Schottland: Inselbewohner hauen ab – Ehepaar geht umgekehrten Schritt

In Schottland wandern immer mehr Inselbewohner aufs Festland ab. Das, was die Menschen in die Flucht schlägt – Abgeschiedenheit, Ruhe, Einsamkeit – hat das Helen Strong und Rudi Distel dazu bewogen, von Ingolstadt auf die schottische Insel Lewis zu ziehen.

Noch immer kann Helen Strong sich lebhaft an dieses eine Haus erinnern. “Ein typisches Stein-Cottage mit einem Strohdach und zwei Kaminen”, beschreibt die 52-Jährige. Damals war sie mit ihrem Mann Rudi Distel auf einer Motorrad-Tour durch die Äußeren Hebriden, einer Inselkette an der Westküste von Schottland. “Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich eines Tages in so einem Haus leben werde”, erinnert sich die Britin. Neun Jahre später setzte sie ihre Traum-Vorstellung in die Realität um.

Schottland kämpft mit Bevölkerungsrückgang auf den Inseln 

Das Ehepaar, das zuvor in Ingolstadt gelebt und gearbeitet hatte, kaufte 2018 ein Haus auf der Isle of Lewis und wanderte wenig später dorthin aus. Helen, die aus Nordengland stammt und 1999 als Englischlehrerin nach Deutschland kam, fühlte sich schon lange zu Schottland hingezogen. “Die Landschaft, die Einsamkeit, das Klima”, zählt sie auf. “Im Sommer war es mir viel zu warm in Deutschland, deshalb bin ich immer nach Schottland geflüchtet.” Ihr Partner Rudi, der in der Automobilbranche gearbeitet hatte, war zunehmend frustrierter mit seinem Arbeitsumfeld. “Es war hektisch und die Mitarbeiter wurden immer unzufriedener”, sagt er im Gespräch mit dem stern.

Landschaft von Schottland

Von Ingolstadt in die Idylle: Helen Strong und Rudi Distel leben auf der Isle of Lewis, direkt an der Westküste

© Helen Strong

Beide sehnten sich nach mehr Freiheit, Ruhe und einem naturnahen Leben. Der Umzug auf das abgeschiedene Eiland schien eine logische Folge. Für die Inselbewohner ist eher das Gegenteil der Fall. Der rasante Bevölkerungsrückgang auf den schottischen Inseln hat sich für viele Gemeinden zu einem kritischen Problem entwickelt. Eine Befragung der Regierung im Rahmen des “National Island Plan” hat ergeben, dass die Einwohner die konstante Abwanderung als größte Bedrohung für die Zukunft ihrer Ortschaften sehen. Die Gemeinde Comhairle nan Eilean Siar, zu der auch die Insel Lewis gehört, hat in den vergangenen Jahren laut den “National Records of Scotland” mit den höchsten Bevölkerungsrückgang erlebt. Die Behörde rechnet bis 2041 mit einem zusätzlichen Verlust von bis zu 14 Prozent. Für die gesamte Inselkette der Äußeren Hebriden liegt die Schätzung bei 16 Prozent. Eine “ziemlich düstere” Prognose, wie es die Tageszeitung “The Herald” benennt.

Wind und Meer statt Autohupen

Für den Negativ-Trend gibt es zwei Gründe. Zum einen liegt die Anzahl der Sterbefälle deutlich über der Anzahl der Geburten. Zum anderen wandern etliche Menschen auf das Festland ab, doch kaum einer zieht auf die Inseln. Helen und Rudi gehören zu den Ausnahmefällen. Das, was viele abschreckt, ist genau das, wonach das Paar gesucht hat: Abgeschiedenheit und Ruhe. In jungen Jahren habe Helen das Leben in der Großstadt sehr geschätzt, “aber als ich älter wurde, hat mich das nicht mehr interessiert”, erzählt sie.

Die Menschenmassen und den Lärm empfand sie zunehmen als Belastung. “Ich wollte die Vögel und die Geräusche von Wind und Meer hören statt Autohupen und laute Menschen”, sagt die Britin. Ihr neues Zuhause liegt auf Great Bernera, einer eigenen kleinen Insel, die mit dem größeren Eiland Lewis über eine Brücke verbunden ist. Auf Great Bernera gibt einen Strand, mehrere Seen und einige Sehenswürdigkeiten, wie den Callanish-Circle, eine Steinformation, die an Stonehenge erinnert. Die Landschaft in Lewis sei flach, die Insel Harris, die sich im Süden anschließt, hingegen sehr bergig. “Wenn man diese Serpentinen hochfährt oder entlang wandert, das ist gigantisch”, schwärmt Rudi.

“Wir arbeiten für uns selbst”

Das Ehepaar hat sich dazu entschlossen, möglichst autark zu leben. Sie produzieren ihren eigenen Strom, bauen Obst und Gemüse an, halten Hühner und gehen fischen. Haus und Garten bezeichnen sie als ihren Vollzeit-Job. “Vorher haben wir für andere Leute gearbeitet, jetzt arbeiten wir für uns selbst”, sagt Helen. Ihr Mann fügt hinzu: “Wir können jeden Tag aufs Neue entscheiden, wie wir unseren Alltag gestalten wollen.” Die ersten beiden Jahre haben die Auswanderer das Haus renoviert und einen Teil davon in ein Bed & Breakfast umgewandelt. Die Inseln Lewis und Harris sind bei Touristen sehr beliebt. Vor allem im Sommer setzen jede Menge Urlauber mit der Fähre auf die Äußeren Hebriden über.

Helen Strong mit einem Strauch Brennnesseln

Haus und Garten sind für die Auswanderer zum Vollzeit-Job geworden

© Helen Strong

Die meisten von ihnen kommen wegen der Natur, fahren Rad oder wandern den Hebriden-Weg. Als “Menschen, die die Insel erforschen wollen”, bezeichnet Rudi die Besucher. Der 59-Jährige zeige seinen Gästen gerne versteckten Orte. “Es macht mir Freude, die Begeisterung der Leute zu sehen”, erzählt der Ingolstädter. Der Tourismus ist der bedeutendste Wirtschaftszweig auf der Insel, gefolgt von Hummerfischerei und Landwirtschaft. Darüber hinaus sieht der Arbeitsmarkt mau aus. Einer der Faktoren, der den Bevölkerungsrückgang befeuert. “Es gibt keine Jobs für junge Leute”, sagt Rudi. Ein Problem, das nahezu alle schottischen Inseln betrifft und inzwischen auch von der Regierung erkannt wurde. Im “National Island Plan” sind Maßnahmen festgelegt worden, die die Lebensbedingungen auf den Inseln verbessern sollen.

Inselbewohner unterstützen sich gegenseitig

Der “Verlust erwerbstätiger Kräfte” wird als eine der zentralen Herausforderungen für das Fortbestehen der Inselgemeinden benannt. Wegen mangelnder Zukunftsoptionen ziehen junge Menschen weg, es gibt kaum Nachwuchs und die Bevölkerung wird immer älter. Schon jetzt liegt der Anteil der über 65-jährigen Inselbewohner nach Angaben der Gemeinde Comhairle nan Eilean Siar bei 26 Prozent. Auch auf Lewis sei das zu spüren. “Die Insel ist überaltert”, sagt Rudi. “Unsere Nachbarn sind zum Beispiel alle über 80.” Den Mangel an jungen Menschen hat das Ehepaar in den drei Jahren ebenfalls beobachten können. Die Feuerwehr habe Probleme, Nachwuchs zu rekrutieren. Eine Schule, auf die einst zehn Kinder gingen, habe nur noch fünf Schüler und sei deshalb vor Kurzem geschlossen worden. “Jetzt müssen die Eltern ihre Kinder teilweise eine Stunde bis zur nächsten Schule fahren”, berichtet der deutsche Auswanderer.

Der Callanish Stone Circle, eine Steinformation auf der Isle of Lewis

Der Callanish Stone Circle. Die Steinformation auf der Isle of Lewis ist eine beliebte Attraktion bei Insel-Besuchern.

© Helen Strong

Die Inselbewohner versuchen, die bröckelnde Infrastruktur so gut wie möglich zu kompensieren – indem sie sich gegenseitig unterstützen. Am Anfang seien Helen und Rudi “die Fremden” gewesen, doch inzwischen seien sie Teil der Gemeinschaft. “Die Einheimischen sind sogar stolz, dass wir aus Deutschland hierhergekommen sind”, sagt Helen. Der Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft seien außergewöhnlich. Rudi erzählt, wie er einer Nachbarin beim Baumfällen geholfen habe. Das Holz hätten sie anschließend untereinander aufgeteilt, danach gab es Brotzeit – nach Geld frage niemand.

Erste Hilfe für das ganze Dorf

Trotzdem gebe es immer mal wieder “politische Spannungen”. Beide können sich das Lachen kaum verkneifen, als sie von den kleinen Kabbeleien erzählen. “Dein Schaf ist über meinen Zaun gesprungen”, zum Beispiel. Dennoch überwiege die Einigkeit. “Man muss hier zusammenhalten”, betont Helen. Das gilt auch für Notfälle. Da der Notarzt eine Dreiviertelstunde bis zum Wohnort des Ehepaares braucht, hat das Dorf einen Erste-Hilfe-Kurs für alle veranstaltet. Ungefähr 40 der hundert Einwohner nahmen teil. “Bis der Rettungsdienst da ist, marschieren wir also selbst hin und helfen zusammen”, berichtet ihr Mann.

Im “National Island Plan” ist von einer “langfristigen Entwicklungsstrategie” die Rede: “Die Politik muss mit Hilfe der Inseln daran arbeiten, Menschen zu ermutigen, entweder auf der Insel zu bleiben, zurückzukehren oder auf eine Insel zu ziehen”, steht in dem Dokument. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung im “National Island Plan Annual Report 2021” die wichtigsten Kernthemen festgelegt. Demnach arbeite man daran, mehr Wohnraum und Arbeitsplätze zu schaffen, sowie die Infrastruktur und den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern.

Menschen in einem Boot fahren entlang einer Felsenlandschaft

Touristen und Einwohner schätzen an der Isle of Lewis die unberührte Landschaft

© Imago Images

Um junge Menschen anzuziehen, ist zudem der “Island Bond” ins Leben gerufen worden. Familien, die sich für einen Umzug auf eine der Inseln entscheiden, können von der Regierung bis zu 50.000 Pfund erhalten. Eine Entscheidung, die kontrovers diskutiert wird. Während Inselministerin Mairi Gougeon von einem “wirklich positiven Schritt” spricht, fordert Liberaldemokrat Liam McArthur in der Tageszeitung “The Times“, das Geld für Maßnahmen zu verwenden, die den Gemeinden als Ganzes zugutekommen.



Bevölkerungsrückgang: Schottische Inseln: Während Einheimische abhauen, machte ein Ehepaar aus Deutschland den umgekehrten Schritt

“Man kann die Probleme auf der Insel nicht lösen, indem man Geld vergibt”, stimmt Rudi zu. Helen erwähnt die “Crofting Commssion”, die ihrer Meinung nach ein weiteres Problem darstellt. Die Behörde verwaltet kleine, landwirtschaftliche Einheiten, sogenannte “Crofts”. Der Besitzer das Land selbst bewirten oder vermieten. Die “Crofting Commssion” schützt einerseits die Rechte der “Crofter”, legt ihnen aber andererseits auch gewisse Pflichten auf.

“Das ist nicht mehr zeitgemäß”, findet Helen. Denn manche Menschen, die beispielsweise durch Erbfolge in den Besitz eines “Crofts” gelangen, wollen nicht in der Landwirtschaft tätig sein. Wer hingegen einen “Croft” erwerben will, muss ihn entweder – mit Zustimmung der Kommission – überschrieben bekommen oder ihm dem Besitzer abkaufen. Dazu benötigen beide Parteien einen Anwalt, die Kosten trägt jedoch der Käufer. Durch diese finanziellen und bürokratischen Hürden gelangt man nur schwer an diese Art von Land. “Und wenn man kein Land bekommt, kann man auch nicht herziehen“, schließt die Britin.

Natur ist der größte Reichtum der Insel

In ihren Augen bräuchte es dauerhafte Anreize, um Menschen auf die Insel zu ziehen. Für das Ehepaar waren das die persönliche Freiheit und ein Leben in Einklang mit der Natur. “Mein Körper passt sich dem natürlichen Rhythmus an”, erzählt die Helen. Im Sommer, wenn es mehr Tageslicht gibt, habe sie mehr Energie und sei länger wach. “Im Winter hingegen schlafe ich manchmal zwölf Stunden, weil mein Körper das braucht”, sagt sie. Die beiden seien vom Wetter abhängig, deshalb müsse man spontan, flexibel und entspannt bleiben. “Wir machen uns keinen Stress mehr”, betont Rudi.

Strandabschnitt der schottischen Insel Lewis

Strand, grüne Hügel und Felsen – für Helen und Rudi war der Natur der ausschlaggebende Grund für den Umzug auf die schottische Insel

© Imago Images

An manchen Tagen genießt das Paar schlicht die Landschaft, sitzt am Strand und beobachtet Delfine oder Seeadler. “Die Sachen, von denen ich früher nur geträumt habe, kann ich jetzt machen”, sagt Rudi. Für die Auswanderer ist die Natur der größte Reichtum, den die Insel zu bieten hat. Plänen für eine Ammoniak-Fabrik, die neue Jobs schaffen soll, stehen sie deshalb kritisch gegenüber. “Man sollte die schöne Idylle wahren”, findet der Ingolstädter. Es brauche innovative Ideen, um junge Familien anzulocken und ein Loslösen von alten Traditionen, wie den “Crofting”-Regeln, finden die beiden. Außerdem könne man trotz der abgelegenen Lage ein “normales Leben” auf Lewis führen. “Amazon funktioniert hier wunderbar”, sagt Helen und lacht.

Quellen: Citizens Advice Scotland“, “Comhairle nan Eilean Siar – Socio Economic Update“, “Crofting Scotland” (I), “Crofting Scotland” (II), “Crofting Scotland” (III), “National Island Plan“, “National Records of Scotland“, “National Island Plan Annual Report“, “The Herald“, “The Times

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