nicht auf, dass wir woanders aufgewachsen waren.

Erinnern Sie sich daran, dass dann womöglich doch manches anders war?
Das Fernsehen. Ich erinnere mich in meiner Kindheit daran, wie wir “Dallas” und “Gute Zeiten schlechte Zeiten” geschaut haben als Familie und gar nicht glauben konnten, was wir da alles sehen. Und wir werden in dem Dorf immer als die Zugezogenen gelten. Auch wenn du schon 1960 aus dem Ruhrgebiet dorthin gezogen bist und in der Feuerwehr aktiv bist, so richtig dazugehören wirst du nie.

Sie haben später eine Zeit lang in den USA gelebt, wo viele Mennoniten leben und Religion und Glaubensgemeinschaften eine größere Rolle spielen als in Deutschland. Haben Sie dort die Nähe zu Mennoniten gesucht?
Nein. Aber es hatte den Effekt, dass ich ins Ausland gehen musste, um mich deutsch zu fühlen.

Was bedeutet es für Sie, sich deutsch zu fühlen?
Es ist schwierig, es über etwas wie Pünktlichkeit und Fleiß zu definieren. Das sind Klischees, die die Menschen hier gerne vor sich her tragen. Und es ist etwas, das für Mennoniten genauso gilt. Wir sind ja Deutsche. Deshalb ist es schwierig, das mit Eigenschaften oder der Sprache zu definieren. Es geht mir eher darum, dass ich ganz selbstverständlich sagen kann, ich bin Deutsche und niemand Nachfragen stellt. In den USA musste ich niemandem erklären, was Mennoniten sind. Und auch Plaudietsch nicht. Plautdietsch, also Mennonite Low German, ist dort einfach ein Begriff. Was Konfessionen angeht, sind die Amerikaner viel präziser. Und wenn ich gesagt habe, ich sei Deutsche, hat niemand weiter nachgefragt: “Und wo kommst du gebürtig her?” Was natürlich auch an meinem White Privilege liegt.

Das reflektiert auch Nelli im Roman. Sie muss sich Sätze anhören wie: “Sie haben so schöne große Augen, da ist doch auch etwas Slawisches in Ihrem Gesicht, diese Wangenknochen. Nein wirklich. Kommen Sie denn von hier? Gebürtig?” Steckt da auch Autobiographisches drin?
Ja, absolut. Diese Obsession in Deutschland mit “gebürtig”. Wie oft ich diese Frage schon gehört habe. Seit den 2000ern zieht es viele Russlanddeutsche nach Kanada, Latein- und Südamerika. Dieses Weiterziehen, suchen, ob es noch etwas Besseres gibt, das ist uns auch in die Wiege gelegt.

Spielen Sie auch mit diesem Gedanken?
Nein, wir fühlen uns sehr wohl hier. Mein Mann und ich leben mit unseren Kindern in Ostwestfalen. Wir würden unser Leben hier gerade nicht aufgeben wollen.

Sprechen Sie mit Ihren Kindern Plautdietsch?
Ich würde gerne mit Inbrunst sagen können: ja, natürlich! Aber das kann ich nicht. Ich bin da leider etwas faul geworden. Aber jetzt, im Zuge des Buches, spreche ich wieder häufiger Plautdietsch mit ihnen. Meine Eltern sind da sehr hinterher. Während andere Verwandte aus Höflichkeit Hochdeutsch reden mit den Kindern, sprechen meine Eltern ausschließlich Plautdietsch mit ihnen. Und auch mit meinem Mann. Er ist ein Hiesiger, so nenne ich auch im Buch Biodeutsche. Er hatte gar keine andere Wahl, als irgendwann Plautdietsch zu lernen.  

Sie sind in Zeiten des Umbruchs aufgewachsen. Die Generation Ihrer Eltern ist in der Sowjetunion aufgewachsen. Wie groß ist die Verbindung zu Russland heute?
Gerade bei meiner Elterngeneration ist russisches Fernsehen sehr beliebt. Sie lieben die Shows und das Drama. Ich vergleiche das gerne mit den spanischen Telenovelas oder dem ARD-Nachmittagsprogramm, “Rote Rosen” und “Sturm der Liebe” und so was. Vielleicht lieben Mennoniten einfach das Drama? Und das kann russisches Fernsehen sehr gut.

Merken Sie einen Unterschied in Ihrem Umfeld zwischen Hiesigen und Russlanddeutschen, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht?
Nein. Ich kenne wirklich niemanden persönlich, der für diesen Krieg ist. Es ist schrecklich, was in der Ukraine gerade passiert. Bei den Mennoniten kommt hinzu, dass sie im ganz strengen Sinne auch Pazifisten sind. Und auch wenn viele von meinen Leuten russisches Fernsehen schauen, ist persönlich doch kaum eine Verbindung zu Russland da. Es sind ja alle weggegangen. Wenn überhaupt, dann gibt es Erinnerungen an die Sowjetunion, aber das heutige Russland ist mir und meiner Familie fremd oder auch nicht viel näher, als andere Länder, die wir mal bereist haben. Interessant finde ich eher, wie Menschen mich jetzt auf diesen Krieg ansprechen.

Was sagen sie? 
Ich habe Nachrichten bekommen von vielen Freund:innen, dass sie an mich und meine Familie denken würden. Da schreibe ich dann zurück: Das ist schön, aber warum? Sie denken, dass da eine Verbindung zu Russland und diesem Krieg da sei, aber wir haben dazu das gleiche Verhältnis wie Hiesige. Andere haben mich auch schon aufgefordert, dass ich mich öffentlich distanzieren müsse von diesem Krieg. Da frage ich mich dann schon, warum ich da eine größere Verantwortung haben sollte als andere. So müssen sich muslimische Menschen in Deutschland nach jedem Terrorangriff irgendwo auf der Welt fühlen.

Um nochmals auf das Buch zurückkommen: Nelli, die Protagonistin, hat mit Traumata zu kämpfen. Ihre Ehe ist zerrüttet, sie leidet unter einer Essstörung, sucht Halt. Warum haben Sie sich für diese Geschichte entschieden in einem Buch, das einem breiten Publikum endlich die russlanddeutschen Mennoniten näherbringen soll?
Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich das Buch wahrgenommen wird. Ich habe jetzt schon von mehreren Hiesigen gehört, sie fänden das Buch traurig, tragisch oder makaber. Menschen mit Migrationshintergrund hingegen sagen mir, sie hätten sich totgelacht. Genau so hätten sie es auch erlebt. Ich glaube, diese Menschen haben schon so viel Tragisches erlebt, dass das einfach zu ihrem Leben dazugehört. Und sie sehen dann viel eher den Humor und die Liebe, die in diesen Roman steckt. Ich habe das auch persönlich in der Pandemie erlebt.

Inwiefern?
Als der erste Lockdown kam und es für meinen Mann und mich finanziell echt prekär wurde, habe ich zu ihm gesagt: Was soll denn schlimmstenfalls passieren? Wenn wir das Haus verkaufen müssen, ziehen wir eben wieder bei meinen Eltern ein. Von irgendetwas werden wir schon leben können. Ich war schon ganz unten. In den letzten Jahren der Sowjetunion waren die Regale ziemlich leer. Wir haben dort mit Mangel gelebt. Während in Westdeutschland diese Nachkriegszeit in den 50ern mit einem Wirtschaftswunder endete, haben wir bis in die 90er hinein Nachkriegszeit “gespielt”. Jeder hatte eine eigene Kuh zu Hause und war Selbstversorger. Wir waren die einzigen im Dorf mit einer Toilette im Haus. Dann die Ankunft in Deutschland, das Leben in einem Lager. Das alles erlebt zu haben, gibt einem auch eine gewisse Zuversicht.

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