45 Days – Regisseur spricht über die Schrecken des modernen Drohnenkrieges

Emile Ghessen kämpfte als Elite-Soldat im Irak und in Afghanistan. Sein neuer Film zeigt den blutigen Krieg um Berg-Karabach, den ersten Drohnenkrieg der Geschichte. Nun ist die Indie-Produktion ein Kandidat im Rennen um den Oscar.

Vor mehr als einem Jahr, am 27. September 2020, brach der zweite Krieg um Berg-Karabach aus. Die Welt war damals mit Covid und anderen Krisen beschäftigt. Als die Kämpfe nach 44 Tagen durch ein von Russland vermitteltes Waffenstillstandsabkommen beendet wurden, wurde der Krieg zu den Akten gelegt. Der Dokumentarfilmer und ehemalige Royal Marines Commando, Emile Ghessen, reiste mit der Kamera in die Region. Daraus entstand der Dokumentarfilm “45 Days: The Fight for a Nation” – eine unabhängige Produktion, die von keinem Sender finanziert wurde. Nun ist der Film ein Kandidat für den Dokumentarfilm-Oscar.

Emile, wir kennen uns schon eine lange Zeit. Du hast Filme über Freiwillige gedreht, die gegen den IS gekämpft haben oder Männer aus dem Westen die in der Ostukraine für Kiew kämpfen wollten. Und nun warst du sehr spontan in Armenien oder genauer gesagt in der Region Berg-Karabach. Was unterschied diesen Krieg?

Ja, ich habe über den Krieg in Syrien und im Irak gegen ISIS und den Krieg in der Ukraine berichtet. Dieser Krieg war ganz anders, vor allem weil zwei konventionelle Länder gegeneinander kämpften, Armenien und Aserbaidschan, und zwar um die Region Berg-Karabach, die von den Armeniern “Artsakh” genannt wird.

Die Älteren erinnern sich vielleicht, dass es in den 90er-Jahren einen Krieg um dieses umstrittene Gebiet gab. Was passierte 2020?

Genau, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Diesen Krieg gewann damals Armenien, doch der Status der Region wurde nie offiziell festgelegt. Am 27. September 2020 begann Aserbaidschan mithilfe des NATO-Mitglieds Türkei mit der Bombardierung von Berg-Karabach und startete einen Angriff auf die Region. Sehr schnell verhängte Armenien das Kriegsrecht und Männer im Alter von 18 bis 50 Jahren wurden mobilisiert. Natürlich hat Armenien eine reguläre Armee, aber sie ist eher klein, sodass sich viele freiwillige Soldaten ohne offizielle militärische Ausbildung meldeten, um zu den Waffen zu greifen.

Die Kämpfer, die du vorher gezeigt hast, waren echte Berufssoldaten – War-Heads. Ein Scharfschütze bekannte, er kämpfe gegen den IS, weil Menschen töten eben das sei, was er am besten könne. Doch nach Berg-Karabach strömten Freiwillige – eigentlich Zivilisten.

Die Bevölkerung Armeniens beträgt zwischen zwei und drei Millionen, doch nach dem Völkermord an den Armeniern 1915 durch die Osmanen und während der Sowjetära flohen Millionen von Armeniern aus ihrem Land, sodass insgesamt rund zehn Millionen Armenier in der Welt leben, die als Diaspora bekannt sind. Die größte Konzentration von Armeniern, die nicht in Armenien leben, befindet sich heute in den USA und Russland. Auch diese Menschen, die in zweiter oder dritter Generation außerhalb von Armenien geboren wurden, identifizieren sich als Armenier. Als der Krieg begann, gab es also einen Aufschrei in dieser Diaspora auf der ganzen Welt. Eine Handvoll Männer reiste nach Armenien, um zu den Waffen zu greifen und das Heimatland zu schützen. Doch die armenische Regierung erlaubte niemandem, der keinen armenischen Pass hatte, an die Front zu gehen.

Warum taten sie das? Aserbaidschan hat offen Kämpfer etwa aus Syrien eingesetzt.

Die Regierung wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie Söldner aus dem Ausland anheuert. Ja, es gab eine Handvoll Männer, die an die Front gingen, um zu kämpfen. Aber sie gelangten nicht auf dem offiziellen Weg dorthin, sondern über persönliche Verbindungen.  

Die Armenier wurden von den Drohnen besiegt. Kannst du etwas zu deren Bedeutung auf dem Schlachtfeld sagen?

Ich habe zwölf Jahre lang als Kommandeur der Royal Marines im britischen Militär gedient und im Irak und in Afghanistan gekämpft sowie über den Krieg im Irak, in Syrien und in der Ukraine berichtet. Drohnen sind nicht neu, aber die Art der Drohnen und die riesige Menge, die Aserbaidschan einsetzt und die von der Türkei und Israel geliefert werden. Das war neuartig. In “45 Days: The Fight for a Nation” spreche ich über den Drohnenkrieg. Es hat mir die Augen geöffnet, als sie Israels “Kamikaze”-Drohne Hagops einsetzten.

Was ist das Besondere an der Hagops?

Sie kann sich von einer suchenden, kreisenden Drohne in eine Rakete verwandeln, die sich auf ein Ziel stürzt. Das können auch die türkischen Bayraktar TB2-Drohnen. Vor ihnen gab es buchstäblich kein Entkommen. Man konnte sie Tag und Nacht bei ihrer Suche nach Zielen sehen und hören. Natürlich wurden die Drohnen auch als vorgeschobene Feuerleitbeobachter eingesetzt, um den Gegner auszuspähen und dann Artillerie und Raketen auf Ziele zu richten.

Diese Drohnen mit ihren hochauflösenden Kameras haben auch dazu beigetragen, den Krieg der Bilder und der Videos zu gewinnen, der heute noch wichtiger ist als früher.

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium veröffentlichte in den sozialen Medien täglich Bilder von armenischen Truppen, die von Präzisionswaffen zerstört wurden. Das sah sehr eindrucksvoll aus und wirkte sich auf die psychologischen Aspekte des Krieges aus.  

Es war bekannt, dass Aserbaidschan Kampfdrohnen anschafft, und dennoch waren die Armenier unvorbereitet. Du zeigst gut ausgebaute Stellungssysteme, die Schutz vor Artillerie bieten, aber keinen Schutz nach oben. Wie konnte das passieren?

Nach dem Krieg in den 90er-Jahren, als die Armenier die Kontrolle über Berg-Karabach übernahmen, taten sie wenig, um die Region vor möglichen aserbaidschanischen Angriffen zu schützen. Der Zeitpunkt für die aserbaidschanische Offensive war außerdem gut geplant, die führenden Politiker und Medien der Welt waren mit der Eindämmung der Corona-Pandemie beschäftigt, und es fanden Wahlen in den USA statt, sodass Aserbaidschan mit Unterstützung der Türkei zum Angriff überging. Vergiss dabei nicht, Armenien hat ein niedriges Bruttoinlandsprodukt, sodass im Vergleich zu Aserbaidschan viel weniger Geld in das Militär investiert wird. Aserbaidschan rüstet seit Jahrzehnten erfolgreich auf, während Armenien dies nicht getan hat. Es war kein Geheimnis, dass Aserbaidschan über große Mengen an Drohnen verfügte, und Armenien hatte zu Beginn des Krieges keine wirksamen Drohnenabwehrsysteme. Gegen Ende des Krieges waren sie beim Abschuss von Drohnen aber viel effektiver.

Lass uns über deinen Film sprechen. Du fällst keine Urteile, aber zeigst, wie rein zivile Ziele angegriffen wurden. Auch oder gerade kulturelle Ziele wie Kirchen. Was kannst du uns dazu sagen?

Als Filmemacher bin ich ein Beobachter, eine Fliege an der Wand, die die Geschichte von jemand anderem erzählt. Und diese Geschichte wird aus der Sicht der Armenier erzählt. Wie in allen Kriegen sind die Zivilisten die wahren Opfer. In Berg-Karabach wurden viele zivile Gebiete von Aserbaidschan bombardiert, wie die Kathedrale in Schuschi, die wir in dem Dokumentarfilm sehen, sowie zivile Häuser, Autos und Schulen. Die Bombardierung ziviler Gebiete wurde vom aserbaidschanischen Staatsoberhaupt, Präsident Alijew, abgestritten, aber ich war vor Ort und sah die Zerstörung aus erster Hand. Nachts musste ich oft in den Keller gehen, um Schutz zu suchen, während die Bombardierung stattfand, oder tagsüber in Deckung gehen. Die Bombenangriffe waren heftig.  

Du hast in Afghanistan und im Irak gekämpft, in diesem Film sehen wir dich weinen. Kannst du etwas über diese spezielle Szene erzählen?

Ich habe mehrere Einsätze im Irak und in Afghanistan absolviert und bin seit meinem 18. Lebensjahr in Kriegsgebieten ein- und ausgegangen. Aber dieser Krieg hat mich sehr berührt, weil ich mehr Zeit mit den Zivilisten verbracht habe, die von ihren Verlusten berichten. In der Szene, auf die du anspielst, geht es um eine Frau, die ihren Mann verloren hat. Wir sind in ihrer Wohnung mit ihren beiden Kindern, und sie spricht darüber, wie sehr sie ihren Mann geliebt hat. Ihr Sohn war so alt wie mein Sohn, etwa dreizehn, und sie bat ihre Tochter, die Fahne zu holen, die auf dem Sarg ihres Mannes lag. Im Laufe der Jahre sind viele meiner Freunde in Afghanistan und im Irak gefallen, und der Anblick der Flagge erinnerte mich an all meine Freunde, die ich in sinnlosen Kriegen verloren habe. Wir sind alle Menschen und es ist immer schwer, zu sehen, wie Familienmitglieder trauern.

Die große Liebe und die Trauer der Frau lassen niemanden unberührt. In deinem Filmen geht es um die “menschlichen Kosten des Krieges” – was meinst du damit?

Soldaten führen Kriege, das liegt in der Natur der Sache. Als ich gekämpft habe, habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, wie sich meine Familie gefühlt haben muss, während ich weg war. Als Kommando hatten wir mit Zivilisten zu tun, aber wir haben nie wirklich verstanden, wie sie sich gefühlt haben. Seit ich Filmemacher bin, konzentriere ich mich auf die menschliche Perspektive des Krieges, weil ich das jetzt interessanter finde als Kugeln und Bomben. Krieg wirkt sich auf jeden Menschen anders aus, und darum geht es in meinen Dokumentarfilmen. Um die menschlichen Kosten des Krieges, denn wenn der Krieg physisch zu Ende ist, haben viele Menschen immer noch einen persönlichen Krieg zu bewältigen. Psychische Gesundheit ist ein großes Thema, über das auch im Jahr 2021 noch immer nicht genug Menschen sprechen.  

In “45 Days” behalten alle Figuren ihre Würde, du behandelst sie mit Respekt, du “raubst” keine Bilder. Das hört sich selbstverständlich an, aber meist geschieht etwas anderes. Dein Film ist das Gegenteil des “War Porn” im Internet.

Ja, ein paar Alpha-Männer haben mir gesagt, dass es in so einem Dokumentarfilm doch mehr Actionszenen geben müsse. Ich sage: Nein, so ein “War Porn” – wie du es nanntest – ist mir zu einfach. Ich bin ein Geschichtenerzähler, und als Regisseur muss man eine Geschichte auf verschiedenen Ebenen erzählen. Es ist wie bei einer Zwiebel, es gibt viele Schichten. Deshalb empfehle ich den Leuten, sich den Dokumentarfilm mindestens zweimal anzusehen, um diese Schichten zu erkennen. Ich war mein ganzes Erwachsenenleben lang in Kriegsgebieten, da geht es um mehr als nur um das Abfeuern von Waffen, und darauf konzentriere ich mich in meiner Arbeit.  

An dieser Stelle hat unsere Redaktion Inhalte aus Youtube integriert.

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Kannst du etwas über den Charakter der Kämpfe sagen? In der Schlacht um Schuschi soll es viele Opfer gegeben haben, es war also eine große Schlacht, die den Krieg entschieden hat.

Es gab vor allem viele Desinformationen über die Schlacht um Schuschi. Die Aseris überschwemmten die sozialen Medien im Vorfeld des Angriffs mit Propaganda. Sie sagten, dass sie die Stadt eingenommen hätten, was in Wirklichkeit nicht der Fall war. Dieser Eindruck könnte ein entscheidender Faktor dafür gewesen sein, dass die Armenier dem trilateralen Friedensabkommen zustimmten. Und auch die Tatsache, dass die Aseris wahrscheinlich wussten, dass sie Schuschi nicht einnehmen konnten, ist einer der Gründe, warum sie bereit waren, das Abkommen zu unterzeichnen. Es steht außer Frage, dass die aserische Infanterie in Schuschi war, als das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, aber sie war nicht in voller Stärke dort. In meinem Dokumentarfilm kannst du Zeugenaussagen von Armeniern hören, die dies bestätigen. Einige der aserbaidschanischen Truppen, die in der Schlacht getötet wurden, waren syrische dschihadistische Söldner, die von Aserbaidschan eingesetzt wurden.

Von außen hier in Europa hatte man den Eindruck, dass die Drohnen den Krieg gewonnen haben und dass Armenien ihn verloren hatte. Aber einer der ergreifendsten Szenen in “45 Days” ist der Moment, als du die Soldaten auf dem Rückzug triffst. Männer voller Traurigkeit und Wut, die nicht begreifen können, dass der Krieg verloren ist. Kannst du mir etwas über diese Stimmung erzählen?

Als das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, waren viele der armenischen Soldaten verärgert, weil sie das Gefühl hatten, den Krieg zu gewinnen. Wie ich gesagt habe, gelang es den Aseris, den Eindruck zu erwecken, dass sie die Schlacht gewonnen hätten. Die Soldaten wussten, dass das nicht geschehen war.

Schuschi ist nicht irgendeine Stadt.

Die Stadt Schuschi ist sehr alt und für die Armenier sehr wichtig, für sie hat sie eine kulturelle Bedeutung. Während des Krieges in den 90er-Jahren tobte dort eine legendäre Schlacht, und viele Armenier wuchsen mit den Geschichten über die Schlacht von Schuschi auf und sangen Lieder über den Sieg, sodass viele Soldaten wütend waren, als sie die Stadt verloren. Ein Soldat erzählte mir, dass er sich schämt, nach Hause zu seiner Familie zu gehen. Sein Vater hat in den 90er-Jahren in der Schlacht von Schuschi gekämpft und damals gewonnen und er hat die Schlacht im Jahr 2020 nun verloren.

Emile, auch deine früheren Filme waren erfolgreich. Aber in einer kleinen Gruppe – mit “45 Days” ist das ganz anders. Du hast die Chance, einen Oscar zu bekommen. Was ist das für ein Gefühl? Es geht nicht nur um Anerkennung und Erfolg – es geht auch darum, die Geschichte von 45 Days mehr Menschen zu erzählen.

Dieser Dokumentarfilm war mit Abstand mein größtes Projekt. Für die Produktion und die Nachbearbeitung habe ich etwa 11 Monate gebraucht, die meiste Zeit davon war ich in Armenien. Der Cutter und der Produzent sind aus den USA eingeflogen, um an dem Film zu arbeiten. Als unabhängiger Filmemacher bin ich auf Spenden angewiesen, um Filme zu machen.

Ein wichtiger Punkt, du arbeitest für keine Firma und für keinen TV-Sender.

Zum Glück konnte ich für dieses Projekt genug Geld auftreiben, sodass ich mich ganz auf die Regie konzentrieren konnte, anstatt mich darum zu kümmern, nebenher Geld zu verdienen, um es zu finanzieren. Bisher haben wir eine erfolgreiche Tournee absolviert, die in Armenien begann und dann in die USA führte, wo wir im kultigen Chinese Theatre auf dem Hollywood Boulevard starteten.

45 Days kann man auf Vimeo sehen

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© Emile Ghessen

Das Chinese Theatre ist wirklich ein besonderer Ort.

Es ist umwerfend sagen zu können, dass ich das Chinese Theatre für meinen Dokumentarfilm ausverkauft habe. Ein Platz, in dem normalerweise Hollywood-Premieren gezeigt werden. Wir haben eine komplette Tournee durch die West- und Ostküste der USA gemacht, dann nach Kanada und zum Schluss nach London. Dass wir die meisten Veranstaltungsorte während der Hochsaison im Sommer ausverkaufen konnten, war unglaublich.

Als Regisseur bin ich sehr stolz auf diesen Dokumentarfilm, der die Ungerechtigkeit dieses Krieges aufzeigt, über die Kriegsverbrechen spricht und darüber, wie Aserbaidschan immer noch armenische Kriegsgefangene festhält, obwohl der Krieg vorbei ist. Der Dokumentarfilm ist im Rennen für die Academy Awards 2022 (Oscars) in der Kategorie bester Dokumentarfilm, worüber ich mich sehr freue. Es war viel harte Arbeit, bis es so weit war, aber ich hatte das Glück, ein großartiges Team zu haben, das mich unterstützt hat, und dass die Menschen in Armenien und der Diaspora uns auf dem Weg unterstützt haben, diese wichtige Geschichte zu erzählen, vor der die Weltmächte die Augen verschlossen haben.

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