Gefeiert wird später: die Reeperbahn in der Pandemie – Wirtschaft

Der Sound der Nacht kommt jetzt von den Glocken. Sie reißen ein Loch in die Stille, Samstag, 22 Uhr. Die Kirche St. Joseph gibt den Takt vor, am zweiten Wochenende im Januar, direkt neben der Olivia Jones Bar. Vieles, wo sonst die Menschen zur Masse verschmelzen, hat gerade geschlossen. Radfahrer rollen im Schleichgang durch die Große Freiheit, so viel Platz ist hier gerade. Nur alle paar Hausnummern ist noch Leben in einer Bar. Zwei Stadtführer laufen mit den Touristen über die Reeperbahn in Hamburg, “im Sommer ist hier die Hölle los”, sagt einer, heute muss er nicht brüllen. Heute kann er reden wie ein Museumsangestellter. Und zwischendurch gibt’s auch was zum Mitmachen.

“Auf St. Pauli brennt noch Licht”, hat Jan Delay mal gesungen, “bis zur Euphorie ist’s nur ein Katzensprung”. Die Reeperbahn und der Kiez, sie sind Sehnsuchtsorte für alles, was mit Erleben zu tun hat. Auch jetzt brennt noch Licht, doch bis zur Euphorie sind es Welten. Seit Weihnachten gilt in Hamburg die Sperrstunde ab 23 Uhr, ein Tanzverbot in “Tanzlustbarkeiten” – ein weiteres Unwort der Pandemie. Und wenn vielen nicht mehr zum Feiern zumute ist, dann hat es eine Amüsiermeile schwer.

Die Sperrstunde ist für Barbetreiber nicht nachvollziehbar

Eine Straße weiter von der Großen Freiheit, etwas abseits der Reeperbahn, liegt die Bar von Constanze Lay. “Rabbithole” heißt ihr Laden, Kaninchenbau. So wie bei Alice im Wunderland, die ins Loch fällt und in einer anderen Welt landet, ein Ort für die Flucht vor der Realität. Die Farben sind düster gehalten, Lederbezüge, ein goldener Tresen. Von einer Wand gucken Hasengesichter hinunter. Doch gerade sind Betriebsferien, Lay meldet sich per Videoanruf aus dem Urlaub. Das vergangene Jahr sei “psychisch sehr anstrengend” gewesen, sagt sie.

Die 38-Jährige ist Vorsitzende des Barkombinats, ein Zusammenschluss mehrerer Kneipen in Hamburg und ein Produkt der Pandemie. Um sich gegenseitig zu helfen mit der Steuer und Anträgen für Kurzarbeitergeld, solche Sachen. Oder, um gemeinsam den Hamburger Senat zu verklagen. Die Überlegungen dazu laufen gerade. Die beschlossene Sperrstunde nennt Lay einen “Sargnagel”https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/.”Wir kontrollieren alles an der Tür ab, die Leute sitzen drin und müssen dann um 23 Uhr gehen. Warum? Das ergibt keinen Sinn.” Die Verordnung hätte die Straßen leerer, aber Privatparties voller gemacht. Und dort kontrolliert keiner einen Impf- oder Teststatus.

Barbetreiberin Constanze Lay in ihrer Rabbithole Bar. Im Herbst hatte sie noch viel zu tun.

(Foto: Frieder Kettel)

Im Herbst hatten alle noch “super viel Arbeit”, erzählt Lay bei einem Treffen Anfang Dezember in ihrer Bar. Sie hat Energie in den Händen und der Stimme. Die braucht sie auch, um einen solchen Laden überhaupt zu führen. Das Publikum kam noch mal, wollte feiern, trinken, unter Menschen sein. Schon kurz vor Omikron habe sich das Gefühl breitgemacht, “wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen”. Wie geht es weiter mit den Inzidenzen? Was wird wieder beschlossen?

“Hier fängt die Party an” steht auf einer Werbetafel für einen Nachtclub ganz vorne in der Großen Freiheit, doch die Beleuchtung ist ausgeknipst, wie die Zuversicht mancher Betreiber. Der erste Lockdown für den Kiez im Frühjahr 2020 kam so kurzfristig, dass viele ihre Säfte und andere verderblichen Vorräte wegkippen mussten. Im Elbschlosskeller, der 24 Stunden am Tag geöffnet hat, hatte man gar keinen Schlüssel mehr, es sperrte ja nie jemand ab. Und als die Türen plötzlich wieder geöffnet werden konnten, “wurden einige ganz schwer überrascht, wir auch”, sagt Lay. Viele steckten noch in den Renovierungen, “wir waren hier gerade noch am Streichen”.

St. Pauli war schon immer ein Viertel des Wandels. Und jetzt?

Seitdem ist das Arbeiten ein ständiges Abwägen und Planen von Dingen, die man eigentlich nicht planen kann. Öffnungszeiten, Einkäufe, Schichten der Mitarbeiter. Macht man freiwillig zu, hat das auch ein Echo, das erst wieder verhallen muss: “Wenn man eine Woche oder einen Monat schließt, dauert es immer eine gewisse Weile, bis die Leute wiederkommen”, sagt Lay. Deprimierender als den Laden ganz zuzulassen, sei es aber, wenn sie dastünde und keiner komme, “es tut weh, sein Baby dahinkriechen zu sehen”.

Vor allem hier, auf der Reeperbahn und in den Seitenstraßen, wo nach dem Krieg und dem Wiederaufbau die größten Bands spielten und bejubelt wurden, die Beatles, Jimi Hendrix, Black Sabbath. Eine Gegend zum Berauschen, oft der letzte Halt für die ärmsten Gesellen, manchmal auch für die lustigsten.

Aber das Viertel war über Jahrzehnte hinweg auch ein Viertel des Wandels. Lange bestimmten Zuhälter-Kartelle die Regeln, seit 2007 gilt ein Waffenverbot. Schon immer wurde über den Charakter der Reeperbahn diskutiert und gestritten, in den letzten Jahren über zu viel Ballermann-Musik und Späties, auf der Reeperbahn war immer was los. Und jetzt?

Wenn das Virus wütet, beeinflusst oft auch das Sicherheitsempfinden die Ausgehlaune. Selbst dort, wo nicht eng getanzt oder in Kellern gesoffen wird. “Die Menschen haben Angst”, sagt Corny Littmann, der mit seinen Theatern einen Teil der Kultur auf der Reeperbahn mitgeprägt hat. Angst ist der Tod der Unternehmer, Littmann hat das in der Pandemie früh erkannt. Anfang Dezember ist er in Salvador de Bahia, Brasilien, zu erreichen. Draußen scheint die Sonne, der Hund bellt, ein Appartement nebenan wird gerade renoviert. Die Lage in seinen Theatern in Hamburg könnte schlimmer sein. Bisher seien sie relativ gut durch die Krise gekommen, sagt der 69-Jährige, aber, das müsse man immer dazusagen: “bisher.”

Ohne die finanzielle Hilfe von Bund und Land wären “die Theater nicht überlebensfähig gewesen”, sagt er. Entscheidend sei aber auch gewesen, “sehr früh wieder mit Hygiene-Maßnahmen zu öffnen”. Im Juli 2020 war das Tivoli das erste Theater in Deutschland, das wieder Publikum rein ließ; auch die 2G-Option, die in Hamburg seit August für Betreiber möglich war, haben sie sofort genutzt. “Die Zuschauer haben sich sehr sicher gefühlt”, sagt Littmann, “das konnten sie auch. Weil sehr genau kontrolliert worden ist.” Auch jetzt kommen noch Zuschauer ins Tivoli; November, Dezember und Januar sind wirtschaftlich wichtige Monate für Littmann. Doch schon vor Omikron gingen die Buchungen zurück.

Reeperbahn: Corny Littmann bei der Wiedereröffnung des Tivoli im Juli 2020.

Corny Littmann bei der Wiedereröffnung des Tivoli im Juli 2020.

(Foto: Christian Charisius/picture alliance/dpa)

Auf der anderen Straßenseite der Reeperbahn, zwei Häuserecken vom Theater entfernt, liegt der Hamburger Berg. Dort sind die Kneipen, in denen sich in guten Zeiten die Menschen am engsten drängen. Auch jetzt, Mitte Januar, dringt noch Musik hinaus auf die Straße, in vielen Fällen mit deutlich mehr Dezibel als Gästen. “Viele Läden dort leben von der Masse. Das ist das, was den Spaß dort ausmacht”, sagt Constanze Lay, im November habe es da innerhalb von zwei Wochen einen Einbruch gegeben, der “krass” gewesen sei, “zwei Drittel der Leute blieben weg, obwohl die Regeln gar nicht verschärft wurden”. So wie sich das Virus in Wellen ausbreitet, kommt und geht auch die Lust aufs Feiern. Aber immerhin: Sie kommt auch wieder.

Das sei für viele die größte Befürchtung gewesen: “Dass die Leute sich daran gewöhnen, zu Hause zu bleiben”, sagt Lay. Das Jahr 2021 hat die Antwort darauf gegeben: Nein, die Feierlaune stirbt nicht einfach aus. Bei allen Unwägbarkeiten eine kleine Gewissheit, an der man sich festhalten kann. “Mit dem Wissen, dass wir wieder volles Haus hatten, würde ich mir jetzt auch Geld leihen”, sagt Lay, aber auch nur, “um ein paar Monate zu überbrücken.” Vorher hätte sie das nie getan, den Betrieb eher aufgegeben. In ihrem Umfeld kennt sie eine Handvoll Leute, die aufgeben mussten. Doch die meisten Betreiber halten noch durch. Ein Großteil habe sich Geld geliehen, verschuldet oder die Altersvorsorge in den eigenen Laden gesteckt, erzählt Lay. Der größte Rettungsanker seien die November- sowie Dezemberhilfen 2020 gewesen. Mittlerweile gibt es das vierte Überbrückungsgeld, die Zuschüsse sind jetzt aber schon reduziert.

Personalmangel als drängendes Problem

Was die Branche noch richtig hart treffen wird, ist der Mangel an Personal, Lay nennt es: ein monströses Problem. “Die Leute werden sich neue Berufsfelder suchen und wahrscheinlich auch nicht zurückkommen. Weil es zu unsicher ist.” Dabei sind durch die verordneten Maßnahmen noch mehr Service-Kräfte nötig als früher. “Ich brauche jemanden, der fest an der Tür steht und sich nur Nachweise anguckt”, sagt Lay. In Kneipen, die rund um die Uhr geöffnet haben, potenziert sich das Problem. In der kleinen Davidquelle, unweit der Davidwache, haben sie eine pragmatische Lösung gefunden: Von einem Türpfosten zum anderen hängt eine Absperrkette, per Knopfdruck auf die Klingel eilt die Wirtin herbei und kontrolliert den Impfstatus.

Kreativ durch die Krise, das ist auch so ein Motto, mit dem sie im Kiez versucht haben, durch die Coronawellen zu kommen. Da waren die, die ihre selbstgemixten Drinks durchs Fenster verkauften, Merchandise-Artikel vertrieben, ihre Social-Media-Kanäle aufmotzten, um im Gespräch zu bleiben. Bunt war der Protestmarsch von Olivia Jones mit anderen Barbetreibern von der Reeperbahn im ersten Lockdown, auch die Sexarbeiterinnen der Herbertstraße haben sich mit einer Demo (“Sexy Aufstand Reeperbahn”) gegen Auflagen zur Wehr gesetzt. “St. Pauli steht für Lust, Leben, Fröhlichkeit” stand auf einem Plakat. Alles, wofür Corona nicht steht.

Reeperbahn: Ein Graffito an der Eckkneipe "Zum Silbersack".

Ein Graffito an der Eckkneipe “Zum Silbersack”.

(Foto: Lars Schütze)

Ein Graffito an der Eckkneipe “Zum Silbersack” ist ein Relikt von vielen Aktionen, die zeigen sollten: Der Stadtteil lebt noch und zeigt sich auch. “Nightlife Sankt Pauli, we miss you” steht da, Ende November, Lars Schütze präsentiert es beim Streifgang durch das Viertel. Er darf sich Quartiersmanager nennen, weil er im Rahmen eines Business Improvement District (BID), einem Zusammenschluss von Grundeigentümern und Gewerbetreibenden, die Zukunft St. Paulis mitplant. Das mit dem Graffito war auch seine Idee, der gleiche Slogan klebt an einem Taxi nebenan. Aus dem “miss you” solle ein “love you” werden, wenn sie ihr altes Nachtleben wieder haben, sagt Schütze, “aber jetzt lasse ich das erstmal so”. Mittlerweile ist es schon übermalt worden, vom Künstler selber, er wollte Schmierereien ausbessern und schuf direkt Fakten. Neuer Optimismus stecke nicht dahinter, sagt Schütze. Die Wand ist geduldig.

Schütze verdient sein Geld sonst unter der Erde, im Parkhaus am Spielbudenplatz, denn geparkt wird immer, mit oder ohne Corona. Sein Vater hat die Tankstelle in den ehemaligen Esso-Hochhäusern nebenan betrieben, 50 Jahre lang, bis diese 2014 abgerissen wurde. Das war dann plötzlich ein Wahrzeichen weniger, noch immer klafft da ein riesiges Loch. Mit Veränderungen rund um die Reeperbahn kennt Schütze sich aus. “Ich hab das als Kind miterlebt, wie St. Pauli gar nicht angesagt war”, sagt er, einen Aufkleber auf seinem Schulranzen fanden die Mitschüler obszön. “Heute fragen die Leute: Hast du noch so einen Aufkleber von damals?”

Nach zwei Jahren Pandemie sei die Stimmung unter den Betreibern von Clubs, Bars und Kneipen jedoch angespannt, sagt Schütze, “es fehlt Geld, das ist ganz klar”. Die große Pleitewelle hat St. Pauli und die Reeperbahn allerdings noch nicht erfasst. Sie sind noch da, die alten Spelunken, die Kultkneipen und auch die beliebigen Läden, “Wodka Bombe to go” für 3 Euro. Leerstehende Lokale sieht man selten, aber es gibt sie, Dunkelheit statt Trunkenheit hinter den Scheiben. Ein Corona-Effekt? Schütze schüttelt den Kopf, nein, Fluktuation habe es hier schon immer gegeben.

Die Betriebe am Laufen zu halten, ist eine Gratwanderung

Muss man nicht mächtig was falsch machen als Unternehmer, wenn ein Laden auf der Reeperbahn nicht läuft? “Die Mieten sind hoch”, sagt er, ” und man hat hier nur drei Tage zum Geldverdienen: Donnerstag, Freitag, Samstag.” Die Läden am Laufen zu halten, sei eine Gratwanderung. “Wenn ein paar hundert Leute weniger kommen, geht es schnell ins Minus. Miete, Personalkosten, DJs anzuheuern, das ist sehr kostspielig.” Und die Gratwanderung ist jetzt der Dauerzustand. Zwei Jahre Seiltanz am Stück, das macht müde.

Das “Molotow”, ein Traditions-Club mit Livemusik, ist wie viele Discotheken schon seit Weihnachten und der Einführung des Tanzverbots wieder dicht. Im Sommer 2020 wollten sie 30 Jahre “Molotow” feiern, die Party haben sie verschoben, einmal, zweimal, nun soll es 2022 klappen. Die Überbrückungshilfen halten den Laden in der Pandemie am Leben, Betreiber Andi Schmidt ist dankbar, verweist auf die, denen es deutlich schlechter gehe: “Es gibt Sound- und Lichttechniker, DJs und viele andere, die jetzt nicht mehr richtig von ihrem Job leben können.” Derzeit erinnert am “Molotow” nur ein kleines Schaufenster mit einem Haufen angeleuchteter Discokugeln an ausgelassene Auftritte.

Reeperbahn: Andi Schmidt, Betreiber vom "Molotow": "Ich möchte, dass es wieder laut ist."

Andi Schmidt, Betreiber vom “Molotow”: “Ich möchte, dass es wieder laut ist.”

(Foto: privat)

Schmidt selbst wohnt auch auf der Reeperbahn, und wenn wie jetzt vieles geschlossen ist, verwandelt sich sein Stadtteil komplett. “Dann ist St. Pauli relativ leer”, sagt er, der Anteil derer, die nur dort wohnen, ist gering. Und die Leere riecht man dann auch, wenn fast keiner mehr vorbeikommt und trinkt, raucht, kotzt oder sich anders entleert. Und, klar: Die Leere ist auch Stille. “Ich bin keiner, der sagt, es ist so schön ruhig jetzt”, sagt Schmidt und lacht dabei, “ich möchte, dass es wieder laut ist”.

Constanze Lay öffnet diesen Montag ihre “Rabbithole Bar” wieder, zwischen September und April ist normalerweise Hochbetrieb bei ihr. Parallel zur Hochzeit der Inzidenzen. “Wenn man sich im Winter kein Sommerpolster anfuttern kann, hat man es in den warmen Monaten schwer” sagt sie, dann gehen die Leute draußen trinken, nicht in einer Bar. Die Fettschicht im Kaninchenbau muss jetzt noch ein bisschen wachsen.

Vieles hat die Reeperbahn schon durchgemacht. Ob es die Amüsiermeile am Ende der Pandemie doch noch richtig übel erwischt? “Die Scherben werden immer erst am Ende zusammengekehrt”, sagt “Molotow”-Betreiber Schmidt, “und dann sieht man es.”

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