Narzissmus: Sollte ich zur Beerdigung meiner fiesen Mutter gehen?

Christiane R. hat unter dem Narzissmuss ihrer Mutter ihr Leben lang gelitten. Nun wird diese sterben. Der Gedanke an die Beerdigung macht der Tochter Angst.

Liebe Frau Peirano,

ich bin 56 und habe mein ganzes Leben unter meiner Mutter gelitten. Mein Vater hat viel gearbeitet und die beiden haben sich getrennt, als ich acht Jahre alt war. Meine Mutter hat uns  (meine Schwester und mich) als Kinder vernachlässigt. Schon als ich ein Baby war und meine Schwester 2 Jahre alt, hat sie uns stundenlang alleine gelassen, weil sie in Ruhe einkaufen und Tennis spielen wollte.

Ich weiß das von unserer damaligen Nachbarin. Meine Mutter war Hausfrau und gut situiert, sie war also nicht in Not. Als ich sie darauf angesprochen habe, hatte sie kein Verständnis, obwohl ich mich bis heute oft auf unerklärliche Art einsam und verlassen fühle und keine Hilfe annehmen kann. Ich glaube, dass das daher kommt.

Sie hat nach außen die tolle Mutter gespielt, aber nach innen mussten wir gehorchen und ihre Wünsche erfüllen. Wenn nicht, war sie beleidigt und hat tagelang geschmollt. Ich habe bis vor fünf Jahren nicht direkt auf Situationen reagiert, sondern versucht, die Reaktionen meiner Mutter vorherzusehen und habe auf meine Mutter reagiert. Ich habe immer versucht, ihr alles recht zu machen und bloß gegen keine ihrer dauernd nach ihrer Stimmung wechselnden Regeln zu verstoßen. Ich war die brave Tochter, die ihrer Mutter gefallen wollte. Ich wollte immer nur abwenden, dass sie mich bestraft. Und sie hat mich trotzdem bestraft.

Ein Beispiel: Ich habe mich von meinem Mann getrennt, als ich zwei kleine Kinder hatte. Meine Mutter und mein Stiefvater haben mir finanziell geholfen und einen Privatkredit gegeben, damit ich das Haus halten konnte. Doch als der Blumenstrauß zum Geburtstag meiner Mutter nicht groß genug war und ich kurz danach auch noch einen richtig tollen Mann kennenlernte, mit dem ich bis heute zusammen bin, teilte sie mir per SMS mit, dass sie das Geld selbst brauche und ich es ihr sofort zurückzuzahlen hätte. Ich musste dann mit den Kindern aus dem Haus ausziehen. Meine Mutter hat viel Geld geerbt und lebte in Saus und Braus.

Ich habe zehn Jahre lang versucht, mit ihr einen abgegrenzten und zivilen Kontakt zu haben, in dem man sich ab und zu mal trifft, Smalltalk hält und gemeinsam auf Familienfesten sein konnte, ohne dass es Streit gibt. Das war nicht möglich. Sie hat immer wieder die Grenzen überschritten, Konflikte erzeugt und in der ganzen Familie Lügengeschichten über mich erzählt, sodass ich letztlich auch bei ihren Freunden, die ich seit Jahrzehnten kenne, und bei meinen zwei Tanten, mit denen ich mal nah war, als egoistische, herzlose Lügnerin dastehe. Das hat sehr wehgetan. 

Ich kann es auf eine simple Formel bringen: Alle Menschen, die mit meiner Mutter und mir zu tun haben, halten mich für schwierig, egoistisch und streitsüchtig. Alle Menschen, die mich kennen, aber mit meiner Mutter nichts zu tun haben, finden mich freundlich, umgänglich, empathisch, tüchtig und verlässlich. Und das bin ich auch.

Meine Kinder wurden in diesen Konflikt hereingezogen, weil meine Mutter sie mit Geschenken bestochen hat und ihnen gegenüber nur selten so gemein war. Jetzt, wo meine Kinder erwachsen sind und ihr eigenes Leben haben, lernen sie auch die eiskalte und unberechenbare Seite ihrer Oma kennen.

Ich habe vor fünf Jahren eine Therapie begonnen und endlich die Erklärung für das Problem gefunden, was sehr entlastend war. Meine Mutter hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Ich habe den Kontakt zu ihr nach einem letzten erfolglosen Gespräch abgebrochen und lebe gut damit. Meine Schwester sieht sie nur selten.

Sie ist mittlerweile 89 Jahre alt und lebt noch mit meinem Stiefvater zusammen. Ich habe jetzt von Bekannten erfahren, dass sie Krebs hat und wahrscheinlich nicht mehr lange leben wird. So schlimm es klingt: Das erleichtert mich auch irgendwie, da ich immer die Angst hatte, dass sie mich wieder angreift und Ärger macht. Erst mit ihrem Tod kommt endgültig Ruhe in die Sache. 

Es steht für mich nicht zur Debatte, ob ich sie noch einmal besuchen möchte. Ich habe die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung schon lange begraben, und das letzte gescheiterte Klärungsgespräch mit ihr hat mir das letzte bisschen Hoffnung genommen.

Ich träume aber oft von ihrer Beerdigung und frage mich, ob ich dort hingehen sollte. Dafür spricht, dass es ein Abschied wäre, und außerdem würde ich meine Kinder unterstützen.

Aber auf der anderen Seite wird es sicher noch einmal viel aufwühlen, und ich möchte einfach nicht den ganzen Leuten begegnen, die nur Lügen über mich gehört haben und mich für den Teufel halten. Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, mit Menschen gut klarzukommen, anständig und fair zu sein, mehr zu geben als zu nehmen, und trotzdem stehe ich vor dieser Gruppe wie eine schlechte Tochter da, die ihre arme Mutter einfach alleingelassen hat im Alter.

Und wahrscheinlich werden auf der Beerdigung alle das Bild von ihr zeichnen, das sie nach außen vorgespielt hat: die interessante, künstlerische Person, die ein buntes Leben hatte und eine tolle Mutter war, ihren Kindern immer geholfen und ihre Enkel geliebt hat. Die von ihren Kindern einfach im Stich gelassen wurde. Sie wird als armes Opfer dargestellt und meine Schwester und ich als Täterinnen. Das wird mir in der Seele wehtun. 

Ich würde gerne eine Entscheidung treffen, wie ich mit der Beerdigung umgehe, damit ich wieder ruhig schlafen kann. 

Wie sehen Sie das von außen?

Herzliche Grüße
Christiane R.

© Kirsten Nijhof

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben. 

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Liebe Christiane R.,

ich habe in meiner Praxis viele Töchter narzisstischer Mütter behandelt, und deshalb kenne ich die Spuren, die solche Mütter hinterlassen. Sie haben mein volles Mitgefühl für den narzisstischen Missbrauch, den Sie durch Ihre Mutter erleiden mussten!

Das besonders Fatale an Narzissmus ist: Die Störung ist von außen nicht leicht ersichtlich wie zum Beispiel eine Schizophrenie oder eine schwere Depression. Nach außen hin gelingt es vielen narzisstischen Müttern, insbesondere verdeckten Narzisstinnen, sich als hingebungsvolle Übermutter zu präsentieren. Und sehr oft haben narzisstische Mütter einen Partner, der sich als Co-Abhängiger mit um sie und ihre Störung dreht, ihnen nach dem Mund redet, keine Kritik oder Widerworte äußert, ihre Lügen glaubt, die Manipulationen nicht durchschaut und oft auch als Erfüllungsgehilfe fungiert. Sie schreiben nichts darüber, wie Ihr Vater oder Stiefvater sich Ihnen gegenüber verhalten hat und ob er Ihnen geglaubt oder geholfen hat.

Es hört sich so an, als wenn Ihr Vater sich rausgehalten hat – durch sein Wegschauen und stilles Billigen der Situation hat er Ihnen vermittelt: Das, was deine Mutter mit dir macht, ist in Ordnung. Und wahrscheinlich haben Sie, wie Kinder es nun mal tun, den Schluss daraus gezogen: Wenn das Verhalten meiner Mutter in Ordnung ist und mein Vater zustimmt, dann muss es ja an mir liegen, wenn ich mich nicht wohlfühle.

Narzissmus zieht weite Kreise

Meistens zieht das narzisstische Muster weite Kreise und viele Menschen, die aus der Familie der narzisstischen Mutter kommen oder mit ihr befreundet sind, lassen sich einwickeln und glauben ihr. Da Narzissten lügen, manipulieren oder Gaslighting betreiben, niemals schuld sind und die Schuld auf andere schieben, gibt es dann wieder im Umfeld der Familie eine naheliegende Erklärung: Die Tochter ist Schuld daran, dass die Mutter so unglücklich ist.

Heilung und Anerkennung gibt es in der Regel nur in einem Umfeld, das mit der narzisstischen Mutter nichts zu tun hat und nicht von der toxischen Energie vergiftet wurde.

Sie haben sicher im Rahmen Ihrer Therapie viel über Narzissmus gelesen. Ich empfehle trotzdem noch einmal Literatur, denn Wissen ist Macht!

“Immun gegen toxische Menschen. Psychologische Tools für den Umgang mit Narzissten und anderen Leuten, die dir nicht guttun” von Lisa Irani und Anna Eckert.

Karyl McBride: “Werde ich jemals gut genug sein? Heilung für Töchter narzißtischer Mütter”

Und besonders empfehlenswert: Die Internetseite narzissmus.org für Töchter narzisstischer Mütter. Es gibt sehr viel Kraft, immer wieder zu spüren, dass Sie nicht allein sind mit Ihren Problemen, sondern dass auch andere Frauen in einer ähnlichen Art betroffen sind und lebenslang unter ihren Müttern leiden.

Kommen wir nun zu Ihrer Frage, ob Sie auf die Beerdigung gehen sollten. 

Ich würde Ihnen an der Stelle noch einmal ganz deutlich raten, nur auf sich und Ihre Gefühle zu hören und nicht auf vermeintliche Erwartungen von außen oder in dieser Situation nicht hilfreiche Ansichten wie: Aber sie ist doch deine Mutter! Du solltest ihr verzeihen! Oder: Es sind doch nur zwei Stunden, das kannst du doch mal machen!

Ihre Mutter hat sich nicht verhalten wie eine Mutter sich verhalten sollte. Sie hat Sie nicht geschützt, sondern Ihnen geschadet. Und damit gelten die üblichen Spielregeln auch nicht und Sie müssen für sich schauen, was Ihnen hilft.

Machen Sie doch einmal eine sogenannte Exposition in sensu: Wir Verhaltenstherapeut:innen bieten Konfrontationen oder Expositionen in vivo an, also in der Realität. Wir gehen mit AngstpatientInnen in einen Tunnel, betrachten Spinnen oder setzen uns auf einen Hundespielplatz, wenn jemand eine Hundephobie hat. Oder wir machen eine Exposition in Gedanken, (in sensu), wenn das nicht möglich ist (z.B. bei einer Beerdigung, einer Operation, einer Prüfung).

Stellen Sie sich doch einmal ganz in Ruhe vor, Ihre Mutter würde sterben und Sie würden zusagen, auf die Beerdigung zu gehen. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich in den Tagen davor fühlen würden, wie Sie Ihre Kleidung aussuchen, zum Friedhof fahren, dort auf die Horde von Menschen treffen, die Sie alle für den “Teufel” halten, wie Sie sich damit fühlen würden, wie Sie Ihren Kopf halten, wer an Ihrer Seite wäre, auf welchen Platz in der Kapelle Sie sich setzen würden. Wie würde es Ihnen gehen, wenn die Trauerrede gehalten wird, in der Ihre Mutter in einem ganz anderen Licht dargestellt wird, als Sie sie kennen? In dem Ihr Leid also verleugnet wird?

Können Sie dem standhalten? Wie fühlen Sie sich, wenn der Sarg aus der Kapelle gefahren wird und Sie am Grab Ihrer Mutter stehen? Sind da mehrere Gefühle, auch z.B. Erleichterung, dass sie Ihnen endlich nichts mehr antun kann? Wäre es hilfreich, das zu erleben? Was würde Ihnen helfen, das durchzustehen? Wäre es gut, Ihren Mann oder Ihre Kinder in der Nähe zu haben?

Würden Sie hinterher noch mit der Trauergesellschaft den Leichenschmaus besuchen? Wie würden Sie sich fühlen? Was würden Sie sagen, wenn jemand Sie auf Ihre Mutter anspricht oder sie in einem anderen Licht darstellt? Würde die Verleugnung schmerzen? Oder würden Sie eine Antwort finden, um Ihre Erfahrungen darzustellen?

Wie würden Sie sich am Tag nach der Beerdigung fühlen? Und wie Wochen später, wenn Sie darauf zurückblicken? Würde es Ihnen Kraft geben oder nehmen, dabeigewesen zu sein?

Und dann denken Sie doch einmal nach, worum es genau ginge beim Besuch der Beerdigung: Darum, dass Sie Ihre Mutter in dem schweren Moment nicht allein lassen wollen? Ist das ein guter Grund?

Oder wollen Sie sich vergewissern, dass Ihre Mutter wirklich tot ist und der Unfrieden ein Ende hat? Wäre das auch anders möglich? Ich kenne einen Bestatter, der mir erzählt hat, dass Angehörige sich manchmal einen privaten Abschied beim Bestatter erbitten und dass einige ihre Angehörigen dabei auch beschimpfen oder anschreien, ihnen Vorwürfe machen oder auf ihre eigene Art mit Ihnen abrechnen. Das leuchtet mir ein. 

Packen wir mal Werte und Konventionen beiseite, sondern schauen wir mal auf Ihre Bedürfnisse: Wäre das vielleicht eine Alternative für Sie? Stellen Sie sich das doch auch in einer Exposition in sensu vor, wie Sie alleine am Sarg Ihrer Mutter stehen und ihr alles an den Kopf werden, was es noch an offenen Rechnungen gibt. Wir würde sich das anfühlen?

Wie wäre die dritte Variante: Sie erfahren vom Tod Ihrer Mutter, vom Tag der Beerdigung und beschließen, genau an dem Tag und um die Uhrzeit eine besonders entspannte Massage im Spa Ihrer Wahl zu buchen, oder sich mit Ihrer Therapeutin zu treffen, oder irgendetwas anderes zu tun, was Ihnen angemessen erscheint. Stellen Sie sich das wieder vor: Wie würde es Ihnen gehen, wenn Sie sich um sich kümmern, während Ihre Mutter beerdigt wird? Wie würden Sie sich in Bezug auf Ihre Kinder fühlen, wie könnten Sie sie aus der Ferne unterstützen? 

Was würde Ihnen helfen, noch einen großen weiteren Schritt in Richtung Abschied und Heilung zu machen? Zum Beispiel ein Brief, den Sie Ihrer Mutter ins Grab legen oder legen lassen? Oder mehr Yoga, mehr Meditation, eine Reise, das Lesen eines bestimmten Buches?

Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich aktiv für eine dieser Varianten entscheiden können und daran arbeiten loszulassen. Hoffentlich finden Sie dann noch mehr inneren Frieden.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

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