“Krieg und Frieden” an der Bayerischen Staatsoper – München

Dmitri Tcherniakov, geboren 1970 in Moskau, ist einer der wichtigsten Opernregisseure. Nun inszeniert er “Krieg und Frieden” von Sergej Prokofjew nach Lew Tolstois gleichnamigem Roman. Die Oper, die mehrfach umgearbeitet werden musste, erzählt im ersten Teil eine verschlungene Liebesgeschichte, im zweiten den Überfall Napoleons auf Russland, den Brand Moskaus und den Untergang der französischen Armee. Premiere ist am 5. März, dem Todestag Prokofjews und Stalins (beide starben 1953). Es dirigiert Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski.

SZ: Herr Tcherniakov, ist es eine gute Idee, diese Oper jetzt aufzuführen, kurz nach dem Jahrestag des Beginns von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Dmitri Tcherniakov: Ich kenne das Stück, seit ich zehn Jahre alt war. Ich wurde Regisseur, nachdem ich schon lange Zeit ein verrückter Fan von Opern war, von zwölf bis 18 bin ich jeden Tag in Moskau in die Oper gegangen. Alle kannten mich dort, sagten, der Verrückte ist schon wieder da. Deswegen kannte ich alle Stücke auswendig. Auch dieses, das in der Sowjetunion ziemlich oft gespielt wurde, in der längsten Fassung, die Prokofjew nie gehört hat. Zuhause hatte ich viele Schallplatten, Opern auf Russisch von der russischen Firma Melodia und ein paar Aufnahmen aus der DDR. Als ich dann Regisseur geworden war, hatte ich eine fixe Idee: Dass ich alle diese Opern, die ich als Kind geliebt habe, unbedingt aufführen möchte.

Und eine davon war “Krieg und Frieden”?

Ich war kein großer Fan davon, aber mir war klar, dass diese Oper eine ganz besonders wichtige Substanz hat. Und einmal in meinem Leben musste ich sozusagen Sex mit diesem Werk haben.

Aber warum jetzt?

So ist es nun einmal gekommen. Ich habe schon vor acht Jahren angeboten, es im Moskauer Bolschoi-Theater zu machen, aber wollte das Risiko dann doch nicht eingehen. Obwohl es damals noch ganz andere Zeiten, auch für Künstler, waren.

War das nach der Annexion der Krim?

Vorher. Also muss es mehr als acht Jahre her sein. Wir wussten: Wenn wir uns dieses Werks annehmen, ist uns die Aufmerksamkeit aller Wahnsinnigen garantiert. Wir hätten zu hören gekriegt: Sie haben die russische Geschichte entstellt, die Klassiker verhöhnt, die Figuren verzerrt. Und da dachten wir: Besser nehmen wir uns des Themas nicht an. Später wollte ich das Stück mit Daniel Barenboim machen – er war der erste Generalmusikdirektor, der mich vor 20 Jahren nach Europa eingeladen hat – zur Wiedereröffnung der renovierten Staatsoper Berlin. Aber die wurde immer wieder verlegt. So kam es auch nicht zustande. Schließlich kam Serge Dorny, damals noch der designierte Intendant der Bayerischen Staatsoper. Ich dachte, es ist genau das richtige Haus für dieses Stück. Wobei: Im vergangenen Jahr kamen mir natürlich Zweifel, ob ich es machen sollte.

Als Sie 2007 hier “Chowanschtschina” machten, konnte man exemplarisch sehen, was Sie unter Opernregie verstehen: Nämlich das Schildern von Gegenwart anhand alter Stoffe. Was bedeutet das für “Krieg und Frieden”?

Buchstäblich genau dasselbe, was Sie gerade gesagt haben.

Jüngst inszenierte Dmitri Tcherniakov den “Ring des Nibelungen” an der Berliner Staatsoper. 2007 gab er sein aufsehenerregendes Debüt an der Bayerischen Staatsoper mit Modest Mussorgskys “Chowanschtschina”.

(Foto: Doris Spickermann-Klaas)

Wie kann man sich das vorstellen?

Nun, es wird über das heutige Leben sein. Mit einer großen Ausnahme: Viele Sachen verallgemeinern wir, machen sie zu einem größeren Gleichnis, einer Parabel. Wir erzählen nicht genau das, womit wir gerade leben müssen.

Das heißt, man sieht nicht den Krieg in der Ukraine auf der Bühne?

Nein. Es wäre falsch, den zu zeigen. Wahrscheinlich sogar zynisch. Wir versuchen, sehr sensibel an dieses Thema heranzugehen. Aber selbstverständlich hat es damit zu tun.

Hat sich Ihre Inszenierungsidee mit Ablauf des vergangenen Jahres verändert?

Kardinal. Als der Krieg vor einem Jahr begann, habe ich sehr gelitten. Ich habe mit allen Freunden, Kollegen darüber gesprochen, ob und wie wir diese Oper noch machen sollen. Ich war selbst in einem sehr verletzbaren Zustand, deswegen wollte ich hören, was die anderen dazu sagen.

Sagten da manche, lass lieber die Finger von dem Stück?

Fast alle. Und das waren Freunde aus meinem engeren Kreis. Dann traf ich in Berlin einen befreundeten Intendanten auf der Straße, der sagte: Du machst “Krieg und Frieden”? Du machst ja Sachen. Wir würden es jetzt garantiert nicht machen. Zumindest würden wir den zweiten Teil nur konzertant machen. Da dachte ich: Das, was um uns herum stattfindet, beschäftigt viele Menschen so sehr, dass man dieses Werk nicht erzählen kann, ohne das mitzudenken. Selbst wenn man auf der Bühne so täte, als gäbe es das alles nicht, würden die Menschen dennoch diesen Kontext hineinlesen. Man kommt nicht drumherum – und ich überlegte tatsächlich, wie ich mich aus der Sache herauswinden könnte. Aber langsam fiel mir doch ein, wie man den richtigen Ton treffen könnte.

Und was ist der Ton?

Haha, ich mache jetzt nicht den Spoiler. Die Vorstellung muss ja von allen von Anfang bis Ende gesehen werden, sie muss für sich selbst sprechen, ohne irgendwelche Ergänzungen und Kommentare. Wenn die Inszenierung unlesbar oder unklar bleibt, hätte ich meine Arbeit nicht ordentlich gemacht.

Von “Krieg und Frieden” existieren vier Fassungen. Sie stützen sich mehrheitlich auf die Urfassung?

Nicht ganz, es ist eine gemischte Fassung.

Sie machen also eine “Münchner Fassung”?

So könnte man das bezeichnen. Wir haben sehr viel Zeit damit verbracht, die richtige Werkgestalt zu finden. In der ersten Fassung beispielsweise fehlt die Ball-Szene. Ohne Ball-Szene aber ist “Krieg und Frieden” nicht “Krieg und Frieden”. Also nehmen wir die Urfassung, ergänzen sie, lassen die zehnte Szene weg, die Prokofjew ohnehin auf Druck von oben schreiben musste. Überhaupt ist es sehr interessant zu lesen, was Prokofjew vorhatte zu schreiben – und wozu er gezwungen wurde.

Gezwungen? Hat Prokofjew nicht bewusst selbst manche Wege bei seinem Werk eingeschlagen, um Stalin und die sowjetische Kulturbehörde zu befrieden?

Da stimmt. Ich meine aber nicht nur den Druck, der von der Seite des Staates kam. Auch der Dirigent der Urfassung hat sich in die Gestalt des Werks eingemischt. Es gab viele unterschiedliche Einflussnahmen. Letztlich ist es schwer zu sagen, was diese Oper eigentlich ausmacht. Sie ist wie ein Zauberwürfel. Für jede Inszenierung muss sie neu kombiniert werden.

Wie patriotisch war die Oper von Prokofjew gedacht?

Wenn man den zweiten Teil hört, hat man ganz klar das Gefühl, das ist ein Ruhmesgesang auf das russische Heer.

Und am Ende gibt es einen Jubelchor der russischen Sieger.

Natürlich, das ist eine ganz gerade Aussage, die im Sinne der stalinistischen Kulturauffassung gemacht wurde. Der ganze zweite Teil ist schwierig, er ist ein Produkt seiner Zeit. Deshalb haben wir einiges gestrichen, einiges geändert.

Seltsam an dieser Oper ist ja auch, dass man zwei Blöcke hat: erst Liebe, dann Krieg. In Tolstois Roman sind die beiden Sphären stärker ineinander verwoben.

Wir teilen das nicht so ein. Der Krieg ist von Anfang an das wichtigste Thema, was, da gebe ich Ihnen Recht, mit Tolstoi zu tun hat. Aus dem Roman stammen die Charaktere, auch einige ihrer Charakteristika. Beim großen Rest ist es schwierig, die Oper mit dem Roman zu verbinden. Das Libretto wirkt wie eine Kurzfassung des Romans für Schüler, geradegebogen, geschnitten, sehr vereinfacht. Deshalb kann man die Oper auch nicht mit dem Roman und seinen Nuancen unterlegen. Wir haben das Werk von Prokofjew, und gehen nur von dem aus, was in dessen 13 Bildern erzählt wird. Oft ist dabei Prokofjews Musik sehr sensibel, aber insgesamt habe ich das Gefühl, dass er als Opernkomponist kein großer Psychologe ist.

Aber es bleibt in der jetzigen Situation das Problem, dass der zweite Teil vom russischen Patriotismus geprägt ist. Wie löst man das heute?

Wir lösen das Problem, indem wir weniger dem Stück folgen als versuchen zu verstehen, wie das heute klingt.

Doch die Musik bleibt dieselbe, egal, was man szenisch macht.

Man kann den Klang nicht wegkriegen, aber man kann das Verhältnis dazu formulieren. Das Theater kann dieses Verhältnis ganz klar benennen. Deshalb wäre es auch keine Lösung, heute “Krieg und Frieden” nur konzertant zu spielen.

Brauchen Sie, um das Verhältnis zum Stück deutlich zu machen, ein besonders aufmerksames Publikum?

Es ist schwierig, das jetzt zu sagen. Aber natürlich, ich würde für alle meine Inszenierungen sagen, dass ich ein aufmerksames, kluges Publikum brauche, das den Theatertext lesen kann, das nicht alles für bare Münze nimmt, die Entfremdung mitkriegt, nicht nur dem Narrativ folgt. Leider ist das selten der Fall. Manches erzählen wir hier ganz geradlinig, um unsere Lesart des Stücks genau zu formulieren. Denn wir haben gar nicht die Hoffnung, dass jemand alle Nuancen sofort versteht.

Es dauert ja auch vier Stunden, da ist man vielleicht nicht immer so aufmerksam.

Nein, wir sind kürzer. Wenn man ganz ehrlich ist, ist die Qualität der Musik im zweiten Teil nicht so groß, da waren wir nicht so traurig, von manchen Stellen Abschied zu nehmen.

Diese Oper bracht ja sehr viele Solisten. In Ihrer Besetzung singen nicht nur Menschen aus Russland und der Ukraine, sondern auch aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.

Interview Dmitri Tcherniakov: Den Krieg in der Ukraine will Dmitri Tcherniakov nicht auf die Bühne bringen, aber selbstverständlich habe sein Stück damit zu tun, sagt er.

Den Krieg in der Ukraine will Dmitri Tcherniakov nicht auf die Bühne bringen, aber selbstverständlich habe sein Stück damit zu tun, sagt er.

(Foto: Wilfried Hösl)

Wir haben zwölf oder 13 Nationalitäten versammelt, alle aus ehemaligen Ländern der Sowjetunion, aus der Ukraine, Weißrussland, Armenien, Litauen, Usbekistan… Im Laufe der Proben gab es damit überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich weiß aber nicht, was jeder einzelne zu der jetzigen Situation denkt.

Wird darüber nicht diskutiert?

Mit all diesen 60 Solisten? Nein. Mit den wichtigsten ja. Aber was heißt diskutieren? Vladimir Jurowski und ich sprechen darüber, was wir darüber denken. Die Solisten sitzen da, hören uns zu. Die Art, wie wir uns alle einig sind, führt zu einer fast utopischen Situation hier. Wir halten uns alle an den Händen, sitzen in einem Boot und machen mit großem Enthusiasmus eine Sache zusammen. Was hier entsteht, ist die Utopie einer Gemeinschaft, die im echten Leben vielleicht gar keine ist.

Wann waren Sie eigentlich das letzte Mal in Russland?

Prinzipiell verbindet mich sehr viel mit Russland, vor allem meine Verwandten. Aber ich bin die ganze Zeit hier. Im Januar 2022 bin ich nach Berlin gekommen, habe neun Monate dort am “Ring” gearbeitet, jetzt bin ich hier, dann folgen ein paar weitere Inszenierungen, ich bin voll mit Arbeit, das habe ich bewusst so gelegt. Ich kann nirgendwo hin.

Stehen Sie auf der Schwarzen Liste der Roskomnadsor, der russischen Zensurbehörde, auf der zum Beispiel Vladimir Jurowski steht?

Nein. Technisch gesehen könnte ich nach Russland fahren, aber man weiß ja nie, welche Situation mich dort erwartet.

Vielleicht stehen Sie ja nach dem 5. März auf dieser Liste.

Das hat schon jemand im Scherz zu mir gesagt. In der jetzigen Situation kann jederzeit alles passieren. Doch Jurowski und ich müssen dieses Werk hier so machen, wie wir es für richtig halten, ohne Rücksicht auf irgendwelche Ängste und Risiken.

Sie haben bedeutende russische Preise erhalten. Haben Sie an denen noch Freude?

In Russland werden in jeder Theatersaison irgendwelche Preise verliehen. Die habe ich irgendwo in der Wohnung meines Vaters in Moskau liegen. Diese Preise haben mit Ereignissen zu tun, die 20 Jahre zurückliegen. In den Nuller-Jahren habe ich sehr in Russland gearbeitet. Das letzte Mal war 2020, davor 2011. Diese Preise haben also mit einer ganz anderen Seite meines Lebens zu tun, mit Werken, die sehr wichtig für meine Biografie sind. Warum sollte ich sie zurückgeben? Außerdem mag ich effektvolle, demonstrative Gesten nicht. Ich hätte das Gefühl, dann den Bereich des Vulgären zu betreten. Eigentlich bin ich krankhaft schüchtern, aber das sieht keiner.

Ihre Arbeiten sehen auch nicht so aus.

Meine Arbeit und die Kommunikation mit so vielen Menschen ist eine Art Therapie. Ich zwinge mich mein ganzes Leben lang, das zu machen, aber eigentlich ist es gegen meine Natur. In Wirklichkeit bin ich eine Schnecke, die in ihre Muschel zurückkriechen will.

Hat die Schnecke noch viele Kontakte in Russland?

Nicht viele. Es gibt eine leicht abzählbare Zahl von Verwandten und guten Freunden. Vor zehn Jahren waren das auch nicht mehr. Vielleicht bin ich eher ein Autist, jedenfalls fällt es mir in manchen Situationen ziemlich schwer, sozial kontaktfreudig zu sein. Jedes Mal, wenn ich zur ersten Probe komme, fühle ich mich wie ein Tier, das auf den Schlachthof gebracht wird, und will nur, dass dieser Tag vorüber ist.

Unterschieden sich Ihre Arbeiten in Russland ästhetisch von Ihren im Westen?

Ich glaube nein. Aber die letzte Inszenierung war ja eben vor drei Jahren.

Aber da war es für die Kunst auch schon nicht so einfach.

Das stimmt. Aber jetzt ist alles grundsätzlich anders für alle, wie nach einem Axthieb. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich dort arbeiten könnte.

Im Grunde haben Sie bereits 2007 mit Ihrer “Chowanschtschina” das System Putin auf der Opernbühne analysiert.

Ich denke, ich bin kein Analytiker. Ich bin ein Beobachter. Ich kann Sachen so betrachten, wie ich sie empfinde, aber sie nicht strukturell erklären. Kausalitäten kann ich nicht immer verstehen.

Aber Sie sind nicht böse, wenn man Ihre Arbeiten als analytisch wahrnimmt?

Böse sowieso nicht. Früher verlangte ich von allen, dass sie es so lesen, wie ich das lese. Viele meiner Inszenierungen entstehen durch eine Eingebung, ein emotionales Brandmal, ein ephemeres Gefühl. Ich kann die Bestandteile nicht auseinanderbauen und erklären. Da ich mir nie sicher bin, ob ich nicht vielleicht doch Unrecht habe, verlasse ich mich viel mehr auf mein Unterbewusstsein, das mir einige Sachen vorsagt. “Chowanschtschina” basierte auf dem Erleben von jemanden, der mittendrin ist. Aber ich kann nicht sagen, was man machen könnte, um etwas zu ändern. Vor jeder Instruktion hätte ich Scheu.

Nie die utopische Idee gehabt, dass Ihre Arbeit etwas verändern könnte?

Ehrlich? Ich denke, keine Kunst kann irgendetwas ändern. Schauen Sie ich an, was in den vergangenen hundert Jahren geschrieben, erdichtet, komponiert wurde. Wohin hat all das unsere Instinkte gebracht? Was haben wir gelernt? Die Kunst ist gut darin, unsere inneren Dämonen frei zu lassen. Dann können wir sie von der Seite aus beobachten, können sogar in Tränen ausbrechen. Sie gibt uns ein anderes Gefühl fürs Leben, erhebt uns über den routinierten Alltag, bringt uns auch die Empathie wieder zurück. Aber ändern kann die Kunst nichts. Das ist einfach ein Irrtum. Wir sehen doch, was um uns herum passiert. Es gibt so viel Kunst um uns herum. Was hat sie denn gestoppt? Nichts.

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