Märchen für München: Neue Erzählformen online und offline – München

Wer in den Wald hineingeht, kommt als eine andere, ein anderer wieder heraus. Diese Erfahrung eint die Grimm’schen Heldinnen und Helden, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Sie heißen Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Schneeweißchen und Rosenrot, Jorinde und Joringel oder Schneewittchen, um nur einige der berühmtesten zu nennen. Im Wald erleben sie schaurig-schöne Begegnungen mit gefräßigen Wölfen, goldenen Vögeln, mal liebenswerten oder mal garstigen Zwergen, verwandelten Prinzen, hinterlistigen Hexen und alten Zauberinnen. Es sind Begegnungen, die ihr Publikum bis heute faszinieren – insbesondere, wenn sie so lebendig modifiziert dargeboten werden wie in den nachfolgenden Münchner Varianten.

Mammutprojekt

Die Erzählerinnen Katharina Ritter, Cordula Gerndt und Gabi Altenbach “befreiten” in einem gemeinsamen Kraftakt die Grimm’schen Märchen aus den Buchdeckeln.

(Foto: Illustration: Gisela Mehren)

Wie kaum eine andere versteht es die Münchner Geschichtenerzählerin Katharina Ritter, Meisterin des dunklen Tons mit deutlich alemannischem Zungenschlag, die Schicksale der Grimm’schen Märchenfiguren mit unheimlich-leisem Raunen heraufzubeschwören. “Bei uns hat die Schriftsprache gewonnen”, sagt Ritter. “Lesen Sie morgen vor?”, werde sie deshalb oft gefragt. “Weil man sich das gar nicht mehr vorstellen kann, dass jemand eine Geschichte weder vorliest oder rezitiert, sondern frei erzählt.” Glücklicherweise setzte vor einigen Jahren die “Entdeckung der Mündlichkeit” ein: 2017 erklärte die deutsche Unesco-Kommission das Märchenerzählen zum immateriellen Kulturerbe.

Projekte in München: Frei heraus und jedes Mal ein wenig anders erzählt: Katharina Ritter bei einem Auftritt im Bregenzerwald.

Frei heraus und jedes Mal ein wenig anders erzählt: Katharina Ritter bei einem Auftritt im Bregenzerwald.

(Foto: Barbara Matt)

Gemeinsam mit ihren beiden Mitstreiterinnen Gabi Altenbach und Cordula Gerndt initiierte Ritter 2008 in München das weltweit einzigartige Mammutprojekt “Ganz Grimm”. In dreijähriger Pionierarbeit befreiten die “Schwestern Grimm” alle 200 Kinder- und Hausmärchen ihrer “Brüder” aus den Buchdeckeln und erzählten sie 33 Abende lang frei. So schaurig-scheußlich, anschaulich und frech, dass die Kunde davon weit über die Stadtmauern von München hinausdrang. So gingen auch die drei Fabuliererinnen auf Erzähltour in die weite Welt hinaus, bis nach Amerika und Kanada. Kehrten aber glücklicherweise immer wieder nach Hause zurück. Wo sie regelmäßig für einen Märchen-Marathon im Gasteig oder in der “Ars musica” im Stemmerhof stehen oder, besonders schön, beim Gute-Stube-Festival in privaten Wohnzimmern verzaubern. Ihr Grimm-Erzählprojekt wurde live mitgeschnitten, die 33 Stunden Hörvergnügen gibt es jetzt auch als Stream und Download.

Ganz Grimm, 33 Stunden Märchen-Marathon unter www.ganzgrimm.de

Fein gereimt

Projekte in München: Im großen Wald findet Schneewittchen Zuflucht in einem kleinen Haus - und putzige neue Freunde in den sieben Zwergen.

Im großen Wald findet Schneewittchen Zuflucht in einem kleinen Haus – und putzige neue Freunde in den sieben Zwergen.

(Foto: Daniela Bunge/Knesebeck Verlag/München 2021)

“Und wenn er nicht gestorben ist, kann’s sein, dass er sie heut’ noch küsst” heißt ein kürzlich im Münchner Knesebeck Verlag erschienenes Märchenbuch, das 14 der bekanntesten Grimm’schen Märchen in Reimen versammelt: “Doch als die böse Stiefmama / mal wieder in den Spiegel sah / und fragte, wer die Schönste sei / (sie dachte nur an sich dabei), / gab er zur Antwort: ,Nun, hier drin / seid Ihr es wohl, Frau Königin’. / Viel schöner doch ist in den Bergen/ Schneewittchen bei den sieben Zwergen!”https://www.sueddeutsche.de/muenchen/.” Die Abenteuer von Schneewittchen – aus dem hier zitiert wurde – und ihren berühmten Schicksalsgenossinnen wie Rotkäppchen, Dornröschen und Aschenputtel hat die Dichterin Cornelia Boese in virtuos und witzig gereimte Form gebracht. Dazu hat Daniela Bunge, die in Regensburg Pädagogik und an der Münchner Kunstakademie Illustration studierte, traumhaft schöne Bilder entworfen. Ein Text-Bild- Gesamtkunstwerk, das nicht nur junge Leser entzücken dürfte.

Cornelia Boese / Daniela Bunge: Und wenn er nicht gestorben ist, kann’s sein, dass er sie heut noch küsst, Knesebeck München 2021

Vom Pech verfolgt

Projekte in München: Auf die Zumutung, arbeiten zu sollen, kennt die zukünftige Pechmarie (Paulina Ferrari) in dem Märchen Frau Holle nur eine Antwort: entsetztes Schreien.

Auf die Zumutung, arbeiten zu sollen, kennt die zukünftige Pechmarie (Paulina Ferrari) in dem Märchen Frau Holle nur eine Antwort: entsetztes Schreien.

(Foto: Rolf Demmel/Münchner Theater für Kinder)

Eine höchst vergnügliche Begegnung mit Frau Holle, der grimmschen, etwas verniedlichten Variante der mythischen Urfrau Holle, Holda oder Hulda, ist derzeit im Münchner Theater für Kinder möglich. Frau Schnöselbach wäre sehr gern reich. Dummerweise ist sie aber faul, verschwenderisch und zu stolz zum Arbeiten, genau wie ihre Tochter Marie. Also überreden sie Maria, ein gutherziges und fleißiges Bauernmädchen, für sie zu arbeiten. Als Maria sich eines Tages übermüdet beim Nähen in den Finger sticht, will sie sich im Brunnen waschen, fällt hinein – und landet im Reich von Frau Holle. In der Regie von Michael Tasche geht es dabei wie immer sehr unterhaltsam und melodisch zu. Über ein flottes Liedchen findet die arme Maria sogar ihren verschollenen Vater wieder. Den hat Theaterleiter Tasche kürzlich zwei Wochen lang selbst gespielt, wegen eines Corona-Falls im Ensemble. Auch wenn einiges anders ist in seiner Stückfassung: Selbstloses und berechnendes Tun werden auch hier ganz grimmgetreu gegeneinander aufgewogen und die eine Marie am Ende mit Gold, die andere mit Pech überschüttet.

Überraschendes von oben rieselt auch in einem anderen der bekanntesten Grimm’schen Märchen auf eine Heldin herab: “Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich” bittet das verzweifelte Aschenputtel, als es kein passendes Kleid für den Ball bei Königs hat. Das Marionettentheater Bille zeigt in seiner neuen Interims-Spielstätte in Unterschleißheim seine Figurentheaterfassung des Märchens. Ab April müssen Florian und Wlada Bille weiter auf Spielstätten-Suche gehen – wer weiß, vielleicht erhalten auch sie Hilfe von oben.

Frau Holle, 6. /7. / 15./16. und 30. Januar, 10 und 15 Uhr, Münchner Theater für Kinder, Dachauer Str. 46; Aschenputtel, 8./9. Januar, 15 Uhr (auch als Live-Stream), Marionettentheater Bille im Genezareth-Zentrum, Alleestr. 57

Frei fabuliert

Projekte in München: Aus dem Leben des Lügenbarons Münchhausen erzählt Michl Zirk - dabei hat auch Andrea Gonze als Ehefrau und Pferd ein Wörtchen mitzureden.

Aus dem Leben des Lügenbarons Münchhausen erzählt Michl Zirk – dabei hat auch Andrea Gonze als Ehefrau und Pferd ein Wörtchen mitzureden.

(Foto: Stefan Roess)

Eine Gelegenheit, in die lebendige Geschichtenwelt fernab des Grimm’schen Märchenwalds einzutauchen, bietet sich zu Dreikönig beim Erzählkunstfestival “Zauber Wort” in Nürnberg. “Jetzt erst recht!”, hat sich dessen Organisator, der promovierte Literaturwissenschaftler und Diplom-Theologe Michl Zirk vor einigen Wochen gedacht. Da stand zur Diskussion, das bereits um ein Jahr verschobene Festival noch einmal zu verschieben. “Aber auch wenn sich die Auftritte wirtschaftlich mit nur 25 Prozent Auslastung in der Tafelhalle, im Krakauer Haus oder im Glaspalast nicht wirklich lohnen: Wir müssen verhindern, dass die Kultur noch mehr ins Hintertreffen gerät.” So also sind vom 5. bis zum 9. Januar Erzähler und Erzählerinnen aus ganz Deutschland zu erleben, manche reisen sogar aus der Schweiz oder den Niederlanden an. Zirk selbst erzählt am 9. Januar in einer Matinee von dem berühmten “Lügenbaron” Münchhausen. Der ist bei ihm in die Jahre gekommen, fabuliert aber immer noch gern von seinen fantastischen Abenteuern. Ihm zur Seite steht sein Pferd, “das sich wie eine Ehefrau verhält”, so Zirk. “Wir alle kennen das Phänomen von alten Ehepaaren, die einem vom gemeinsamen Urlaub erzählen: Der eine fällt dem anderen ins Wort, korrigiert, ergänzt, hat seine oder ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge”. Beizutragen hat das Pferd sicherlich einiges: Schließlich wurde es auf der Flucht zweigeteilt oder landete mit seinem Freiherrn auf der Kirchturmspitze. Damit im Dialog alles schön lebendig wird, übernimmt Andrea Gonze die Doppel-Rolle von Pferd und Ehefrau.

Zauber Wort – Erzählkunstfestival zu Dreikönig in Nürnberg, 5. bis 9. Januar, Termine und Karten unter zauberwort.info

Böse-Nacht-Geschichte

Projekte in München: Tommy Krappweis in seiner Filmproduktionsstätte in Otterfing: Hier wurde mit Michael Kessler und Bettina Zimmermann die Hörspielserie "Kohlrabenschwarz" aufgenommen.

Tommy Krappweis in seiner Filmproduktionsstätte in Otterfing: Hier wurde mit Michael Kessler und Bettina Zimmermann die Hörspielserie “Kohlrabenschwarz” aufgenommen.

(Foto: Claus Schunk)

Ein begabter Geschichtenerzähler ist auch der Autor (Erfinder des Kinderkanal-Philosophen “Bernd das Brot”), Regisseur und Produzent Tommy Krappweis. Jüngster Streich des Münchner Multitalents ist die Hörspiel-Serie “Kohlrabenschwarz”. In dem düster-märchenhaften Mix aus Mystery, Heimatkrimi und Komödie geht es um bajuwarische Schreckensgestalten, mit denen es ein schräg skurriles Ermittlerquartett um den eigenbrötlerischen Polizeiseelsorger Stefan Schwab in Rosenheim zu tun bekommt. Den spricht der Comedian Michael Kessler, ihm zur Seite stehen Bettina Zimmermann, Bettina Lamprecht und Jürgen Tonkel. Bond-Bösewicht Götz Otto führt als Erzähler durch die mysteriösen Kriminalfälle, in denen alte Märchen- und Sagenfiguren wieder auferstehen. So fängt der “Kraxelmann” mit langem Stock und Käfig “unartige Kinder”, und der “bluadige Damerl” oder der Zauberlehrling von Straubing treiben ihr Unwesen. Die achtteilige Serie von Krappweis und Christian von Aster erwies sich als so erfolgreich, dass in diesem Winter bei Audible bereits die zweite Staffel erschien. Erneut werden lokale Märchen und Legenden aufgegriffen, unter anderem kommt die “gespenstische Schicksalsgräfin” aus der Münchner Residenz zum Einsatz, die als sogenannte “schwarze Wittelsbacherin” von kommendem Unheil kündet. Für alle, die lesenderweise lieber eigene Stimmen im Kopf erzeugen: Soeben ist “Kohlrabenschwarz” als Roman erschienen, von Krappweis’ Frau Sophia aufgeschrieben, “und direkt in die Kindle Top 50 eingestiegen”, freut sich Krappweis, der in einem Youtube-Video das Buch vorstellt.

Kohlrabenschwarz, von Tommy Krappweis und Christian von Aster, Staffel 1 & 2, Audible Original Hörspiel-Serie

Direkt vor der Haustür

Projekte in München: Wie es zur Erfindung der Weißwurst kam ist eine der 21 Geschichten, die in dem "Münchener Märchenbuch" erzählt werden.

Wie es zur Erfindung der Weißwurst kam ist eine der 21 Geschichten, die in dem “Münchener Märchenbuch” erzählt werden.

(Foto: Illustration: Gisela Specht/Marzellen Verlag)

Das Surfen kommt aus Bayern und die Currywurst sowieso. Behauptet zumindest Bastian Mahler in seinem soeben im Volk Verlag erschienenen Buch “Wie die Isarflößer das Surfen erfanden”. Zudem hätte nicht viel gefehlt, meint der Autor, und auf dem Stadtwappen Münchens würde heute ein Dackel anstatt eines Mönchs thronen. “Doch weil das Wappen hochkant stehen sollte, der Dackel aber flach am Boden geht, blieb vom Mönch mit Hund nur das Münchner Kindl übrig”. Was soll’s. Die Liebe der Münchner zu ihren Waldis blieb ungebrochen, wie spätestens die Olympischen Spiele von 1972 bewiesen, bei denen der Dackel zum Maskottchen wurde. Insgesamt 16 Geschichten, altbekannte Münchner Sagen und neue Legenden und Mythen um die Isarmetropole und ihre Bewohner versammelt das Buch des Wahlmünchners aus Tübingen.

An jüngere Leser wendet sich das “Münchener Märchenbuch”, das im Kölner Marzellen Verlag erscheint. Verleger Frank Tewes hat eine ganze Reihe mit lokalen Stadtmärchen-Büchern in seinem Programm. “Aber die Münchner, das haben wir rasch gemerkt, sind besonders stark an den Sagen und Geschichten aus ihrer Heimatstadt interessiert. Schon nach zwei Jahren mussten wir eine neue Auflage herausbringen.” Auch hier geht es nicht in entfernte Zauberwälder, sondern um 21 lokale Legenden vor der Haustür, die Barbara van den Speulhof und Michaela Hanauer in kindgerechter Sprache erzählen: Wie tapfere Mönche der Stadt ihren Namen verliehen, warum die Schäffler tanzen, was passierte, als der Teufel wütend in der Frauenkirche auftrat, und wie es zur Erfindung der Weißwurst kam. Zum Vorlesen und Selberlesen ist das Büchlein mit weiß-blauem Rauten-Cover als Einstieg für Lokalpatrioten und solche, die es werden wollen, bestens geeignet.

Bastian Mahler: Wie die Isarflösser das Surfen erfanden – Münchner Neueste Sagen, Volk Verlag 2021; Barbara van den Speulhof und Michaela Hanauer: Münchener Märchenbuch, Marzellen Verlag, 2. Auflage 2020

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