WHO: Warum ein Pandemieabkommen wichtig, aber in weiter Ferne ist

Der weltweite Ausbruch eines neuen Krankheitserregers kann in die Katastrophe führen. Ein Pandemieabkommen der Weltgesundheitsorganisation WHO sollte uns für den Ernstfall rüsten. Doch einen Vertrag gibt es bislang nicht – stattdessen ein mehrseitiges Sammelsurium.

Kein Zweifel, die Corona-Pandemie geht als globale Katastrophe in die Menschheitsgeschichte ein: Etwa sieben Millionen Tote sind Sars-CoV-2 bislang laborbestätigt zuzurechnen, so die Weltgesundheitsorganisation WHO. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte um ein Vielfaches höher liegen und rangiert – je nach Statistik der “Überschuss-Sterblichkeit” in den Pandemiejahren –, irgendwo zwischen 16 und 39 Millionen. Dazu kommt ein finanzieller Schaden, der vom Weltwährungsfond mit knapp 13 Billionen Euro beziffert wird. 

Wäre es da nicht vernünftig, die Fehleinschätzungen und mangelnde Vorbereitung auf einen solchen Fall im Detail zu analysieren, daraus zu lernen und sich für den nächsten Ausbruch vereint vorzubereiten? Das jedenfalls war die Absicht jener Gruppe aus 25 Staaten zusammen mit EU und WHO, die schon im März 2021 – im zweiten Corona-Jahr – dazu aufriefen, sich für die Zukunft besser zu rüsten und das koordinierte Vorgehen in einem internationalen Vertrag festzuschreiben. War aber da nicht fast schon abzusehen, welches Schicksal eine solche Vereinbarung ereilen würde?

Wie eine Vorlage wirkt das “Pariser Klimaübereinkommen” von 2015 für eben jenen Vertrag, der die Welt in die Lage versetzen soll, sich künftig besser als bei der Corona-Pandemie gegen einen neuen Krankheitserreger zur Wehr zu setzen – so schnell wie möglich, so transparent wie möglich, so wirkungsvoll wie möglich. Das Pariser Klimaabkommen gibt es wenigstens schon, auch wenn sein wichtigstes Ziel – die globale Erwärmung auf 1,5 Grad, in jedem Fall aber deutlich unter 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Temperaturniveau zu halten – schon heute so gut wie gerissen ist. Der Pandemievertrag aber droht bereits zu scheitern, bevor er überhaupt fertig formuliert und unterschrieben wurde.

WHO-Pandemieabkommen: Kein Vertrag, stattdessen ein mehrseitiges Sammelsurium

Bei der 77. Jahresversammlung der WHO, die am 1. Juni in Genf zu Ende ging, hätte das eigentlich passieren sollen. Einen Entwurf gab es auch, selbst wenn der etliche Male während der monatelangen zähen Verhandlungen verwässert worden war. Doch statt eines Vertrages wurde nur ein 62-seitiges Sammelsurium von Änderungsvorschlägen, Vorbehalten und Anhängen mit dem Kürzel “A77/A/CONF./14” verabschiedet. Und höchstens binnen eines weiteren Jahres, möglichst aber noch 2024, so die Absichtserklärung, soll es tatsächlich zu einem echten Vertragstext kommen – vorerst natürlich nur zu einem weiteren Entwurf mit ungewissem Schicksal. Denn selbst, wenn der Text tatsächlich bis zum Jahresende ausformuliert und unterzeichnet würde, bliebe sein Bestand in höchstem Maße gefährdet. So hat beispielsweise schon der frühere US-Präsident und erneute Kandidat für das höchste Amt der Vereinigten Staaten, Donald Trump, kurz vor der WHO-Versammlung angekündigt, wie er mit einem solchen internationalen Vertrag umzugehen gedenkt, sollte der aktuelle Amtsinhaber Joe Biden ihn noch unterschreiben, aber die Wahl verlieren: Gleich am ersten Tag seiner neuen Amtszeit, so Trump, werde er diese “Monstrosität” zerreißen und wegwerfen. Doch Trump ist nur einer von vielen Gegnern eines Pandemieabkommens, wenn auch ein besonders rabiater.

Das Problem zeigt sich bei der juristischen Form: Ein Vertrag ist nach der Verfassung der WHO etwas anderes als eine Sammlung von Vorschriften, zu denen beispielsweise auch die “International Health Regulations” in der Fassung von 2005 gehören. Es waren diese Regulierungen, die während der Corona-Pandemie zur Anwendung kamen – mit dem bekannten Ergebnis. Im Grunde machte auch nach der Erklärung eines internationalen Gesundheitsnotstandes (“Public health emergency of international concern”) durch den Generaldirektor der WHO am 30. Januar 2020 jedes Land, was seine Regierenden wollten. Womöglich noch schlimmer: Ende Januar waren die Infektionen schon so weit fortgeschritten, dass es kein Halten mehr gab. Zwar hatte ein chinesischer Wissenschaftler den genetischen Code des neuen Virus am 11. Januar 2020 international bekanntgemacht. Doch das war offenbar seine eigene Entscheidung gewesen, nicht die Politik seiner Regierung. 

Das Virus gibt das Tempo vor

An den Folgen seiner eigenmächtigen Veröffentlichung der genetischen Rohdaten von Sars-CoV-2 leidet Zhang Yongzhen bis heute: Zumindest für eine Weile wurde sein Institut an der Fudan Universität dichtgemacht, angeblich wegen einer erforderlichen Renovierung. Der Virologe scheint das so jedenfalls nicht geglaubt zu haben und postete ein Foto, das ihn aus Protest vor dem Institut auf der Straße campierend zeigte. Was dieser skurrile Vorfall vor allem offenbart: Auf Transparenz darf auch künftig niemand hoffen. Doch genau die ist in der Anfangsphase einer Pandemie wichtig. Denn mit dem Ausbruch beginnt ein Wettlauf mit dem Virus. Und es ist der Erreger, der Takt und Tempo vorgibt, nicht die Politik, nicht ein Paragraf irgendeines nationalen Gesetzes oder internationalen Vertrages. Darum muss so eine Vereinbarung nicht nur entsprechend flexibel gestaltet werden, um im Ernstfall so schnell wie möglich reagieren zu können. Die Regierungen der Welt müssen auch bereit sein, ihre Informationen und etwa die genetischen Daten eines neuen Erregers unmittelbar und vollständig zur Verfügung zu stellen. Es war die Freigabe der genetischen Daten durch Zhang Yongzhen, die es erlaubte, an der Berliner Charité frühzeitig einen Test auf das neue Virus zur Verfügung zu haben. Zudem waren es diese Daten, die es Impfstoff-Entwicklern wie denen von Biontech in Mainz erlaubten, sofort an die Arbeit zu gehen. Transparenz ist unverzichtbar für den Kampf gegen ein neues Virus. Daran aber mangelt es nach wie vor, wie der laxe bis verantwortungslose Umgang mit den schon bestehenden Gesundheitsregeln der WHO gezeigt hat.

Diese “Health regulations” auf dem Stand von 2005 sind zwar für die 194 Mitgliedsstaaten ebenfalls verbindlich, können aber mit einfacher Mehrheit der Vollversammlung geändert oder ergänzt werden. Verträge hingegen können nur mit einer Zweidrittelmehrheit angefasst werden und bedürfen der nationalen Ratifizierung durch die Unterzeichnerstaaten. Und das kann dauern. Dass ein Vertrag robuster ist als Vorschriften, weckt allerdings nicht nur in den USA die Sorge, das eigene Land, die eigenen Parlamente und Regierungen, könnten Souveränität einbüßen. Im – vorläufigen – Vertragsentwurf vom 22. April findet sich deshalb zum Beispiel diese verschwurbelte Passage: “Das Pandemie-Übereinkommen der WHO ist nicht so auszulegen, dass es dem WHO-Sekretariat, einschließlich des Generaldirektors der WHO, die Befugnis verleiht, … anzuordnen, zu ändern oder anderweitig vorzuschreiben oder Anforderungen an die Vertragsparteien zu stellen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, wie z. B. das Verbot oder die Zulassung von Reisenden, Impfvorschriften oder therapeutische oder diagnostische Maßnahmen zu verhängen oder Lockdowns durchzuführen.” Es ist ein diplomatischer Eierlauf, solche Formulierungen auszuhandeln und noch komplizierter, sie im Ernstfall anzuwenden und zweifellos folgende Streitfälle zu klären. All das würde allein schon enorm viel Zeit kosten. Zeit aber ist überaus kostbar bei einem Ausbruch. Denn Viren warten nicht auf politische Entscheidungen. Sie kennen auch keine nationalen Grenzen.

Gerechtigkeit statt “Impf-Nationalismus”

Die Probleme enden zudem nicht in der Anfangsphase eines Ausbruchs. Auch das hat Corona gezeigt. “Impf-Nationalismus” war ein Begriff, mit dem sich vor allem die Länder des globalen Südens über die ungerechte Verteilung der Vakzine beschwerten. Vereinfacht gesagt: Wer das Geld hatte, bekam die Ampullen. Ursprünglich sollte eine international geführte Initiative wie “COVAX” (COVID-19 Vaccines Global Access) dafür sorgen, dass die unerwartet früh zur Verfügung stehenden Impfstoffe dahin geliefert werden konnten, wo sie dringend benötigt wurden. Es gehört zum Wesen einer Pandemie, dass das letztlich die ganze Welt war. Aber da die Ressourcen zumindest in den ersten Monaten begrenzt waren, sollte es wenigstens gerecht zugehen. Wie es tatsächlich lief, ist bekannt. Und darum beherrscht auch die Verhandlungen zu einem Pandemieabkommen ein Begriff ganz besonders: “Equity” – Gerechtigkeit.

Das betrifft die schon erwähnte Verteilung von Impfstoffen. Es betrifft aber auch das Know-how dahinter. Länder wie beispielsweise Südafrika haben in der Corona-Pandemie bewiesen, welche beeindruckenden wissenschaftlichen Strukturen dort schon jetzt zur Verfügung stehen. Es waren vor allem die schlimmen Erfahrungen mit HIV/Aids, die im Laufe der Jahrzehnte zu dieser Infrastruktur geführt hatten. Mit ihren genetischen Analysen zählten die Institute dort darum auch zu den wichtigsten Unterstützern im Kampf gegen Sars-CoV-2. An der Nelson Mandela School of Medicine im südafrikanischen Durban wurde beispielsweise im November 2021 die bis heute dominierende Virusvariante “Omikron” entdeckt. Die Welt wurde auch sofort darüber informiert. Der Dank aber war niederschmetternd: In Europa und anderswo wurden Grenzen geschlossen und Reiseverbote verhängt. Letztlich wurde so ein Land isoliert und bestraft, das sich genau so verhalten hatte, wie die Fachwelt es seit Jahren und Jahrzehnten fordert. Wie soll es da verwundern, dass dieses Verhalten als rassistisch wahrgenommen wurde? Und wie ermutigt muss sich ein Land dieser Region oder auch sonst irgendwo auf unserem Planeten fühlen, wenn es demnächst wieder in einem Regenwald oder auf einem wuseligen Markt wie in Wuhan zu einem Ausbruch kommt und es darauf ankommt, die Daten so schnell wie möglich und so komplett wie möglich mit dem Rest der Welt zu teilen?

“Equity” hat noch einen wichtigen Aspekt. Wenn etwa in künftigen Ausbruchsgebieten Proben genommen werden, die dann auch im globalen Westen genetisch analysiert und zur Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten verwendet werden, wie werden dann die Länder und Menschen am Besitz und an möglichen Profiten beteiligt, ohne die solche pharmakologischen Entwicklungen gar nicht möglich wären? Auch das “geistige Eigentum” ist darum ein wichtiges Thema bei den Verhandlungen der WHO. Während der Corona-Pandemie taten sich da schon Risse zwischen denen auf, die das Wissen hatten und denen, die es dringend gebraucht hätten: Wäre es zum Beispiel möglich gewesen, viele Menschenleben im Süden zu retten? Hätte dort eine Pharma-Infrastruktur aufgebaut werden oder genutzt werden können, um die Impfstoffproduktion deutlich zu erhöhen? Geistiges Eigentum ist letztlich nur ein anderes Wort für Geld. Wie schwer sich die Welt aber dabei tut, finanzielle Mittel gerecht zu verteilen, zeigt sich nicht nur in Pandemiezeiten. Doch auch in denen ist das ein zentrales Thema – und entsprechend schwer in einem internationalen Abkommen zu verankern. Im konkreten Fall sind heftige Auseinandersetzungen so gut wie sicher, nicht nur zwischen “Nord” und “Süd”. Der hin und her über den Nordatlantik schwappende Patentstreit zwischen den mRNA-Entwicklern Biontech/Pfizer und Moderna, bei dem es um Milliarden geht, ist ein Beispiel dafür. Wer aber schlichtet künftig so einen Streit? Ob in Patentfragen oder bei Verstößen gegen die Transparenz oder eine gerechte Verteilung von Vakzinen oder Medikamenten? Wer beugt sich überhaupt einem internationalen Richterspruch? Und wie lange muss die Welt auf den warten, während ein Virus seinen Seuchenzug fortführt?

Es sind jedenfalls keine Petitessen, die noch im Detail zu klären sind, bevor es zu einem internationalen Pandemievertrag kommen kann, der den Namen auch verdient. Noch im Januar veröffentlichte ein Expertenteam unter der Leitung der auch in der Corona-Pandemie weltweit aktiven US-Gesundheitsexpertin Nina Schwalbe einen Kommentar im “Lancet”, einem der wichtigsten internationalen Medizinjournale. “Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg” lautete damals die Überschrift – ein Slogan, den auch der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus gern verwendet. Anfang des Jahres bestand durchaus noch Hoffnung auf einen tragfähigen Kompromiss. Gut ein halbes Jahr später bleibt nur die deprimierende Feststellung, dass es nicht an Wegen fehlt, wohl aber am politischen Willen, die Welt auf die nächste Pandemie vorzubereiten. Den Preis für diesen Leichtsinn, für diese Verantwortungslosigkeit werden künftig vor allem jene zu zahlen haben, die an den Verhandlungen gar nicht beteiligt waren. Womöglich mit ihrem Leben.

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