Politik und Karneval: Wer nutzt hier wem? – Politik

Das Jahr 2023 ist eines, an das man sich erinnern wird, das Jahr einer historischen Zäsur, womöglich einer Zeitenwende – das Jahr, in dem Markus Söder mit seinem Kostüm bei der Frankenfastnacht ganz leicht danebenlangte. Der bayerische Ministerpräsident steht im Ruf eines modernen Meisters der Camouflage, alljährlich ziert er in Veitshöchheim den roten Teppich in einer Verkleidung von streberhafter Vollkommenheit. Marilyn Monroe, Shrek, Gandhi, Edmund Stoiber, die Großen der Weltgeschichte, alle getroffen bis aufs Haar. Diesmal schreitet Söder mit Krummstab und Rauschebart heran. Die BR-Moderatorin sagt zu ihrem Kollegen: “Hast du eine Ahnung, was er darstellt?” Oh, oh.

“Ich hätte jetzt Moses gesagt”, erwidert der Kollege. Moses, das wäre selbst für Söders Verhältnisse eine selbstbewusste Wahl. Aber weil man diesem Mann eben viel bis alles zutraut, hält sich der Bibel-Verdacht an diesem Abend sehr, sehr lange. Da hilft es auch nichts, dass Söder im BR-Interview umgehend ein Interpretations-Notfallpaket liefert: Er sei der “Stammesälteste von Bayern”, der versuche, seine Landeskinder “durch die Krisen zu führen”. Ach so. Sicher nicht Moses? Es kann keine ganz normale Faschingssaison sein, wenn Markus Söder sein Kostüm erklären muss.

Stammesältester? Oder doch Moses? Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (hier mit seiner Frau Karin) musste sein Kostüm erklären.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Das Verhältnis von Karneval und Politik ist hierzulande für alle Beteiligten so ersprießlich, dass eigentlich jeden Moment das Kartellamt einschreiten müsste. Doch 2023 ist auch das Jahr, in dem sich in Aachen die böse Stiefmutter Schneewittchens anschickt, den großen deutschen Karnevalskonsens aufzukündigen. In den USA kennt man den “Rust Belt”, den Rostgürtel, der Begriff beschreibt eine Kette von Bundesstaaten im industriellen Niedergang. In Deutschland könnte man von einem “Carnival Belt” sprechen, einem Narrengürtel, der von Nordrhein-Westfalen über Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland nach Baden-Württemberg und Bayern führt. Wer im Narrengürtel zu irgendetwas gewählt werden will, wird sich seinen Schunkelpflichten nicht schadlos entziehen können.

Früher war Karneval ein Überdruckventil für Verdruss der kleinen Leute. Lange vorbei

Das ist die stille Übereinkunft der Konfetti-Demokratie: Die Faschingsvereinigungen dekorieren Politiker mit seltsamen Orden; die Politiker dekorieren die Faschingsvereinigungen mit ihrer Prominenz. Und das alles live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Historisch betrachtet mag der Karneval ein Überdruckventil für Verdruss und Wut der kleinen Leute gegen die Obrigkeit sein. An den tollen Tagen, hieß es immer, werden die Knechte zu Herren und die Herren zu Knechten. Lange vorbei. Heute haben alle was davon. Selbst die Politiker untereinander tun sich mit ihren Büttenreden lieber nicht weh. Die Festsitzungen sind so etwas wie das politische Äquivalent des Bützens: der organisierte Austausch unbedeutender, aber angenehmer Zärtlichkeiten.

Wenn die Politik närrisch tut: Fastnächtliches Liebesspiel in vollendeter Form: Markus Söder (re.) erhält im badischen Rust die "Goldene Narre", laudatiert vom örtlichen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.

Fastnächtliches Liebesspiel in vollendeter Form: Markus Söder (re.) erhält im badischen Rust die “Goldene Narre”, laudatiert vom örtlichen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.

(Foto: Philipp von Ditfurth/dpa)

Wie das karnevalistische Liebesspiel formvollendet aussehen kann, wenn es von zwei routinierten Profis dargeboten wird, ist heuer im badischen Rust zu bestaunen. Winfried Kretschmann, der dunkelgrüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, laudatiert seinen schwarzen Kollegen Söder, der sich – vermutlich unter dem Vorbehalt demokratischer Wahlen – ja nun doch vorstellen kann, sein schönes Bayernland länger als zehn Jahre zu regieren. “So isch halt in Bavaria / was geht mi mei Gschwätz vo gestern a”, reimt Kretschmann, klingt aber keineswegs so, als würde ihn der Vorgang ähnlich empören wie seine bayerischen Parteifreundinnen und Parteifreunde.

Die Fastnacht ist für Söder und Kretschmann die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Söder revanchiert sich artig mit einem Satz über Kretschmann, den er mit einer Pointe zu versehen sich gar nicht die Mühe macht: “Ich finde, er sollte noch länger Ministerpräsident bleiben, oder meine Damen und Herren?” In der ersten Reihe lacht tapfer Thomas Strobl, der Chef der baden-württembergischen CDU. Die Fastnacht ist für Söder und Kretschmann die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Und während viele Politiker auf Festsitzungen so verloren wirken wie einst der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber in der Berliner Discothek “90 Grad”, kommt diesen beiden zupass, dass ihnen über die Jahre ein geradezu glaubwürdiges Jeckentum zugewachsen ist.

Das politische Erfolgsrezept des Ultra-Realos Kretschmann verdichtet sich nirgendwo so anschaulich wie einmal im Jahr in seiner Jugendheimat Riedlingen am Südrand der Schwäbischen Alb, wenn er die Narrenkappe aufs Philosophenhaupt montiert und mit seinen Zunftbrüdern (Schwestern nicht zugelassen) “Froschkutteln” spachtelt.

Mit wenigen Ausnahmen, etwa der “Bohnebeitel” aus dem Mainzer Stadtteil Mombach mit ihrer “Sozi-Fastnacht”, sind Faschingsvereine eher konservative Rasselbanden. Welchen Politikern sie ihre Schellen, Orden oder Goldenen Eulen andienen, hat also eine nicht zu unterschätzende Aussagekraft: Jene Grünen oder gar Linken, die in der Mitte der Wählerschaft reüssieren können, entnimmt man sehr verlässlich närrischen Einladungslisten. Cem Özdemir zum Beispiel, der 2013 als erster Grüner in Aachen den Orden wider den tierischen Ernst eingesackt und 2018 in Rust die Narrenschelle oben draufgesetzt hat, wird, wenn nichts Gröberes dazwischen kommt, konsequenterweise Kretschmann beizeiten als Ministerpräsident nachfolgen.

Nirgends kommt der Karneval so staatstragend daher wie bei den “Lackschuhkarnevalisten”

In Aachen ist es inzwischen sogar so, dass der Karlspreis nur noch ganz formalistisch der bedeutendste Preis ist, den die Stadt zu vergeben hat. Wer noch etwas werden will, sagen wir mal Bundeskanzler, lässt sich lieber den Orden wider den tierischen Ernst anheften. Der Aachener Karnevalsverein übt sich mit besonderer Passion in der Kunst der strategischen Ehrung, bei der es null um Humor, sondern vor allem darum geht, einen Aufsteiger kurz vor dem Gipfel zu erwischen, wie etwa den Verteidigungsminister Helmut Schmidt 1972. Oder halt wenigstens, bevor der Aufstieg jäh in einen Absturz mündet (Ministerpräsident Armin Laschet 2020).

Wobei, von Lokalmatador Laschet erscheine ja bald ein Buch mit Bestsellerpotenzial, erfährt man Anfang Februar im Foyer der großen Ordensgala. Erst als der Autor höchstselbst vorüberstylert, merkt man, dass nicht Armin Laschet über “Meine Jahre mit Markus” schreibt, sondern Sohn Joe Laschet über Herrenmode. Das ist aber auch stimmig, denn nirgends kommt der Karneval so staatstragend daher wie bei den “Lackschuhkarnevalisten” in Aachen. Die örtlichen Grünen stellt das diesmal vor schlimme Zerreißproben: Einerseits müssen sie den viel sympathischeren “Straßenkarneval” loben, anderseits sich aber natürlich auch wie irre für ihre Annalena freuen, Baerbock kriegt gleich den Orden. Mona Neubauer, die grüne Vize-Ministerpräsidentin, guckt gelegentlich so geschmerzt, als müsste sie ihren Tisch mit einem halben Dutzend CDU-Leuten teilen, was auch der Fall ist.

Ehedem hat sich Konrad Adenauer über die “zersetzenden Satiren” des Karnevals beschwert, eine Klage, die zweifellos mehr denn je zutrifft, auch wenn statt der Staatsräson eher der gute Geschmack zersetzt wird. Der schöne Teil in Aachen ist, dass man dort jedes Mal eine ganze Reihe von Politikerinnen und Politikern bei ihrer Feuertaufe in der Bütt beobachten kann. Das ist häufig aufschlussreich. Diesmal hat NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) Probleme, auch nur eine Pointe leidlich heil in Ziel zu bringen. Doch hängen bleibt etwas anderes: Wie beliebt dieser Reul sein muss, wenn ihm sogar so ein Auftritt bereitwillig verziehen wird.

Wenn die Politik närrisch tut: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) versucht, bei der Verleihung des Ordens "Wider den tierischen Ernst" in Aachen seine Pointen heil ins Ziel zu bringen.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) versucht, bei der Verleihung des Ordens “Wider den tierischen Ernst” in Aachen seine Pointen heil ins Ziel zu bringen.

(Foto: Andreas Rentz/Getty)

Lars Klingbeil kommt mit dem Handicap auf die Bühne, ein Kind des karnevalistischen Brachlands Niedersachsen zu sein, aber auch mit einer klaren Taktik: die Latte so tief legen (“Ich bin Vorsitzender der SPD, da hast du mit Spaß nicht viel am Hut”), dass deren lockere Überquerung dann wie ein Fabelweltrekord gefeiert wird. Klingbeils Beitrag ist keine kabarettistische Sternstunde im engeren Sinne, aber es ist eine Viertelstunde, nach welcher er ziemlich sicher im Saal und beim TV-Publikum deutlich mehr Sympathie genießt als vorher.

Der Karneval ist auch eine hervorragende Gelegenheit, sich um Kopf und Kragen zu reden

Doch dann ist der Karneval natürlich noch etwas: eine hervorragende Gelegenheit, sich um Kopf und Kragen zu reden. Umso mehr, wenn man das gelegentlich auch ganz ohne Karneval hinbekommt. Team Baerbock, hört man, soll also schön schwitzen in Aachen, dabei erkennt man das Wohlwollen für die Außenministerin an diesem Abend schon daran, dass im Beisein der Ritterin Annalena selbst Comedians einen höheren Frauenanteil im Elferrat fordern, die in der Vergangenheit mit ganz anderen Witzchen aufgefallen waren. Die Laudatorin Iris Berben ist sogar so grenzenlos begeistert von Baerbock (“einzigartige Mischung aus Toughness und Optimismus”), dass sie umständehalber zu Kennedy-Zitaten greifen muss (“Frag nicht, was dein Land…”). Am Pressetisch wünscht man sich nach Amerika, wo die Comedians sogar den Wolkenwandler Obama auf den harten Boden des politischen Humors holten.

Nun liegt es an der Außenministerin selbst, sich um ein bisschen Brechung zu bemühen. Beim Bemühen bleibt es dann auch. Ja, es ist Krieg, erschwerte Bedingungen, und Baerbocks Dankesrede hat durchaus ihre Momente (“Ich hatte überlegt, ob ich mich als Leopard verkleiden soll”). Aber ihre Versuche von Selbstironie erinnern an Menschen, die in Poesiealben unter “Meine größte Schwäche” so was wie “Ungeduld” oder “Perfektionismus” schreiben: “Hier bin ich also, so wie ich bin. Eine weibliche Außenministerin, mit offenem Visier.” Narri, narro, helau und alaaf: Was ist das noch für ein Karneval, wenn auf die übliche Bekenntnisrhetorik einfach nur eine rote Clownsnase drapiert wird?

Wenn die Politik närrisch tut: Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann nimmt sich in ihrer Aachener Büttenrede CDU-Chef Friedrich Merz vor.

Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann nimmt sich in ihrer Aachener Büttenrede CDU-Chef Friedrich Merz vor.

(Foto: Andreas Rentz/Getty Images)

In Aachen hat sich offenbar die böse Stiefmutter Schneewittchens vorgenommen, Abhilfe zu schaffen. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die weltführende Talkshowliberale, verbreitet in ihrem Aufzug schon Schrecken, da hat sie noch keinen einzigen ihrer spartanischen Verse über Friedrich Merz zum Besten gegeben: “Nach außen bürgerlicher Schein / im Herzen aber voll gemein”. Im Saal wird es stiller und stiller, auch wenn die Karnevalskapelle das nach Kräften mit Tusch und Täterä verdeckt. Nicht jede Beleidigung ist ein Witz, nur weil gerade Fasching ist. “Grad die, die christlich selbst sich wähnen / sollten sich für ihn was schämen”.

Es entspinnt sich der Zentralmoment des Faschingsjahres 2023. Ist das jetzt die Rückbesinnung auf echte, auch mal zersetzende Satire? Oder einfach nur unangemessen böse und persönlich? So ein Auftritt kommt jedenfalls raus, wenn die Welt und auch man selbst von sich erwartet, dass man immer und überall die Allergeilste ist. Friedrich Merz ist bedient. Wäre er nicht CDU-Chef, sondern Ballettchoreograf, man müsste nun mit dem Schlimmsten rechnen. Stattdessen löst er sich elegant von seinem Manndecker von der Bunten, umkurvt temporeich ein WDR-Team, lässt mit leichter Körpertäuschung auch noch den SZ-Reporter stehen und rettet sich in den abgekordelten VIP-Bereich.

Wenn die Politik närrisch tut: CDU-Chef Friedrich Merz fand nicht zum Lachen, was Marie-Agnes Strack-Zimmermann über ihn reimte.

CDU-Chef Friedrich Merz fand nicht zum Lachen, was Marie-Agnes Strack-Zimmermann über ihn reimte.

(Foto: Imago)

Ein paar Tage später tut CDU-Generalsekretär Mario Czaja, was man im Karneval nie tun darf, eine Entschuldigung fordern. Der Spiegel berichtet, dass FDP-Chef Christian Lindner sich gezwungen sah, in seiner Bundestagsfraktion zu Strack-Zimmermanns Rede kritisch Stellung zu nehmen. Und in der Düsseldorfer Staatskanzlei rätselt man dem Vernehmen nach, warum NRW-Ministerpräsidenten von der CDU immer an der falschen Stelle lachen, diesmal Hendrik Wüst bei den Merz-Versen.

Am Aschermittwoch ist alles vorbei? 2023 kann man da nicht so sicher sein.

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