Was das Münchner Dokumentarfilm-Festival 2023 zu bieten hat – München

Der Dokumentarfilm boomt. Noch nie habe es so viele Einreichungen gegeben wie in diesem Jahr (1100), erzählt Daniel Sponsel, der gemeinsam mit Adele Kohout das Münchner Dok-Fest verantwortet. 130 Filme aus 55 Ländern haben es ins Programm der 38. Ausgabe geschafft, zahlreiche Welt- und Deutschlandpremieren sind dabei. Von 3. bis 14. Mai flimmern die Werke über die Leinwände in den 23 Partner-Spielstätten, darunter Rio und City-Kinos, Filmmuseum und HFF, Kammerspiele und Literaturhaus. Von 8. bis 21. Mai darf zusätzlich online geschaut werden. Das Festival bleibt also dual, Kulturreferent Anton Biebl spricht deshalb vom “doppelten” Dok-Fest. Wieder werden mehrere Preise vergeben, die jeweils mit bis zu 10 000 Euro dotiert sind. Neue internationale Konferenzen für die Branche, etwa zur Publikumsforschung und zur Kino-Perspektive, bereichern das Angebot. Einzeltickets und Festivalpässe gibt es unter dokfest-muenchen.de. blö

Aus aller Welt

Isa Willingers Essay “Plastic Fantastic” setzt sich mit der globalen Plastikkrise auseinander.

(Foto: Trimafilm/Dok-Fest München)

Wir wissen alles – und nichts: Noch nie war es so einfach, sich zu informieren. Zu keiner Zeit war es aber auch so schwer, Informationen zu verarbeiten und einzuordnen. Genaues Hinsehen ist wichtiger denn je, die Filme auf dem Dok-Fest laden dazu ein. Das Publikum geht auf filmische Weltreise, entdeckt unseren Planeten in seiner ganzen Komplexität. Es gibt nicht das eine Thema, sondern ganz viele: Im diesjährigen Programm geht es um Klimawandel, Krieg oder Krankheiten, um Arbeitswelten, Familie oder wie im belgischen Film “Bodies And Struggles” um die Folgen der Pandemie. “Cowboy Poets” beleuchtet das lyrische Leben von Landarbeitern in Nevada, “Le spectre de Boko Haram” zeigt eine Kindheit in Kamerun mit Terrorbedrohung. “This Kind Of Hope” stellt einen belarussischen Oppositionellen vor, in “Plastic Fantastic” geht es um die globale Herstellung und Entsorgung von Kunststoff. Und “Kristos, The Last Child” begleitet einen griechischen Jungen bei einer Entscheidung, die sein Leben verändern wird. grü

München und Deutschland

Internationales Dokumentarfilm-Festival: Kammerspiele-Schauspielerin Lucy Wilke steht im Fokus des Porträts "Spielen oder nicht spielen".

Kammerspiele-Schauspielerin Lucy Wilke steht im Fokus des Porträts “Spielen oder nicht spielen”.

(Foto: Dok-Fest München)

Das Dok-Fest führt hinaus in die Welt, aber auch direkt vor die eigene Haustür. Spannende Menschen und fordernde Themen gibt es überall. Ein Film mit starkem München-Fokus ist “Einzeltäter”. Julian Vogel hat sich mit dem OEZ-Anschlag im Juli 2016 auseinandergesetzt, lässt die Hinterbliebenen zu Wort kommen und zeigt ihren Kampf dafür, dass die Ereignisse nicht als Amoklauf, sondern als rechtsextremes Attentat eingestuft werden.

An den Münchner Kammerspielen bekannt ist Lucy Wilke. Die Schauspielerin mit körperlicher Behinderung lebt ihren Traumberuf. Das Porträt “Spielen oder nicht spielen” offenbart Glücksmomente und Hindernisse, erzählt von jungen Frauen und ihrem Weg auf die Bühne. Neben Wilke begleitet der Film von Kim Münster und Sebastian Bergfeld die Düsseldorfer Kollegin Yulia Yáñez Schmidt.

Zu den großen Themen unserer Zeit in Deutschland gehört der (rückläufige) Fleischkonsum. Der Münchner Regisseur David Spaeth stellt in seinem neuen Film “Wir und das Tier” unbequeme Fragen zum Töten von Tieren. In seinem “Schlachthausmelodram” ist er unter anderem nah dran an jungen Frauen, die sich in einem Kurs der Schweineschlachtung stellen – und damit bohrenden Gewissensfragen. Auch Filme zum Ende des Kohlebergbaus (“Wir waren Kumpel” und “Auf der Kippe”) finden sich in der deutschen Wettbewerbssparte. blö

Schwerpunkt Medien

Internationales Dokumentarfilm-Festival: "5 Seasons Of Revolution" zeigt, wie eine Reporterin vom Ausbruch des Arabischen Frühlings in Syrien berichtet. Ihr Film läuft in der Spezialreihe "Power Of Media?".

“5 Seasons Of Revolution” zeigt, wie eine Reporterin vom Ausbruch des Arabischen Frühlings in Syrien berichtet. Ihr Film läuft in der Spezialreihe “Power Of Media?”.

(Foto: Dok-Fest München)

Wie man als Sexarbeiter viel Geld verdienen kann, erzählt er gerne. Warum er so gerne feiert, kokst oder mit Beatrix von Storch verkehrt, verrät er ebenfalls. “Goldhammer” lautet der Name dieses jungen Mannes, der sich als Model, Escort, Comedian, AfD-Politiker und vor allem als Influencer regelmäßig neu erfindet und inszeniert. Der gleichnamige Dokumentarfilm von André Krummel und Pablo Ben Yakov ist in der Reihe “Power Of Media?” zu sehen, in insgesamt fünf Filmen geht es um den Einfluss klassischer und sozialer Medien auf unser Leben.

Was russische Jugendliche im Internet posten, zeigt die verstörende Filmcollage “Manifesto”; was eine junge Reporterin vom Ausbruch des Arabischen Frühlings in Syrien berichtet, sieht man in “5 Seasons Of Revolution”. Auch der afghanische Eröffnungsfilm verhandelt die Macht der Medien: “Etilaat Roz” erzählt von der auflagenstärksten Tageszeitung Kabuls im Sommer 2021. Aber was macht man, wenn die Taliban vor der Tür stehen? grü

Gender und Feminismus

Internationales Dokumentarfilm-Festival: Aus dem Leben von Trans-Sexarbeiterinnen in New York und Atlanta erzählt D. Smiths Film "Kokomo City".

Aus dem Leben von Trans-Sexarbeiterinnen in New York und Atlanta erzählt D. Smiths Film “Kokomo City”.

(Foto: Dok-Fest München)

Sich als Frau in klassischen Männerdomänen zu behaupten, ist leider noch immer keine Selbstverständlichkeit, ganz im Gegenteil. Der Film “She Chef” begleitet die Köchin Agnes auf ihrem Weg durch Europas Sterneküchen, in denen der Druck enorm hoch ist und die Stars noch immer die Männer sind. Auch Sophia träumt, seit sie vier Jahre alt ist, davon, Rennfahrerin bei der Formel 1 zu werden. Aufgeben ist für sie keine Option, wie “#Racegirl – Das Comeback der Sophia Flörsch” unmissverständlich klarmacht.

Für die eigenen Rechte einzutreten und dafür zu sterben: Vor dem Hintergrund der aktuellen Frauenrechtsbewegung im Iran erscheinen der Mut und die Entschlossenheit der Protagonistin aus “Seven Winters in Tehran” von noch größerer Bedeutsamkeit, die aus Notwehr ihren Peiniger tötete und zum Tode verurteilt wurde. Der bewegende Film gibt der Iranerin eine Stimme und entlarvt die Mechanismen eines Unrechtsregimes. Eindrucksvolle biografische Erzählungen und Reenactments liefert auch “Kokomo City”, der schwarze Trans-Sexarbeiterinnen von ihrem Leben in New York und Atlanta erzählen lässt. Und allen, denen noch nicht klar ist, dass Feminismus keine Option, sondern eine Notwendigkeit ist, sei “Feminism WTF” empfohlen. anns

Kultur

Internationales Dokumentarfilm-Festival: Da steppt die Ziege: Was in der Wiener Musikszene los ist, zeigt Philipp Jedickes Film "Vienna Calling".

Da steppt die Ziege: Was in der Wiener Musikszene los ist, zeigt Philipp Jedickes Film “Vienna Calling”.

(Foto: Dok-Fest München)

Musikfilme haben beim Dok-Fest Tradition. Auch die neue Ausgabe feiert die Welt der lauten und leisen Töne. Laut wird es etwa bei “Play With The Devil” von Olivier Joliat und Matthias Willi. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht Manuel Gagneux und sein eigenwilliges Projekt “Zeal & Ardor”. Der Schweizer mischt Metal-Riffs und “Sklavengesänge”, veröffentlicht zunächst nur im Netz – und hat damit Erfolg. Festivals fragen an, Star-Gitarrist Slash wird zum Fan.

Leise wurde es dagegen um den Allgäuer Rainer Von Vielen. Eva Hartmann hat den Musiker und seine Bandkollegen durch die Pandemie begleitet (“Von Vielen”). Außerdem gibt es Porträts über die britische Progressive-Band King Crimson (“In The Court Of The Crimson King”) und den renommierten Chopin-Wettbewerb in Warschau (“Pianoforte”). Und wer glaubt, er kenne die hoch gelobte Wiener Popszene recht gut, wird staunen, wen es da noch zu entdecken gibt: In “Vienna Calling” (Regie: Philipp Jedicke) geben bekannte Gesichter wie Nino aus Wien oder Voodoo Jürgens Einblicke in ihr Schaffen, aber auch spannende Newcomer wie die nichtbinäre Person Kerosin 95 oder Gutlauninger.

Auch was die anderen Kultursparten betrifft, kann man sich auf dem Dok-Fest inspirieren lassen. So gibt es Filme mit neuen Perspektiven auf unterschiedliche Künstler wie Alfred Hitchcock, Umberto Ecco, Thomas Schütte, Nam June Paik und Jan Vermeer. blö

Gastland und Retrospektive

Internationales Dokumentarfilm-Festival: Der Film "Eren" erzählt von der Anwältin und Aktivistin Eren Keskin, die sich seit mehr als 30 Jahren für die Rechte von Frauen und Minderheiten in der Türkei einsetzt.

Der Film “Eren” erzählt von der Anwältin und Aktivistin Eren Keskin, die sich seit mehr als 30 Jahren für die Rechte von Frauen und Minderheiten in der Türkei einsetzt.

(Foto: Dok-Fest München)

Längst geht es beim Filmemachen nicht mehr nur um die Frage, was erzählt oder gezeigt wird, sondern auch darum, von wem diese Filme sind. In Afrika entstandene Dokumentarfilme etwa waren lange Zeit in westlicher Hand, Diversität schien den Machern nicht so wichtig zu sein. Gezeigt wurden ihre Werke ja ohnehin im Westen. Das Dok-Fest legt mit der Initiative “Dok-Network Africa” seit 2013 einen Schwerpunkt auf afrikanisches Filmschaffen, zum Zehnjährigen zeigt man sechs ältere und aktuelle Filme aus Ländern wie Tunesien, Kenia, Senegal oder Burkina Faso.

Darüber hinaus wird es eine Podiumsdiskussion geben, an der auch die afrikanischen Filmemacher Férid Boughedir und Cyrielle Raingou teilnehmen. Gastland ist dieses Jahr die Türkei. Vier Filme haben es in die Auswahl der Dok-Guest-Reihe geschafft, sie beleuchten verschiedene Facetten türkischen Lebens. So zeigt “The Decree” den Widerstand gegen Erdoğans Entlassungswelle nach dem Putschversuch im Jahr 2016, während es in “Eren” um eine türkisch-kurdische Anwältin und Aktivistin geht. Eren Keskin setzt sich ein für die Rechte von Frauen, Minderheiten und Menschen, die von der heteronormativen Norm abweichen. grü

Hommage

Internationales Dokumentarfilm-Festival: "Matter Out Of Place": Nikolaus Geyrhalters Film über globale Vermüllung (2022) ist im Rahmen einer Dok-Fest-Hommage zu sehen.

“Matter Out Of Place”: Nikolaus Geyrhalters Film über globale Vermüllung (2022) ist im Rahmen einer Dok-Fest-Hommage zu sehen.

(Foto: Dok-Fest München)

In seinen Filmen wird wenig bis gar nichts gesprochen, er selbst ist aber durchaus auskunftsfreudig. Den Zustand Europas kommentiert Nikolaus Geyrhalter etwa folgendermaßen: “Es ist das langsame Verblassen einer Hochkultur, es gibt auch keine großen Visionen mehr.” Allerdings sagte das der Wiener Filmemacher nicht angesichts aktueller Klima- oder Kriegskrisen, sondern bereits vor elf Jahren im SZ-Interview. Damals lief “Abendland” in den Kinos an, der bildgewaltige Dokumentarfilm hat nichts von seiner Brisanz verloren – und ist beim Dok-Fest im Rahmen einer Geyrhalter-Hommage zu sehen.

In den vergangenen 20 Jahren machte der Autodidakt Filme über ukrainische Geisterstädte, Flüchtlingsströme, globale Vermüllung oder industrielle Nahrungsmittelproduktion. All das beschäftigt uns noch heute, zu all dem hat Nikolaus Geyrhalter sicher etwas zu sagen: Er kommt nach München und steht dem Publikum am Sonntag, 7. Mai, bei einer Masterclass Rede und Antwort. grü

Bildungsprogramm

Internationales Dokumentarfilm-Festival: "Following Valeria" berichtet über eine junge Ukrainerin, die aus einem Luftschutzbunker in Tiktok-Videos vom Krieg berichtet - sie wird bei der Eröffnung des Festivals zu Gast sein.

“Following Valeria” berichtet über eine junge Ukrainerin, die aus einem Luftschutzbunker in Tiktok-Videos vom Krieg berichtet – sie wird bei der Eröffnung des Festivals zu Gast sein.

(Foto: Dok-Education/Dok-Fest)

Nach dem großen Erfolg und einer Auszeichnung mit dem “Pädagogischen Medienpreis” im vergangenen Jahr bietet das Bildungsprogramm Dok-Education seine “Schule des Sehens” erneut dual im Kino und online an: In 90-minütigen Seminaren vermitteln Filmexperten ein erstes Verständnis für die Lesbarkeit von künstlerischen Filmerzählungen und die mediale Darstellung von Wirklichkeit. Gezeigt werden drei altersgerecht gestaffelte Filme – am aktuellsten ist sicherlich “Following Valeria” über eine junge Ukrainerin, die aus einem Luftschutzbunker in Tiktok-Videos vom Krieg berichtet.

Lehrkräfte können die Filme samt Arbeitsmaterialien von Mai bis Juli im Unterricht einsetzen, und zwar deutschlandweit und kostenlos. Dazu lädt das Team von Dok-Education Schulklassen von 4. bis 14. Mai zu 30 Seminaren in Münchner Kinos ein. Erstmals gibt es die “Schule des Sehens” übrigens auch für Erwachsene: Am 11. Mai läuft “Following Valeria” in der Volkshochschule mit Filmgespräch. Wer einmal selbst mitten im Filmgeschehen stehen will, dem verrät Julian Janssen alias Checker Julian am 14. Mai in einem Workshop an der HFF, wie man entspannt vor der Kamera bleiben kann. by

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