Kiew meldet Pause bei russischen Bodenangriffen in der Ostukraine

Die russischen Streitkräfte haben nach ukrainischen Angaben ihre Bodenangriffe im Osten der Ukraine in der Nacht zum Freitag vorläufig eingestellt. „In Richtung Isjum hat (der Feind) keine aktiven Angriffshandlungen durchgeführt“, teilte der ukrainische Generalstab am Vormittag in seinem Lagebericht mit.

Die russischen Kräfte beschränkten ihre Aktivitäten demnach auf Aufklärung und Artilleriebeschuss. Die Gegend um Isjum im Gebiet Charkiw war in den vergangenen Tagen die Hauptstoßrichtung der russischen Truppen. Durch den Vorstoß nach Süden sollten die ukrainischen Kräfte im Donbassgebiet eingekesselt werden.

Auch die ukrainische Armee beschränkte sich nach Angaben des Generalstabs in erster Linie auf Abwehrarbeiten. So wurden in der Nacht 15 Flugobjekte abgeschossen: neben einem Flugzeug fünf Marschflugkörper und neun Drohnen.

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Auch an anderen Frontabschnitten blieb es verhältnismäßig ruhig. Vor Donezk meldete der ukrainische Generalstab ebenfalls Artilleriebeschuss, aber keine weiteren Sturmversuche. In Mariupol würden die eingeschlossenen Einheiten im Asow-Stahlwerk weiter blockiert, heißt es. Nach Darstellung der „Ukrajinska Prawda“ geriet das dort eingerichtete Feldlazarett unter schweren Beschuss, mindestens ein Soldat kam ums Leben.

Kiew kritisiert Raketenangriffe, Pentagon prüft Vorfall

Die USA untersuchen derzeit die jüngsten Raketenangriffe auf Kiew. „Wir versuchen zu analysieren und herauszufinden, was hier passiert ist, was getroffen wurde und mit welcher Art von Munition“, sagt Pentagon-Sprecher John Kirby gegenüber dem US-Sender CNN. Ukrainische Behörden hatten zuvor erklärt, dass das russische Militär den Angriff verübt hat.

Der ukrainische Präsidentenberater Olexyj Arestowytsch kritisierte die russischen Raketenangriffe auf Kiew während des Besuchs von UN-Generalsekretär António Guterres als „dümmste Variante überhaupt“. „Wie sollen der UN-Chef oder die Vereinten Nationen darauf überhaupt reagieren“, sagte der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstagabend. „Sie (die Russen) haben ihm einfach in den Rücken gespuckt, so saftig, mit Blut.“

„Für einen Marschflugkörper ist die Entfernung zwischen Aufschlagsort und Aufenthaltsort von Guterres etwa so viel wie zwei Millimeter für eine Pistole. Der Schuss ging also an seiner Schläfe vorbei“, sagte Arestowytsch nach Angaben der Agentur Unian weiter. Dessen ungeachtet werde Russland sicherlich weiterhin Mitglied des Weltsicherheitsrates der UN bleiben.

Wolodymyr Selenskyj mit Antonio Guterres bei ihrem Treffen in Kiew

Wolodymyr Selenskyj mit Antonio Guterres bei ihrem Treffen in Kiew

Quelle: dpa/Uncredited

Zehn Menschen wurden verletzt, darunter ein Mann, der ein Bein verlor, wie Mitarbeiter von Rettungsdiensten mitteilten. Der Beschuss erfolgte eine Stunde nach einer Pressekonferenz von Guterres und Selenskyj. Der UN-Generalsekretär sagte darin, die Ukraine sei ein „Epizentrum unerträglichen Kummers und Schmerzes“ geworden. Guterres und sein Team seien in Sicherheit, teilten die UN mit.

„Ich war geschockt, davon zu hören, dass in der Stadt, in der ich mich aufhalte, zwei Raketen explodiert sind“, sagte Guterres später dem britischen Sender BBC.

Nach einer Explosion in Kiew sind Rettungskräfte im Einsatz

Nach einer Explosion in Kiew sind Rettungskräfte im Einsatz

Quelle: dpa/Emilio Morenatti

Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko sagte am Donnerstagabend, der Stadtteil Schewtschenkiwskyj im Nordwesten der Hauptstadt sei getroffen worden. Der Angriff war einer der heftigsten seit dem Rückzug russischer Truppen Anfang April. Mittlerweile kehren verstärkt Einwohner nach Kiew zurück. Cafés und Geschäfte hatten wieder geöffnet und die Menschen genossen im Freien das Frühlingswetter.

Die russische Militärführung hatte in dieser Woche damit gedroht, die ukrainische Hauptstadt anzugreifen, auch wenn sich dort ausländische Politiker zu Besuch aufhielten.

Kiew und Sofia vereinbaren Zusammenarbeit

Derweil haben die Ukraine und Bulgarien eine enge Zusammenarbeit im militärischen und auch wirtschaftlichen Bereich vereinbart. Das teilte Selenskyj am Donnerstagabend nach einem Treffen mit dem bulgarischen Regierungschef Kiril Petkow mit. Unter anderem solle beschädigte ukrainische Militärausrüstung in Bulgarien repariert werden.

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Quelle: Infografik WELT

„Ein weiteres Thema, auf das wir uns geeinigt haben, ist die Lieferung von ukrainischem Strom nach Bulgarien und die Nutzung der Transbalkan-Gaspipeline zusammen mit der bulgarischen Seite“, sagte Selenskyj. Russland hatte erst am Vortag wegen angeblicher Nichtbezahlung die Lieferung von Erdgas an Bulgarien eingestellt.

Daneben vereinbarten Selenskyj und Petkow die Nutzung des bulgarischen Schwarzmeerhafens Warna für den Export landwirtschaftlicher Produkte aus der Ukraine. Da Russland alle ukrainischen Häfen entweder kontrolliert oder blockiert, ist Kiew gezwungen, alternative Wege zu suchen.

Der Reise Petkows nach Kiew war ein heftiger Streit in Sofia vorausgegangen. Der als Moskau-freundlich geltende Staatschef Rumen Radew hatte sich dem Besuch widersetzt, auch die mitregierenden Sozialisten lehnten eine Beteiligung an der Delegation ab.

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Cherson: Russifizierung wird nicht klappen

Russischen Pläne zur Festigung der Kontrolle über die besetzte Region Cherson sind nach Meinung der ukrainischen Führung zum Scheitern verurteilt. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Olexij Danilow, bezeichnete das von russischer Seite geplante Referendum in Cherson als „juristisch und international bedeutungslos“. Die Volksabstimmung, mit der die russischen Besatzer eine „Volksrepublik Cherson“ ausrufen lassen wollten, sei ein „Klassiker“, mit der Russland seine Aktionen legalisieren wolle.

Präsident Selenskyj beschuldigt Russland ebenfalls, ein Referendum zu orchestrieren, und rief die Bürger in Cherson auf, ihre persönlichen Daten vor Versuchen zu schützen, Stimmen zu fälschen. „Das ist die Realität. Seid vorsichtig“, warnte er direkt an die Einwohner gerichtet. Chersons.

Auch die Einführung des russischen Rubels als Zahlungsmittel in den besetzten Gebieten sei „klassische russische Praxis“, sagte Danilow nach Angaben der Agentur Unian weiter. Diese Bemühungen der russischen Seite würden nicht zum Erfolg führen. „Sie werden zwar einige Zeit versuchen, eine Währung oder Pseudo-Währung für diese Gebiete einzuführen“, sagte Danilow. Doch angesichts des zu erwartenden Widerstands der Bürger werde diese „sehr kurzlebig“ sein.

Einwohner von Cherson Anfang März

Einwohner von Cherson Anfang März

Quelle: AP/Olexandr Chornyi

Während der ersten Wochen nach dem Einmarsch der Russen versammelten sich täglich Tausende Menschen auf dem Hauptplatz in Cherson, gehüllt in ukrainische Flaggen und mit Plakaten, auf denen es hieß: „Dies ist die Ukraine“. Die Demonstrationen werden jetzt wöchentlich abgehalten. Am vergangenen Mittwoch setzten russische Soldaten Tränengas und Blendgranaten gegen Protestierende ein.

Als russische Streitkräfte Anfang April aus besetzten Gebieten um die Hauptstadt Kiew abzogen, ließen sie Horrorszenen und traumatisierte Gemeinden zurück. Aber in Cherson, einer großen Stadt mit einer beachtlichen Schiffsbau-Industrie an der Mündung des Dnjepr ins Schwarze Meer, haben die Invasoren einen anderen Kurs eingeschlagen. Die Einwohner glauben, dass die Russen die Stadt bislang nicht belagert oder auf brutalste Weise terrorisiert haben, weil sie eine Bürgerabstimmung über die Schaffung einer „Volksrepublik“ planen.

„Die Dörfer sind fast ausgestorben, dauernd Artilleriebeschuss“

Die russischen Truppen greifen weiter den Osten der Ukraine an. Nach Angaben des russischen Militärs steht das Gebiet Cherson mittlerweile unter ihrer Kontrolle. WELT-Reporter Ibrahim Naber berichtet aus dem ukrainischen Dnipro – über eine Nacht mit wenig Schlaf.

„Die Soldaten patrouillieren und gehen langsam herum. Sie erschießen keine Leute auf den Straßen“, sagte Olga, eine örtliche Lehrerin, in einem Telefoninterview im März, nachdem die Region von den Russen abgeriegelt worden war. Aus Furcht vor Vergeltung wollte sie nur ihren Vornamen nennen.

Sind der Stadt auch bislang Gräueltaten wie etwa in Butscha und Mariupol erspart geblieben, ist das alltägliche Leben alles andere als normal. Jeglicher Zugang zu Cherson ist blockiert, und die Stadt leidet unter einem Mangel an Medikamenten, vielen Nahrungsmitteln und Bargeld. Ukrainische Stellen warnen, dass eine Katastrophe bevorstehen könnte. Das ukrainische Fernsehen kann nicht mehr empfangen werden und ist durch staatliche russische Sender ersetzt worden. Auch wurden strikte Ausgangsbeschränkungen verfügt.

Folter-Vorwürfe in der Region Cherson

Ist das Vorgehen der Invasoren in Cherson bislang vergleichsweise milde, kann davon in der umgebenden Region keine Rede sein. Es gibt täglich Berichte über Entführungen, Folter, Tötungen und Vergewaltigungen. Tausende Menschen sind von Strom, Wasser und Gas abgeschnitten. Die Lage im Gebiet um Cherson „ist viel schlimmer und viel tragischer“, sagt Oleh Baturin, ein örtlicher Journalist. „Es ist leichter für sie, die Kontrolle über Dörfer zu übernehmen, sie (die Einwohner) sind wehrlos.“

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Russische Soldaten haben Kolychaiew zufolge auch Aktivisten, Journalisten und Kriegsveteranen entführt. Er spricht von etwa 200 Betroffenen, darunter Baturin, der aus seinem Haus in Kachowka – 90 Kilometer östlich von Cherson – verschleppt, eine Woche lang in Isolation gehalten und jeden Tag verhört wurde. Aus anderen Zellen konnte er die Geräusche von Folter hören. Nach seiner Freilassung flüchtete er mit seiner Familie aus dem besetzten Gebiet.

Wie Kolychaiew schildert, haben die Warnungen über ein Referendum und die anderen jüngsten russischen Schritte eine zunehmende Zahl von Einwohnern veranlasst, die Stadt zu verlassen. „Die Schlangen von Menschen … sind auf fünf Kilometer gewachsen“, sagt der Bürgermeister. Insgesamt seien bislang ungefähr ein Drittel der 284.000 Einwohner geflüchtet.

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Quelle: Infografik WELT/Jörn Baumgarten

Kolychaiew denkt nicht an einen solchen Schritt. Auf Facebook schrieb er am Dienstag, dass er sich geweigert habe, mit der neuen, von den Russen eingesetzten Stadtverwaltung zusammenzuarbeiten. „Ich bleibe in Cherson, mit der Bevölkerung von Cherson“, fügte er hinzu. „Ich bin an Eurer Seite.“

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