Passionsspiele in Oberammergau: Die Geschichte ist noch nicht auserzählt

Erstmals wieder seit zwölf Jahren: Im Beisein von viel Prominenz wurden die 42. Passionsspiele eröffnet. Das 388 Jahre alte Stück fasziniert das Kulturpublikum, das in diesem Jahr erstmalig auch jüngere Besucher nach Oberammergau pilgern lässt.

Lange Jahre gehörte es zur deutschen Theatersitte, bei “Bühnenweihespielen” die Hände still zu halten. Ob beim “Parsifal” in Bayreuth, beim “Jedermann” in Salzburg oder natürlich ganz besonders bei den “Passionsspielen” in Oberammergau verharrte das Publikum in Stille und störte die ehrfurchtsvolle Ergriffenheit nicht durch lärmendes Geklatsche. So etwas ist mit dem heutigen Publikum natürlich nicht zu machen, und so donnerte am Samstag nach sechsstündiger Aufführung ein gewaltiger Jubel bei stehenden Ovationen los. Doch trotz aller Säkularisierung und sanfter Neuinterpretationen dieses 388 Jahre alten Stücks, weiß Regisseur Christian Stückl sehr wohl, was er seiner Tradition schuldig ist. Und so verweigerten sich auch dieses Mal die Darsteller, Musiker und Sänger ihren applaushungrigen Zuschauern. Keine Verbeugung, kein Kussmund, kein allerletzter Vorhang.

Und das ist richtig und konsequent. Nicht etwa, um die Andacht der Auferstehungsfinales zu stören, sondern weil diese außergewöhnliche Aufführung nur als Gesamtleistung bewertet werden kann. Denn natürlich sind die Oberammergauer Passionsspiele immer noch das, was sie zu den weltweit berühmtesten ihrer Art hat werden lassen: ein Laienspiel. Es wäre auch keinem zeitgenössischen Schauspieler zuzumuten, diese alten Zeilen auf der Höhe von Zeit und Schauspielkunst interpretieren zu müssen.

Natürlich ist da nicht jeder gleich gut, trifft nicht jede der unausgebildeten Solistenstimmen den Ton der – übrigens wunderschönen –Kompositionen des Rochus Dedler aus dem 19. Jahrhundert. Und selbstverständlich variiert besonders die schauspielerische Leistung auf der Bühne, was im Prinzip auch den Charme ausmacht. Das bairische Idiom wirkt manchmal unfreiwillig komisch, und ist zum Teil auch so gewollt. Etwa wenn ein Jesu-Jünger zwischendurch mit einem urbairischen “Hä?!” antwortet. Auch ungewollte Patzer sorgen bloß für besondere Authentizität, etwa wenn Passionsspiel-Veteran Peter Stückl, der zum zehnten Male dabei ist, seinen Text vergisst und einfach mit einem anderen, aus einer alten Version des Stückes, improvisiert.

Inbrunst und Ernsthaftigkeit aller Beteiligten

Es bleibt eine Glanzleistung, dass aus den rund 5000 Einwohnern Oberammergaus diese künstlerische Qualität hervorzubringen ist. Chor und Orchester unter der Leitung von Markus Zwink können es mit manchem deutschen Stadt- oder gar Staatstheater locker aufnehmen. Insgesamt sind es Inbrunst und Ernsthaftigkeit aller Beteiligten, die diese Aufführung schlichtweg einzigartig machen. Nicht zuletzt die Wucht der Hundertschaften, die sich hier auf der Bühne bewegen, samt tierischen Nebendarstellern, wie Esel, Pferde, Schafe, Ziegen und Trampeltiere. In den Massenszenen werden die Proteste derart lebenswirklich umgesetzt, dass man beinahe Angst bekommt, der Tumult könnte jederzeit auf das Publikum übergreifen.

Im Vorfeld hatte Spielleiter Christian Stückl in den Medien, so auch im stern, seine Konflikte mit der heutige Katholischen Kirche thematisiert. Es wurde sogar infrage gestellt, ob es des ökumenischen Eröffnungs-Gottesdienstes noch bedürfe. Doch diese Zweifel schienen wie weggefegt, als sich der Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx, der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und der als Gast angereiste anglikanische Erzbischof von Kapstadt Thabo Makgoba vor einer riesengroßen rosengeschmückten Dornenkrone am Morgen auf der Bühne versammelten, und die beinahe bedrückende Aktualität der Lehren Christi in Zeiten des Krieges betonten. Wie Bedford-Strohm sagte, sei die Passion nun einmal kein “Historienspiel”, sondern weise auf die “Passion der Menschen” hin, die etwa in der Ukraine einen Krieg erlebten.

Aber auch die Darsteller wären in der Vorbereitung bis an ihre Grenzen gegangen, um mit Herzblut daran zu erinnern, was wiederum Kardinal Marx als “sollte sie wahr sein, wahrhaft größte Geschichte aller Zeiten”, beschrieb. Auch in diesem Gottesdienst zeigte sich der für Christian Stückl so wichtige Schulterschluss mit der jüdischen Religion, die sich später in der Inszenierung noch deutlich werden sollte, indem zwischen “Lobe den Herren” und dem Einzugslied “Heil Dir” aus der Passion der Oberammergauer Chor mit dem hebräischen “Schma Israel” eines der bedeutendsten jüdischen Gebetslieder intoniert wurde – und einen wahrhaften Gänsehautmoment erzeugte.

Wer die Probearbeiten mit dem in jeder Hinsicht passionierten Christian Stückl verfolgen durfte, muss ein wenig darüber traurig sein, dass man ihn selbst bei der Aufführung nicht zu Gesicht bekommen würde. Zum Ende des Gottesdienstes ließ er sich aber doch blicken, so euphorisch, leidenschaftlich und liebenswert, wie ihn die Oberammergauer eben kennen. Während er über die Bühne fegte, schmiss er die große Kerze um, die zuvor den Altar gespielt hatte. Beim “Heil Dir!” reihte er sich in den Kinderchor, den er zuvor noch als Besetzung der Passionsspiele 2030 vorgestellt hatte, und stimmte selbst strahlend mit ein.

Viele Prominenz im Publikum

Währenddessen trudelten draußen vor dem Passionsspielhaus bereits die ersten Promigäste ein. Man merkt, dass die Celebrities lange keinen Auslauf hatten, und nun nach langer Entwöhnung von den Red Carpets, besonders schillern mochten.

Und wer da aller herbeidefilierte: Uschi Glas, die so genannte Begum Aga Khan mit ihrer Mutter Frau Thyssen-Henne, Regine Sixt, Friedrich von Thun, Dieter Hallervorden, der einst von Christian Stückl als Schauspieler entdeckte Clemens Schick, die jüdischen Repräsentanten Charlotte Knobloch und Josef Schuster, Mathias Döpfner in Begleitung einer gewissen Anja, Ben Becker mit Mutter Monika Hansen, Ministerpräsident Markus Söder und sein sachsen-anhaltinischer Kollege Rainer Haseloff, Götz Otto, Dunja Hayali und Collien Fernandez-Ulmen, die an einer eigenen Passionsspiele-Doku für das ZDF arbeitete.

Interessanter noch als die üblichen Honorigkeiten, war aber das restliche Publikum, das diverser nicht hätte sein können. Nachdem Christian Stückl mit seinem enorm erfolgreichen Münchner Volkstheater, das auch als Talentschmiede gilt, vielen jungen Schauspielern, Kreativen und irgendwie talentierten zu einer künstlerischen Karriere verholfen hat, ziehen die Spiele offenbar erstmalig ein sehr buntes, jungen Kulturpublikum an, das man eher bei der Documenta oder dem Berliner Theatertreffen vermuten würde.

Spielleiter Christian Stückl trifft Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, bei der Premiere.

Spielleiter Christian Stückl trifft Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, bei der Premiere.

© Peter Kneffel/Pool / AFP

Die Inszenierung des Passionsspiels muss jedes Mal wieder eine Herausforderung sein, schließlich gilt es jenes mythische Gelöbnis der Oberammergauer aus dem Jahr 1633 zu wahren, und sich nicht als Regisseur darin verwirklichen zu wollen. Der Deutungsrahmen ist also beschränkt, und die Hauptaufgabe des Spielleiters liegt ohnehin an der Mammutaufgabe, die Massen an Darstellerin anzuleiten und irgendwie in Griff zu bekommen. Zumal jeglicher postmoderne Anklang, jede Ironie oder Metaebene dem Stück in der Sekunde den Boden entziehen würden.

Christian Stückl gelingt es dennoch, seine Handschrift erneut deutlich kenntlich zu machen. Der Chor der Spiele tritt zu Beginn als Dorfbevölkerung Oberammergaus des Jahres 1633 auf und bleibt in dieser Tracht, die ein wenig an jene der Amish People erinnert. Es ist ein besonderer Kunstgriff, dass sich all die Nazarener, Jerusalemer und Römer des eigentlichen Passionsspiels so mit den Oberammergauern des 17. Jahrhunderts vermengen, und diese permanent als eine schicksalshaft verbundene Parallelwelt beieinanderbleiben.

Die Bühne des Passionsspielhauses, die seit 1930 besteht, wurde zu einer großen Tempelanlage mit seitlichen Gassen und Durchgängen umgebaut. Darüber erstreckt sich der offene Himmel, der im Laufe des Tages mit heller Sonne, blauer Stunde bis zur nächtlichen Finsternis seine eigene Dramatik beisteuert.

Das Pessachmahl mit den Jüngern

Stückls Vision des diesjährigen Stückes ist es, so erklärte er selbst während der Probearbeiten, den Fokus auf den sozialen Jesus zu lenken, jenen Revoluzzer des Altertums, der bei den Huren und damals allgemein verachteten Zöllnern stand und die Reichen zur umfassenden Umverteilung aufrief. Und abermals erzählte er die Geschichte als einen innerjüdischen Konflikt – in besonderer Abgrenzung von dem einst antisemitisch geprägten Stück, das Hitler 1934 besucht und für “reichswichtig” erklärt hatte.

Abendmahl Oberammergau

Szene beim letzten Abendmahl: Jesus und die zwölf Apostel beim Pessachmahl.

© Rudolf Gigler / Imago Images

Nicht nur Hohepriester mit ihren emsigen Talmudschülern treten in jüdischer Tracht auf, auch Jesus und seine Jünger sind erkennbare Juden. Man kann es symbolhaft am Standort der großen Menora, des Siebenarmigen Kerzenleuchters, erkennen, der als Requisit traditionell bei Kaiphas, Annas & Co. eingesetzt worden war, und sich nun zentral auf der Tafel des letzten Abendmahls wiederfindet, das hier ganz offensichtlich als das gezeigt wird, was es gewesen war: ein Pessachmahl, bei dem Jesus das ungesäuerte Mazen als Brot bricht.

Und doch sind es ganz andere Elemente, die in der dreistündigen Pause für Debatten sorgen. Der erste Teil ist eine teilweise langatmige Auseinandersetzung zwischen Nazarenern, Hohepriestern und des kaiserlichen Statthalters Pontius Pilatus, eine Art Gerichtsepos des altertümlichen Nahen Ostens.

Es ist einigen herausragenden schauspielerischen Leistungen zu danken, dass diese stundenlange Auseinandersetzung nachvollziehbar und lebhaft bleibt: Frederik Mayet als mitreißend und überzeugend predigendem Jesus, Cengiz Görür als anrührend hadernder Judas, Andreas Richter als uneinsichtigem Lordsiegelbewahrer Kaiphas, Peter Stückl als hetzerischem Alten Annas, Walter Rutz als aufrichtigen Jesus-Verteidiger, Joseph von Arimathäa du Anton Preisinger als Pontius Pilatus. Man muss es sich immer bewusst machen, dass die Herren im bürgerlichen Leben als Pressesprecher, Diplom-Psychologe, Gastronomen, Hotelwirte oder Werkleiter arbeiten. In den leider nur kleinen Frauenrollen brillierten Barbara Schuster als Maria Magdalena und Andrea Hecht als Maria.

“Leistet dem, der euch Böses tut, Widerstand”

Obwohl die Textfassung lange vor Beginn der Kriegshandlungen feststand, meinten manche Zuschauer in den akzentuiert vorgetragenen pazifistischen Texten Jesu einen Kommentar zur aktuellen Debatte über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu erkennen – und zwar viel konkreter und deutlicher, als es die Bischöfe am Morgen noch eher ungefähr formuliert hatten. Ein früherer Chefredakteur einer großen deutschen Tageszeitung formulierte es in der Pausendebatte so: “Dieser Jesus klingt beinahe so, als würde er gerne den unsäglichen öffentlichen Brief von Alice Schwarzer unterschreiben wollen.” Und tatsächlich scheinen die Zeilen unmissverständlich, wenn Judas proklamiert, er würde “Gott dienen, aber nicht in Knechtschaft”, und Jesus bekanntermaßen antwortet: “Leistet dem, der euch Böses tut, Widerstand. Doch tut es so: Wenn euch jemand auf die rechte Wange schlägt, dann haltet ihm auch die andere hin.”

Dass ein heterogenes und bunt zusammengewürfeltes Publikum tatsächlich in der Oberammergauer Sonne hockt, tatsächlich Moskau Mules und Ettaler Klosterbier trinkt und dabei Thesen aus der Bergpredigt debattiert, ist nahezu unglaublich. Und für sich ein kleines Wunder, besonders wenn sich mancher am Ende als “Team Judas” erklärt.

Der zweite Teil des Stücks ist dann weniger intellektuell geprägt als bildstark. Schließlich geht es nun ans Leiden, an die eigentliche Passion. Und ihr metaphysisches Ende. Wenn sich schließlich die Kreuze in den Abendhimmel erheben, und das Kruzifix mit einem echten Menschen vor einem steht, kann sich keiner der überwältigenden Ikonographie entziehen. Dass Stückl den Zuschauern den real existierenden angesichtigen Auferstandenen verweigert, hat zuvor für Diskussionen gesorgt, und wurde gar als weitere Abkehr von der katholischen Erzählung gedeutet. Das Gegenteil ist der Fall. Stückl nimmt sogar Anleihe an der katholischen Inszenierung der Osternacht, in der dem Heiland mit einem Lichtermeer gedacht wird und das Feuer seiner Botschaft weiterreichen und in die Welt tragen lässt. Mit diesem Bild entlassen die Oberammergauer in diesem Jahr ihre Gäste in die Nacht. Und dem guten Gefühl, dass diese alte und immer noch heftige Geschichte noch lange nicht auserzählt ist.

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