Gamer und auf der Suche nach einem Studium? Dann könnte Game-Design etwas sein. Wir haben einen angehenden Entwickler besucht. Im Keller, natürlich. Doch dann hören die Stereotypen auch schon auf. Vor allem was Frauen und Gaming betrifft.
Die Dozenten staunten, als ihnen das kleine Computerspiel “Icentio” vorgestellt wurde. Als kleine Flamme wagt sich der Spieler in eine finstere Unterwelt; ihr schwacher Schein erhellt nur die unmittelbare Umgebung und entreißt sie der Dunkelheit. Zu wenig, um Fallen und fiese Kreaturen rechtzeitig zu erkennen. Die Flamme kann heller leuchten, doch nur solange ihr Vorrat an Leuchtstoff reicht. Nachschub liefern leuchtende Pilze, die selten und schwer zu finden sind. Mit stimmungsvollem Soundtrack geht es tiefer und tiefer hinab. Alles passt bei diesem kleinen Spiel: die Musik, die reduzierte Grafik, der sanfte Anstieg des Schwierigkeitsgrades und die Plausibilität der Geschichte. Was die Dozenten am meisten überraschte: Es ist die Arbeit eines Studenten im ersten Semester, der zuvor weder Erfahrung mit der Entwicklung von Spielen hatte noch eine künstlerische Vorbildung besaß.
Für ein Naturtalent hält sich der 23-jährige Valentino Fischer nicht. “Die ersten Wochen an der Akademie waren überwältigend. Es war so viel, was auf einen einprasselte. Ich dachte, das schaffe ich nie”, blickt der schlaksige Blonde auf die ersten Wochen an der “htk Academy” zurück. Jetzt ist er im zweiten Semester, dem angeblich schwersten. Die HTK ist eine staatlich anerkannte Berufsfachschule in Hamburg, die neben Kommunikationsdesign und Illustration auch den Fachbereich Spieleentwicklung als schulische Ausbildung anbietet. Daneben gibt es in Deutschland rund 23 Gamedesign-Studiengänge mit Bachelor- und Masterabschlüssen an Fachhochschulen, Universitäten sowie Fernuniversitäten und privaten Akademien.
In Sachen Kreativität fordern Spiele einem alles ab
“Das Entwickeln von Spielen umfasst nahezu jede Art von digitaler Kreativität: Vom Schreiben der Story über Musik und Soundeffekte, Art Design, Animation, Spielmechanik bis hin zur Programmierung”, schwärmt Valentino. Wir sitzen in seinem Zimmer. An den Wänden stehen Regale voller Videospiele, säuberlich nach Konsolentyp sortiert: Hier Xbox-Spiele, dort PlayStation, und ein kleines Regal für den Nintendo GameCube. Mit dem GameCube hat alles angefangen – seine erste eigene Konsole als Kind. Sie steht noch heute wie in einem kleinen Schrein in seinem Zimmer, spielbereit natürlich. Das große Zimmer ist fast schon stereotyp für einen Gamer: Indirektes Tageslicht fällt durch die beiden schmalen Kellerfenster. Darunter steht ein Schreibtisch mit zwei Monitoren und einem Gaming-PC mit beleuchteten Lüftern. An den Wänden hängen Bilder aus Games, bunt angestrahlt von einer LED-Lichtleiste. Der Blickfang des Zimmers ist der große OLED-Fernseher mit dem Sofa davor. “Spielen auf der Konsole ist für mich immer ein Event mit Freunden gewesen”, sagt er. Man verabredet sich zum Gamen, schaut sich gegenseitig beim Daddeln zu oder spielt gemeinsam auf zwei Controllern. Eine Art analoges Multiplayer-Erlebnis.
Schon früh begann er sich zu fragen, wie Spiele eigentlich aufgebaut sind und welche Magie sie so fesselnd macht. Technik sei dabei nur eine Sache, die Geschichte drumherum sei ebenso wichtig. Wer die pixeligen Spiele aus den 90er-Jahren kennt, weiß: Wenn die Geschichte fesselt, entsteht die Grafik im Kopf.
Knackige Aufnahmeprüfung
Gamedesign zu studieren war für ihn nur möglich durch den Umzug seiner Mutter von einem kleinen Ort bei Wiesbaden nach Hamburg. Auch wenn die HTK Kunstschule monatlich Geld für die Ausbildung verlangt, ohne Aufnahmeprüfung wird man nicht angenommen. “Wir mussten eine Spielfigur entwickeln und in drei verschiedenen Posen zeichnen, das simple Game ‘Flappy Birds’ zu einem neuen Spiel umgestalten und einen Klon des berühmten ‘Candy Crush’ zeichnen.”
Kunst findet er großartig, doch beim Zeichnen und Illustrieren sei er nicht besonders talentiert, so Fischer. Ihn fasziniere das Entwickeln von Geschichten und insbesondere das Bauen von Welten, also der Level, in denen sich der Spieler später bewegen wird. Später im Beruf würde er als Leveldesigner in der Spielentwicklung aus den Grafiken der Artdesigner und den Soundeffekten sowie der Musik des Sounddesigners die virtuelle Welt des Spiels erschaffen und ihr mit visuellen Effekten den letzten Schliff verpassen.
“So funktionieren Jam-Sessions für Game-Developer”
Diese Rollenverteilung wird bereits im Studium geübt. In sogenannten Game-Jams werden einmal pro Semester Teams gebildet, die dann innerhalb einer Woche ein Spiel entwickeln müssen – von der Grundidee über die Grafik und den Sound bis zur spielbaren Version. In diesem Tempo funktioniert das nur mit Spezialisierungen, erklärt Fischer.
Jeder habe sein Steckenpferd, und die gegenseitige Hilfsbereitschaft sei groß. In den ersten zwei Stunden müsse die Grundidee des Spiels feststehen: Worum soll es gehen? Was ist das Spielziel? Wie will man es darstellen, und was lässt sich in der kurzen Zeit überhaupt verwirklichen? Sich zu begrenzen sei eine wichtige Fähigkeit. Danach werden die Aufgaben und Zuständigkeiten verteilt. “Das sind immer harte Wochen, hinterher bleibt kaum Zeit für Bug-Fixing, also das Beheben von Fehlern”, erzählt Valentino Fischer. Schließlich wäre es peinlich, wenn bei der Präsentation der Arbeit das Spiel abstürzt.
Gamen ist männlich? Das war einmal!
Die gängige Vorstellung, in diesen “Jams” säßen vor allem blasse männliche Nerds, ist falsch. Die Hälfte sind Frauen und blass ist niemand. Es gibt alle möglichen Typen, wirklich alles ist dabei, schwärmt der 22-Jährige. Jeder habe seine Stärken und Schwächen. Frauen hätten vielleicht ein besseres Händchen für Storytelling und Zeichnen, Männer hingegen eher für die Programmierung. Doch diese Grenzen verlaufen fließend, so Fischer. Was alle jedoch gemeinsam haben: Sie sind leidenschaftliche Gamer. Ohne Begeisterung für Computerspiele Gamedesign zu studieren, sei wie ein Musikstudium ohne Interesse an Musik – es würde nicht funktionieren.
Die ausgewogene Geschlechterverteilung findet sich auch bei den Spielern wieder. Umfragen des Branchenverbandes “GAME” zufolge sind 48 Prozent der Gamer in Deutschland Frauen. Das ist eine zahlenmäßig große Gruppe, denn etwa die Hälfte aller Deutschen spielt regelmäßig digital, sei es auf der Konsole, am Gaming-PC oder immer häufiger auf dem Smartphone. Die sogenannten Mobile Games auf dem Smartphone sind die neuen Goldgruben für Entwicklerfirmen.

Spiel und Wirklichkeit – Selbst hinter dem kleinen Spiel von “Incendo” steckt eine Menge Programmieraufwand. Vor allem für Erstsemester.
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Phänomen Candy Crush
Hier trifft ein vergleichsweise geringer Entwicklungsaufwand auf eine riesige Zielgruppe und eine perfekt ausgebaute Vertriebsstruktur in den Stores der Hardwarehersteller wie dem Google Play Store. Ein berühmtes Beispiel ist Candy Crush: In dem einfachen Spiel müssen virtuelle Süßigkeiten in der richtigen Reihenfolge abgeräumt werden. Die kleine App startete vor zwölf Jahren als kostenloses Game im Webbrowser, ging dann auf Facebook viral und wurde schließlich als Version für Android und iOS in den jeweiligen App-Stores ein riesiger Erfolg. Mittlerweile wurde Candy Crush fünf Milliarden Mal heruntergeladen, und jeden Monat spielen rund 200 Millionen User das kleine Game. Von solchen Zahlen können die Entwickler großer und teurer Produktionen nur träumen. Candy Crush ist zwar kostenlos, doch die User können sich in der App Vorteile erkaufen. Bei einer so großen Anzahl an Spielern summieren sich diese kleinen In-App-Käufe zu gewaltigen Umsätzen. Mit etwa 20 Milliarden US-Dollar Umsatz dürfte Candy Crush derzeit zu den umsatzstärksten Videospielen überhaupt gehören.
Das Geheimnis von Candy Crush? Es ist leicht zu lernen, schwer zu meistern und belohnt den Spieler stets im richtigen Augenblick – eine süchtig machende Dopamin-Maschine. “Gamification” ist auch Teil der Vorlesungen, die Valentino besucht. Wie leite ich den Spieler, lasse ihm aber zugleich Freiheiten? Wann belohne ich ihn und womit? Wie lasse ich den Schwierigkeitsgrad so ansteigen, dass er nicht frustriert? Und wie hole ich den Spieler immer wieder zurück ins Game? Die Gratwanderung ist eine Kunst.
Am Ende eines Semesters muss ein Spiel fertig sein
Jedes Semester muss ein Spiel programmiert werden. Diesmal soll es ein 3D-Game in Third-Person-Perspektive werden.
© Henry Lübberstedt
Am Ende eines jeden Semesters müssen die Studenten das in den Vorlesungen erworbene Wissen anwenden und ein Spiel programmieren. Das sei immer eine anstrengende Zeit, da man alle Bereiche beherrschen müsse. Bei seinem Erstlingswerk “Icentio” sei es ihm jedoch leichtgefallen. “Ich liebe diese einfachen Jump-and-Run-Sidescroller. Auch die Dunkelheit der Spielwelt zusammen mit der passenden Musik schafft diese ganz besondere Atmosphäre, die ich schon in anderen Spielen so sehr mochte”, schwärmt Valentino. Die Dozenten waren verblüfft. Sein Spiel erhielt nicht nur die beste Note, sondern auch viele positive Kommentare der User. Die meisten Semesterarbeiten stellen die Studenten auf einer Online-Plattform zum Download zur Verfügung und bitten um Rückmeldungen zu ihren Werken – ein Vorgeschmack auf den späteren Job.
Allerdings könnte die Jobsuche mühsam werden, zumindest in Deutschland. Die Stimmung in der deutschen Gamesbranche habe sich in den vergangenen zwei Jahren “eingetrübt”, sagt das Branchenthermometer des Verbandes GAME. Während 2022 noch gut die Hälfte der Unternehmen von einer positiven Entwicklung ausgingen, seien es heute nur noch zwölf Prozent; die Hälfte sehe sogar negativ in die Zukunft der Branche. Dabei sollen die Voraussetzungen eigentlich gut sein. Deutschland ist weltweit der fünftgrößte Markt für Videospiele.
In-Game-Käufe halten die Gaming-Branche am Leben
Knapp sechs Milliarden Euro gaben die Deutschen 2023 für Games aus. In neue Titel flossen davon jedoch lediglich 1,1 Milliarden Euro. Der Löwenanteil wird über In-Game- und In-App-Käufe generiert – der Candy-Crush-Effekt. Wenige Euro für eine neue Spielfigur in einem kostenlosen Spiel fallen im Haushalt weniger auf als 50 Euro oder mehr für ein neues Spiel. Doch die Minibeträge sind tückisch. Wer nicht aufpasst, gibt schnell mehr aus, als er sollte. Einige Banken, zum Beispiel die Sparkassen, bieten mittlerweile Tools an, um die Ausgaben für In-Game-Käufe im Auge zu behalten.
Wirtschaftlich sehen sich die Gamestudios von der Politik allein gelassen. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Förderung digitaler Spiele nur im Mittelfeld, weit hinter den USA, Großbritannien, Frankreich und Kanada. Das schlägt sich auf die Zahl potenzieller Arbeitgeber für frisch ausgebildete Gamedesigner nieder. In Deutschland gibt es etwa 880 Games-Unternehmen mit zusammen 11.800 Beschäftigten. Frankreich zählt 1.200 Entwicklerstudios mit 32.000 Beschäftigten. Kanada, das weniger als halb so viele Einwohner wie Deutschland hat, kommt auf 932 Firmen aus dem Spielebereich mit 32.000 Beschäftigten. In Großbritannien beschäftigen 220 Studios rund 74.000 Menschen.
Traumjob: Indie-Game-Entwickler
Sonderedition von Konsolen sind in der Gaming-Szene hoch begehrt und bekommen Ehrenplätze in der Wohnung.
© Henry Lübberstedt
Um solche Dinge macht sich Valentino derzeit noch wenig Gedanken. Er ist erst im zweiten von sechs oder sieben Semestern. Ein wenig hofft er auf die Vermittlung durch die Uni. Hamburg zählt neben Berlin und Frankfurt am Main zu den Städten mit den meisten Spielestudios. Und wenn alles nicht klappen sollte, dann vielleicht als Teil einer kleinen Gruppe, die “Indie-Spiele” entwickelt.
Indie steht für “Independent”, womit Einzelpersonen oder kleine Gruppen von Gamedesignern gemeint sind, die unabhängig von einem Publisher arbeiten. Die Indie-Szene hat in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen, weil sie sehr innovative Spiele für kleines Geld hervorbringt. Während große Spieleverlage wie Ubisoft, Electronic Arts oder Activision ihre millionenschweren Investitionen in ein neues Spiel nicht durch zu viel Experimentierfreudigkeit gefährden dürfen, können sich die Kreativen der Indiestudios viel mehr austoben. Die Spieler lieben es. Und so manches erfolgreiche Indie-Spiel wurde später von einem Publisher übernommen. Das wohl weltweit bekannteste Indie-Spiel ist Minecraft.
Insgeheim wäre das ein Traum von Valentino. Doch bis dahin dauert es noch zwei Jahre. Jetzt muss er erstmal sein zweites Spiel fertigstellen – ein 3D-Spiel in Third-Person-Perspektive. Die Story basiert auf einer Gruselkurzgeschichte, die er mal gelesen hat. Darin will ein Mädchen in einem großen Haus Verstecken spielen. Leider sind keine Freunde zum Mitspielen da. Zufällig entdeckt sie einen Zauber der dunklen Magie, der Dämonen in Kuscheltiere zwingt. Eher zwielichtige Spielgefährten. Für sein zweites Spiel erhielt er eine 1-. Das Minus gab es für einen Bug, bei dem der Teddybärdämon in einem Blumentopf stecken blieb.